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Reisen mit soziologischem Einblick

Rainer Dombois' Berichte aus Südamerika
Gert Eisenbürger

Zwischen 2007 und 2011 unternahm der Bremer Soziologieprofessor Rainer Dombois drei längere Reisen durch Südamerika. Unter dem Titel „Lateinamerika – Eine Fiktion?“ veröffentliche er 2013 ein Buch über seine Beobachtungen und Erlebnisse während dieser Lateinamerikaaufenthalte. Die Reisen waren keineswegs Dombois' erster Kontakt mit dem Subkontinent. Zwischen 1987 und 1993 und noch einmal 2004 war er als Gastprofessor an der kolumbianischen Nationaluniversität tätig, im Jahr 2000 arbeitete er in gleicher Funktion an der Universidad Autónoma Metropolitana in Mexiko-Stadt. So waren auch die unmittelbaren Anlässe der beschriebenen Reisen wissenschaftliche Konferenzen bzw. Einladungen zu kürzeren Lehrtätigkeiten an lateinamerikanischen Universitäten. Die Berichte klingen so, als seien sie während der Reise geschrieben und von dort an Freunde gesandt worden, um sie über seine Beobachtungen und Erlebnisse auf dem Laufenden zu halten. Ob das Buch insgesamt so entstand, vermag ich nicht einzuschätzen.

Rainer Dombois' Beobachtungen wiederholen auf alle Fälle nicht das Problem üblicher Rundbriefe, Rundmails oder Facebook-Seiten Reisender, die neben interessanten Einblicken viel an Banalitäten oder persönlichen Befindlichkeiten enthalten, die jenseits der engsten FreundInnen niemanden interessieren. Auch wenn Dombois' Texte natürlich subjektive Wahrnehmungen schildern, steht hier nicht der Reisende selbst, sondern sein Blick auf die bereisten Regionen im Zentrum. Dass dieser Blick offen und zudem soziologisch geschult ist, machen seine Beschreibungen auch für ein breiteres Publikum lesenswert.

Die erste Reise führte Dombois von März bis Juni 2007 nach Chile, Uruguay, Argentinien, Bolivien, Peru, Ecuador und schließlich nach Kolumbien. Anders als bei den beiden späteren Reisen, die ihn in – durch seine Arbeitsaufenthalte – vertraute Länder führten, ist seine Sicht hier über längere Passagen relativ „touristisch“, wobei er etwa bei der Beschreibung von Fahrten im Süden Chiles und in Feuerland anmerkt, dass ihn die Anblicke von Naturschönheiten und Tieren, die andere TouristInnen in Verzückung versetzten, nicht sonderlich berührten. Dagegen interessierten ihn die Mitreisenden und was sie zu erzählen hatten. Dabei stellte er fest, dass diese sich meist auf einem Egotrip befanden, fast nur von sich selbst redeten und reichlich wenig von der sozialen Realität der von ihnen bereisten Regionen mitbekamen. Seine Darstellungen der städtischen Milieus von Santiago de Chile, Montevideo und La Paz sind dagegen sehr stark von Gesprächen mit einheimischen KollegInnen aus den Sozialwissenschaften geprägt. Insbesondere seine Eindrücke aus Bolivien, wo er eine Lehrveranstaltung mit DoktorandInnen durchführte, eröffnen spannende Einblicke in das bolivianische Hochschulwesen und die dort herrschende akademische Inzucht.

Es gehört schon etwas Mut dazu, einen Reisebericht von 2007 in ein 2013 erscheinendes Buch zu nehmen. Wenn der Autor langfristige Entwicklungen und Strukturen beschreibt, mag das angehen.Wenn er über wirtschaftliche und soziale Entwicklungen berichtet, wäre es dagegen angebracht gewesen, seine damaligen Beobachtungen durch neue (z.B. Internet-)Recherchen zu aktualisieren. So schildert Dombois in der Passage über seinen Aufenthalt in Uruguays Hauptstadt Montevideo sehr anschaulich den wirtschaftlichen und sozialen Niedergang der einstigen „Schweiz Südamerikas“, reflektiert aber nicht, dass sich in Uruguay seitdem vieles geändert hat. Durch eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik, kombiniert mit klugen sozialpolitischen Reformen unter der Regierung der linken Frente Amplio und dank hoher Weltmarktpreise für agrarische Exportgüter kam das Land nicht nur gut durch die jüngste Weltwirtschaftskrise, sondern konnte vieles zum Positiven verändern (im November berichteten wir zum Beispiel über die steuerpolitischen Reformen). Im Dezember 2013 kürte das britische Magazin The Economist die kleine Republik am Rio de la Plata sogar zum „Land des Jahres“.

Bei der zweiten Reise besuchte Dombois zwischen März und Juni 2010 Guatemala und Mexiko. Seine Eindrücke von dieser Reise waren äußert vielfältig, er spricht zahlreiche Themen an und reflektiert sie, angefangen von dem Erbe des Bürgerkriegs in Guatemala über die in beiden Ländern tief verankerte Religiosität, die sowohl in der traditionellen katholischen Kirche als auch in den protestantisch-evangelikalen Gemeinden ihren Ausdruck findet, bis hin zu den wachsenden Bildungsmöglichkeiten oder der Drogenökonomie und ihren Folgen. Indessen nehmen seine Beobachtungen über die Folgen der Migration (vornehmlich in die USA) einen besonderen Raum ein. Und die sind selbst in den kleinsten Dörfern und Weilern spürbar. Die Auswanderung zahlreicher BewohnerInnen in die USA und die von dort regelmäßig eintreffenden Geldsendungen verändern die Gemeinden rasant: Vielen Leuten geht es besser, allerorts werden Hütten durch Steinhäuser ersetzt, Kinder können bessere Schulen besuchen, RückkehrerInnen eröffnen Geschäfte, kleine Betriebe und Hotels. Eine Perspektive im eigenen Land zu suchen ist für viele Jugendliche keine Option mehr, sie sehen ihre Zukunft einzig im Norden, auch wenn sich längst herumgesprochen hat, wie schwierig und teuer es ist, dorthin zu kommen, dass sie kaum Aussicht auf einen legalen Aufenthaltsstatus haben und dass in Krisensituationen die MigrantInnen ohne Papiere als erste gefeuert werden und in ihre Dörfer zurückkehren.

Vieles davon ist bekannt, aber die Stärke von Dombois' Buch liegt darin, dass er bekannte Fakten lebendig und konkret werden lässt. Von den Mitreisenden im Bus, von BetreiberInnen kleiner Geschäfte, Pensionen oder Internetcafés, von AutofahrerInnen, die ihn ein Stück mitnehmen, oder von Leuten, mit denen er in der Kneipe ein Bier trinkt, lässt er sich deren eigene Migrationsgeschichten oder die ihrer Verwandten und Bekannten erzählen und gibt sie im Buch wieder.

Die dritte Reise von März bis Mai 2011 ging dann nach Kolumbien, in das Land, mit dem Dombois seit mehr als zwei Jahrzehnten verbunden ist. Hier interessiert ihn besonders, was sich seit seinen früheren Arbeitsaufenthalten verändert hat. Insgesamt sieht er eher positive Entwicklungen. Vor allem habe sich die Sicherheitslage oder vielleicht auch nur das subjektive Sicherheitsgefühl vieler Leute deutlich verbessert, wobei man einschränkend sagen muss, dass diejenigen, die ihm das berichten, überwiegend aus mittelständischen Milieus kommen. Das erlaubt nur bedingt Rückschlüsse darauf, wie es in den ärmeren Vierteln aussieht. Dombois stellt dar, warum der vormalige rechte Präsident Álvaro Uribe so populär war, zeigt aber auch den Preis auf, den die Gesellschaft dafür bis heute zahlen muss, allem voran die Präsenz der mit Uribe verbundenen, ultrarechten paramilitärischen Gruppen in den Stadtvierteln und Dörfern, sowohl auf der Straße als auch in den Verwaltungsstrukturen und der lokalen Ökonomie.

Auch aus Kolumbien berichtet der Autor anhand zahlreicher Beispiele, wie die Migration die sozialen und familiären Strukturen verändert hat. Wegen der größeren Entfernung zu den potenziellen Migrationszielen in Nordamerika und Europa sind es weniger ungelernte ArbeiterInnen, die emigrieren, als gut, oft universitär ausgebildete Fachkräfte. So entstehen vor allem in den Mittelschichten „globalisierte Familien“, deren Mitglieder über die ganze Welt verstreut leben und deren in Kolumbien lebende Teile ebenfalls über Migrationserfahrungen verfügen und entsprechend international vernetzt sind.

Auch wenn ich nicht alle Einschätzungen Dombois' teile, habe ich seine Reisebeschreibungen mit erheblichem Genuss und Erkenntnisgewinn gelesen, vor allem weil sie die politisch-soziologischen Einschätzungen durch zahlreiche Alltagsbeobachtungen „erden“. Es gelingt dem Autor, anschaulich zu machen, wie sich große Themen wie Migration, Gewalt, Geschlechterverhältnisse, Religiosität, soziale Inklusion oder Ausschluss im täglichen Leben der Leute darstellen und gegenseitig bestimmen. Gleichzeitig vermittelt er die faszinierenden Facetten lateinamerikanischer Wirklichkeit, die Herzlichkeit und den Humor vieler Leute, ihre Lebenslust, die vielfältige Küche (leider kann sich unser Autor gutes Essen nur mit opulenten Fleischportionen vorstellen). Aber was heißt Lateinamerika? Schon im Titel des Buches und dann in den einzelnen Berichten macht Dombois immer wieder deutlich, wie verschieden und differenziert das Leben in den einzelnen Ländern, aber auch den sozialen Schichten und Milieus ist. Auch wenn verbindende Elemente wie Sprache oder Musik existieren, gibt es enorme Unterschiede im Hinblick auf die materiellen Lebensbedingungen, die Religiosität (die im laizistischen Uruguay kaum ein Rolle spielt, im formell ebenso laizistischen Mexiko jedoch omnipräsent ist), die Bedeutung der Familie, die Bildungschancen, den Lebensstil. All das lässt den Autor fragen, ob „Lateinamerika“ nicht nur eine Fiktion sei.

Rainer Dombois' Buch ist vor allem jenen zu empfehlen, die vorhaben, nach Guatemala, Mexiko oder Kolumbien zu reisen, sei es als TouristInnen oder für einen Praktikums-, Studien-, Weltwärts- oder Arbeitsaufenthalt. Sie werden Informationen finden, die sie in Reiseführern vergeblich suchen. Aber auch alle, die sich einfach für diese Länder interessieren, werden viel Spannendes entdecken können.