ila

Zwischen No Future und Zero Tolerance

Arbeit mit Jugendlichen aus „Maras“ in El Salvador

Maras, gewalttätige Jugendbanden, gelten heute in El Salvador, Guatemala oder Honduras als Staatsfeinde Nr. 1. Weil es in einer von sozialer Unsicherheit und Kriminalität verängstigten Bevölkerung populär ist, überbieten sich die regierenden Politiker mit populistischen Parolen, die allesamt auf mehr Repression hinauslaufen. Dazu gehören auch Forderungen nach der offiziellen Wiedereinführung der Todesstrafe – außergerichtliche Hinrichtungen durch Sicherheitskräfte sind ohnehin an der Tagesordnung. Wie in Europa oder in den USA reagiert die Linke eher hilflos auf die Jugendgewalt und populistischen Kampagnen der Rechten. Die „Kopf-ab“-Mentalität ist auch unter linken WählerInnen durchaus populär. Nur wenige Projekte suchen den Kontakt mit den Maras. Eines davon wird von terre des hommes der deutschsprachigen Schweiz unterstützt. Beat Schmidt hat drei Jahre in diesem Projekt gearbeitet.

Beat Schmidt

Zwanzig Jungs zwischen 14 und 22 Jahren mit losen Kleidern, Tätowierungen am ganzen Körper, die Hände zu Ausdrücken in der eigenen Zeichensprache geformt. Das Foto ist fünf Jahre alt und zeigt eine Gruppe der Mara Salvatrucha im Armenviertel Villa Mariona. „Was ist aus ihnen geworden”, frage ich Roco, den Streetworker und ehemaligen Anführer einer Mara. Die Bilanz ist düster; sieben sind tot, zehn im Knast und zwei weiterhin in der Mara. Einer hat den Absprung geschafft; mit einem Arm weniger, den er in einem Gefecht mit einer feindlichen Mara verloren hat, aber immerhin. Nun ist er Mitglied in einer Sekte und Angestellter der lokalen Gemeindeverwaltung. Es ist wohl mehr als nur ein Zufall, dass einzig der damalige Anführer die Kurve gekriegt hat und nicht im Strudel von Gewalt und Perspektivlosigkeit der Jugend von Villa Mariona unterging.

Anfänglich waren die Maras mehr locker organisierte Stadtteiljugend in den ärmeren Vierteln und existierten in schillernder Vielfalt. Man traf sich, um sich auszutauschen, zu reden, zu trinken, zu rauchen, zu tanzen, die eigene Identität zu finden und die Frustrationen mitzuteilen und abzureagieren. Der herrschende Krieg mit der engen sozialen Kontrolle durch Regierung und Guerilla setzte ihren Tätigkeiten einerseits Grenzen, andererseits stand die Eingliederung in die Guerilla als soziales und politisches Ventil für diese rebellische Haltung offen. Während der Großoffensive der FMLN 1989 nahmen die Jugendlichen offen Partei und halfen beim Barrikadenbau. Einige starben und andere, wie zum Beispiel die Mara Gallo in Mejicanos, beschlossen sich als Kollektiv einzugliedern und den Weg in die Berge anzutreten. Auch wenn der Großteil kurz danach in die Stadt zurückkehrte, weil sie das Guerillaleben nicht aushielten – die Jugendlichen respektierten die Guerilla mit ihrer Mischung aus Rebellion und Bereitschaft, für ein Ideal auch zu sterben.

Nach dem Krieg explodiert die Situation aus verschiedenen Gründen. Das Ventil Guerilla ist zu einer politischen Partei mutiert und ein Nachlassen der staatlichen Repressionsinstrumente schafft neue Freiräume in einem von Gewalt und einem Überfluss an Waffen geprägten sozialen Umfeld. Die ökonomische Situation verschlechtert sich für die Unterklassen. Drogengeld überzieht das Land mit sichtbarem Luxus und Einkaufszentren, während die Elendsviertel mit Abfalldrogen wie Crack voll gestopft werden. Aus den USA setzen massive Deportationen von kriminellen bzw. kriminalisierten Jugendlichen ein, die ihre Sporen in den Jugendbanden von Los Angeles etc. verdient haben. Sie werden in El Salvador zu neuen Ikonen und verschärfen die Auseinandersetzung um ein paar Zacken. Innerhalb weniger Jahre reduziert sich die Vielfalt der Banden im Wesentlichen auf die aus den USA bekannten Salvatrucha (MS 13) und Mara 18, deren blutige Rivalität auch auf salvadorianischem Boden ausgetragen wird (und ihren Niederschlag zunehmend in Honduras und Guatemala findet). Gleichzeitig explodiert ihre Mitgliederzahl auf mehrere zehntausend allein in El Salvador, mit Ablegern bis hin in Kleinstädte und Dörfer. Teilweise erledigen die Maras seit den neunziger Jahren auch schmutzige Aufträge für die mittleren und großen Drogenhändler. Dass dabei für sie nicht mehr als Brosamen abfallen, versteht sich von selbst. Mittlerweile sind die Maras zum Staatsfeind Nummer 1 avanciert, da sonstige Subversion dünn gesät ist und ein Sündenbock für die desaströse Situation notfalls auch an den Haaren herbeigezogen wird. Eine Tätowierung reicht mitunter aus, um ein paar Jahre hinter Gitter zu wandern, und die soziale Hetze ist derart gereift, dass Todesschüsse und die Provokation von Gefängnisrevolten, in denen sich die Mitglieder der verfeindeten Banden gegenseitig abschlachten, gesellschaftlich salonfähig sind.

Viele SozialarbeiterInnen und SoziologInnen haben die Maras unter die Lupe genommen, aber das gesunde Misstrauen der Jugendlichen hat sie mit wenigen Ausnahmen davon abgehalten, sich zu öffnen und zu Studienobjekten zu werden. Verschiedene Gemeindeverwaltungen und religiöse Instanzen versuchen mit ihnen zu arbeiten, die Brücken zur Gesellschaft, die sie ausgestoßen hat und die sie ablehnen, nicht ganz abbrechen zu lassen. Mit der Unterstützung von Terre des Hommes der deutschsprachigen Schweiz und großem persönlichen Engagement von dessen Programmverantwortlichen, Michael Schwahn, wurde ab 1997 eine andere Vorgehensweise versucht, welche die Gruppen selbst zu Protagonisten des Projektes macht, Freiräume und Autonomie gewährt. Meine Funktion war die eines punktuellen Begleiters. Dreh- und Angelpunkt des Projektes war Roco, Chef der ehemaligen Bande “Niño“ im Norden der armen Gemeinde Mejicanos am Rand der Hauptstadtregion. 

Das gegenseitige Vertrauen wurde immer mal wieder auf die Probe gestellt. Oftmals machte es uns den Anschein, als loteten die Jugendlichen aus, wie weit wir tatsächlich mit ihnen gehen würden und ob wir nicht auch von der Sorte seien, die sie lediglich als schillernde Subjekte für gut bezahlte Studien oder mediale Verwertung missbrauchen. Dass die Jugendlichen das Programm durchaus zu schätzen wussten, sich der Grenzen bewusst waren und Vereinbarungen einhielten, zeigt die Tatsache, dass es in den ganzen Jahren nie zu einem ernsthaften Sicherheitsproblem in einer Aktivität gekommen ist. Eher anekdotisch die zwei Jugendlichen der Clique des Viertels von San Luis, die in ziemlich offensichtlicher Haltung einen Bus enterten, von dem Vorhaben, die Passagiere zu erleichtern, aber sehr schnell wieder Abstand nahmen, als sie meiner für sie bekannten Person gewahr wurden. Oder die Jugendlichen, die bei meiner Rückkehr an meinem Auto lehnen und grinsend eingestehen, dass sie eigentlich an den Felgen interessiert waren, bis sie informiert worden seien, dass diese dem “Chele” (Weißen) des Programms gehören.

Die permanente Notlage und Anspannung der Jugendlichen macht jegliches Planen und Vorhersehen zu einem Ratespiel. Findet die Versammlung am Samstag statt oder kommt es vorher zu einem Gefecht oder einer Polizeirazzia oder müssen die Jungs einer bedrängten Gang in einem anderen Stadtteil zu Hilfe eilen oder oder oder. Der ständige Stress des/r Einzelnen, in der Beziehung, in der Familie, mit sich selbst und anderen schlägt auf die Gruppe nieder und deren Konflikte mit der gegnerischen Mara auf die Einzelpersonen. Somit schwankt das Programm zwischen einer ständigen Feuerwehrfunktion und dem Versuch, etwas Struktur und gewisse Inseln der Ruhe zu vermitteln.

Roco war also der Schlüssel zu den Maras, denen er sich nach wie vor verbunden fühlte. Er wollte etwas tun gegen das sinnlose Massaker der Jugendlichen untereinander mit Drogen und gegenseitigem Abmetzeln. Er war einer der wenigen Personen mit Zugang und Vertrauen von hohen Tieren in beiden Banden. Allerdings gaben wir die idealistische Idee von gemeinsamen sozialen Räumen für beide Banden – um zu erkennen, dass der Hauptfeind ja nicht die anderen Jugendlichen sind – schon bald wieder auf, da dies ganz einfach zu (lebens)gefährlich war.

Das Programm bestand eher in einer Art Ameisenarbeit, einer Politik der kleinen Schritte in einem von Ausschluss und Gewalt geprägten Klima. Gespräche mit den Gruppen in verschiedenen Schulen und eine Art Forum leisteten einen Beitrag, die Straßenschlachten zwischen SchülerInnen verschiedener Erziehungsinstitute in der Stadt, die teilweise mit Toten endeten, für mehrere Jahre auf Eis zu legen. In der besagten Gemeinde Mejicanos mit rund 200 000 EinwohnerInnen hat seit Beginn des Programms die Jugendgewalt um mehr als die Hälfte abgenommen.

Aber was hat das Programm für die Jugendlichen gebracht? Es konnte sich ja nicht nur um soziale Befriedung handeln, sondern es ging in erster Linie um diese Jugendlichen. In einem ersten Moment priorisierten wir die soziale Brü-ckenbildung. Die Jugendlichen waren – trotz der von ihnen reklamierten Schutzfunktion - auch in ihren Vierteln marginalisiert und gefielen sich teilweise auch in dieser Rolle. Wir wollten die Jugendrevolte nicht verurteilen, sondern zum Dialog, zur sozialen Anerkennung beitragen. So stifteten wir die Jugendlichen dazu an, den verwaisten und halbzerstörten Platz einer Siedlung von Abfall und Unkraut zu befreien und unterstützen die Reparatur von Spielplatz und Basketballfeld. Einen Monat danach spazierten die sozialen Parias zufrieden über diesen einzigen gemeinschaftlichen Raum der Armensiedlung, wo sechsköpfige Familien sich mit zwei kleinen Zimmern begnügen müssen. Sie waren nicht mehr alleine: Dutzende von Kindern jeglichen Alters hatten rennend und lachend von der neuen Spielfläche Besitz ergriffen. Die Mitglieder der Maras waren mit ihrer neuen Rolle nicht unglücklich, lachten auch mal wieder, halfen Kleinen auf, die auf die Nase gefallen waren und wussten die soziale Anerkennung zu schätzen, die sie ernteten. Aber der dafür notwendige Waffenstillstand mit der Nachbarbande dauerte ganze zwei Monate und diese Jugendlichen wurden zwischen Bandenkrieg und Polizeigewalt aufgerieben. Auch das schöne Wandbild, das sie in stundenlanger Kleinstarbeit über eigene Wandschriften gemalt hatten, wurde eines Nachts durch einen feindlichen Angriff mit Altöl verunstaltet.

In einer nahegelegenen Hüttensiedlung versammelten sich die Jugendlichen jeweils an der Eingangsecke und ließen ihrer Frustration mit Provokationen und Pöbeleien freien Lauf. Sie ließen sich dazu motivieren, ein gemauertes Bad/WC für die Siedlung zu erstellen; das erste überhaupt für die über 30 Familien. Die Gemeinde lieferte die Materialien und die Nachbarn rieben sich die Augen. Während Leo wenig später erneut in die Drogen abstürzte, machte Buddy im Programm weiter, gliederte sich danach in die Frentejugend ein und wurde sogar Gemeinderat. Er versuchte so, einiges für die Jugendlichen zu bewegen und meinte mehrere Jahre danach eines Abends mit gelockerter Zunge: “Ohne das Programm wäre ich schon lange unter der Erde”. Wieviel ist ein Menschenleben, wieviel ein verhinderter Mord wert – wie den Wert und die Effizienz eines derartigen Programms messen?

An anderen Orten begannen wir mit Säuberungskampagnen, unterstützten die Jugendlichen damit, die im Stress hingeworfenen Wandschriften zu übertünchen und mit Wandbildern zu ersetzen, die aus einer kollektiven Diskussion entstanden. Hunderte von Bäumchen wurden gepflanzt und dafür Aufmerksamkeit in der lokalen Presse und TV geerntet. Dies war ein wichtiger Punkt für die Jugendlichen, ihre Arbeit wurde anerkannt, sie waren wer und konnten stolz sein auf das, was sie taten. Stolz auch vor allem vor der einzigen Person, die sie auf Wänden und Körper um Verzeihung für ihr Tun bitten, ihrer Mutter. Die konkrete Mutter und ein ziemlich verschwommenes Gottesbild sind die einzigen, denen die Fähigkeit zugestanden wird, ihnen zu verzeihen, und denen sie aus ihrer Sicht eine Erklärung schulden, oft die einzigen neben der Mara, die ihnen je Liebe und Trost vermittelt haben.

Das Programm versuchte den Jugendlichen stressfreie Räume zu vermitteln, um nachzudenken, sich auszutauschen, sich zu pflegen. Nonnen akzeptierten die Jugendlichen in ihrer Klinik mit einer Bestätigung des Programms, behandelten Pilze, Hautausschläge und Geschlechtskrankheiten und berieten sie in Familienplanung. Tausende von Präservativen fanden reißenden Absatz. In Diskussionen analysierten die Jugendlichen unter sich ihre Hoffnungen und Träume, Konflikte und Probleme. Wie gesagt war es nicht möglich, beide Gruppen an einen Tisch zu bringen, aber die Diskussionen erlaubten es nicht wenigen, zu einem Schluss zu kommen: Eigentlich will ich hier raus und ich bin damit nicht alleine, bin keinE VerräterIn.
Denn reinkommen ist zwar auch nicht einfach, hat aber immerhin den Reiz von Neuem und von Rebellion. 13 bzw. 18 Sekunden lang müssen sich die Aspiranten verprügeln lassen oder einen Gegner in die ewigen Jagdgründe befördern, also potentiell 20 Jahre Knast in Kauf nehmen, um als Homeboy anerkannt zu werden. Die Mädchen können ebenfalls morden, aber häufiger ist der sogenannte „Zärtlichkeitsbeweis“ gegenüber der gesamten Clique, die mitunter mehr als 15 männliche Mitglieder aufweist, also die Massenvergewaltigung. 

Aus der Mara wieder herauszukommen, ist schwierig. Zwar gibt es Gründe, die akzeptiert werden. Wie könnte es in der tiefreligiösen und konservativen Gesellschaft anders sein, als dass dies die aktive Zugehörigkeit zu einer Religion, in der Regel einer Sekte, oder die Familiengründung ist. Aber die gesellschaftlichen Hürden sind sehr hoch. Mit den tätowierten Körpern, dem sozialen Ansehen am Boden und in den meisten Fällen Gefängnisaufenthalt sind die Chancen, bei 70% Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung eine Stelle zu kriegen, nahe dem Gefrierpunkt. Kommt dazu, dass die Vergangenheit ja nicht einfach abgewaschen wurde. Rigo, ein ehemaliger Aktivist des Programmes, der den Ausstieg geschafft hatte, wollte im Eckladen was einkaufen. Sie gaben ihm die Chance, sein Baby aus dem Arm zu geben, bevor er wegen einer alten Geschichte regelrecht hingerichtet wurde. Wer ohne Erlaubnis aussteigt, beginnt die Flucht vor den eigenen Leuten, da er sich seines Todesurteils sicher sein kann.

Das Programm hat zum Einstand die Wertetabelle und Kodizes der Maras respektiert und erklärt, es ginge nicht um eine Demobilisierung, sondern eher darum, konstruktive Möglichkeiten aufzuzeigen. An sich ein Drahtseilakt, der immer wieder durch die widrigen äußeren Umstände und die Spannungen in und mit der Gruppe aus dem Gleichgewicht gebracht wurde. War es für die Jugendlichen prioritär, beispielsweise einen Bruder aus dem Gefängnis freizukaufen, der die Passagiere eines Autobuses ausgeraubt und zwei Passagieren Schussverletzungen zugefügt hatte, so kam dies für das Programm nicht in Frage und wurde gar zu einem ethischen Dilemma. Oder die Verpflichtung der Frauen in den Gruppen ohne festen Freund, allen Männern “Zärtlichkeit” – ihren Körper – zu schenken, der wir ziemlich fruchtlos mit Diskussionen und Seminaren zu Geschlechterbeziehungen und Gleichberechtigung zu entgegnen versuchten. Fruchtlos auch deshalb, weil unser Streetworker (mit Ehefrau und Kind) auch mit einer Projektaktivistin ein Kind zeugte und somit diesbezüglich nicht gerade Vorbildfunktionen erfüllte. Schließlich ist der abgrundtiefe Hass auf andere Jugendliche, nur weil sich diese statt einer 13 eine 18 auf die Brust gemalt haben, rational nicht nachvollziehbar und erscheint nach einer gewissen Zeit eher tragisch-komisch und führt zur Frage, was die Arbeit mit diesen “Verrückten” eigentlich soll.

Andrerseits setzen die äußeren Umstände dem Programm und vor allem den Jugendlichen selber enge Grenzen. Welche Alternative konnten wir – bzw. die Gesellschaft – anbieten? Mit Glück eine prekäre Arbeitsstelle mit einem Minimallohn, der nicht zum Leben reicht? 40 Quadratmeter Wohnfläche für eine Familie in einer Elendssiedlung? Ist da der Versuch einer Imitation der Drogenhändler mit schönen Uhren, Autos, Handys und Frauen nicht eher verständlich, auch wenn die Lebenserwartung auf wenige Jahre absinkt – eine Art postmoderne Version von „Revolution oder Tod“ der vorherigen Generation? 

Auf der anderen Seite wollten sie gar nicht allzu viel vom Leben, schwelgten in einer kleinbürgerlichen Vorstellung eines geruhsamen Lebens mit Familie und geregeltem Alltag ohne große Nöte, aber auch ohne extravagante Wünsche. Das Leuchten in den Augen, als bei einer zweitägigen Auswertung die Speisekarte im bescheidenen Restaurant auf den Tisch kam und die Aufforderung ausgesprochen wurde, nach Gutdünken zu bestellen, spricht dafür Bände. So etwas war ihnen in ihren um die 20 Lebensjahren ganz einfach noch nie passiert. Diverse Exkursionen mit Wanderungen und Campen fanden regen Zuspruch und hatten nie nennenswerte Probleme zur Folge. Möglicherweise sind diese Träume ja auch ein Reflex dessen, was sie im Elternhaus vermisst haben. Die gültige Regel ist, dass die Familien von Marakindern zerrissen und arm sind, Drogen und Gewalt Teil des Alltags waren. Glücklicherweise landen nicht alle Kids aus diesen familiären Umständen in den Maras.

Mehrere Jungs ließen sich als Müllmänner in Mejicanos anwerben und waren teilweise stolz darauf eine Arbeit zu haben. Einige sahen sich allerdings gezwungen, den Job wieder aufzugeben, weil es für sie lebensgefährlich war, den Abfall in Vierteln, die von anderen Banden kontrolliert wurden, einzusammeln. Andere schmissen die Arbeit nach wenigen Tagen, weil früh aufstehen und den ganzen Tag hinter dem Lastwagen herrennen sehr ermüdend ist und dabei nicht mehr herausspringt als bei ein paar kleineren Überfällen oder Einbrüchen, aber einige blieben. Dieser Lebenslauf führt unweigerlich zu unerfreulichem Kontakt mit der Polizei, dem zweiten Gegner neben der feindlichen Bande. Gelegentlich waren Absprachen mit der Polizei möglich, konnte das Programm intervenieren, um gewisse Aktivitäten durchzuführen oder den harten Druck gegen eine Gruppe etwas zu lindern, der nicht selten auf die polizeiliche Rambomentalität zurückzuführen war. „Uns schnappt und misshandelt ihr und die dicken Fische lasst ihr laufen”, war ein genauso häufiger wie gerechtfertigter Kommentar, obwohl viele beileibe keine Unschuldslämmer waren. Im Gefängnis wird die Mara zu einer Lebensversicherung. Oft sind Mitglieder beider Banden im gleichen Gefängnis und ohne deine Gruppe bist du so gut wie tot. Gelang es dem/der Betreffenden, die Gefängnisjahre zu überleben, so kam er/sie entweder noch verhärteter daher oder aber mit dem Wunsch, ein neues Leben zu versuchen – der angesichts der wenigen sozialen Netze und Unterstützungsprogramme nur allzu oft ein frommer blieb, so dass die atheistische Überzeugung des Schreibenden ihn keineswegs von einem Seufzer der Erleichterung abhielt, wenn es hieß, dieser oder jener sei in eine Sekte eingetreten.

Das Programm wurde teilweise belächelt und erhielt auch wieder Unterstützung und Zuspruch von unerwarteter Seite. Tatsache ist, dass es als eines der wenigen den direkten Draht zu den Maras hatte. Mittlerweile suchen sogar Regierungsstellen den Kontakt und erhoffen sich von Knastarbeit einen Abbau des Konfliktpotentials in den Gefängnissen. Die AktivistInnen des Programmes haben autonom entschieden, dass sie dies versuchen wollen und führen nun auch Diskussionen in verschiedenen Gefängnissen durch. Sozialpflästerli und nicht mehr, sicher. Aber einfach zuschauen, wie sich die Kids abschlachten und die Schuld daran gerechtfertigterweise den gesellschaftlichen Verhältnissen geben, bringt Roco und seine Truppe auch nicht weiter. Er macht auch nach sechs Jahren noch weiter, versucht Neues, irrt sich und verbucht Treffer, während ich in meiner Begleitfunktion nach drei Jahren ausgelaugt war und es für unbedingt notwendig hielt, dass neue Energien in Form einer außenstehenden Person das Programm beleben sollten. 

Für mich persönlich war es eine interessante, intensive und auch oft frustrierende Zeit. Eine Konfrontation der Theorie mit einer Praxis, die sich an der Realität zu orientieren hatte, eine Auseinandersetzung mit einer Welt und Sichtweise, die ich in vielen Teilen nicht nachvollziehen konnte. Wie die Rolle des solidarischen Begleiters mit derjenigen des Vertreters einer Organisation, für die gewisse Kriterien z.B. bezüglich der Geldverwendung bestehen, unter einen Hut bringen? Wie damit umgehen, dass die zierliche Patricia drei Perlen auf ihre Hand tätowiert hat, für die Anzahl Tote, die sie auf dem Gewissen hat. Oder wenn Daniel nicht ganz ohne Gewissensbisse berichtet, wie er den Polizisten damals umgebracht hat. 

Zentralamerika lebt einen Generationen- und Klassenkrieg und die Maras sind der eindeutige Sündenbock. Aber ein Gegendiskurs muss weiter gehen als mehr Prävention zu verlangen und die Ursachen anzuklagen. Dies ist zwar sicher richtig, geht aber an der Realität der BewohnerInnen der ärmeren Viertel vorbei, die vom sozialen Phänomen Maras betroffen sind, sei es als PassantInnen, denen die magere Lohntüte oder die Einkaufstasche geklaut wird, oder als AnwohnerInnen, deren Haus ausgeräumt wird. Auch die Angst der Mütter und Väter, ihre Kinder würden diesen Weg gehen, der fast immer mit Tod oder Gefängnis endet, ist damit nicht beantwortet. Ebensowenig wie die Furcht der BusbenutzerInnen, die sich nicht ans Fenster (sondern auf den Gangplatz) und nicht in die Nähe der Hintertür setzen, aus Angst davor, mit einem notdürftig verdeckten Messer zur Herausgabe von Uhr, Schmuck und Geldbeutel gezwungen zu werden – wobei längst nicht alle Überfälle von Maramitgliedern begangen werden. Oder diejenige des/der KleinhändlerIn, der/die ständig damit rechnen muss, erneut überfallen und beraubt zu werden. Auch das muss ein linker Politikansatz einbeziehen und einen Weg finden, die rechtspopulistische Sündenbockhetze zu demaskieren – dies ist bislang nur unzureichend gelungen.

Vielleicht liegt die Antwort in Erfahrungen, wie sie in den Gemeinden Nejapa und San José las Flores gemacht wurden, die erste an der Peripherie der Hauptstadt und umgeben von “maraverseuchten” Gemeinden, die andere eine historische und sozial wohlorganisierte Guerrillabastion. An beiden Orten gibt es keine Maras, dafür aber eine aktive Jugendarbeit und eine Gemeindeverwaltung, welche die Jugendlichen unterstützt und ihnen Alternativen zu bieten versucht. Der schönste gemeindeeigene Sportkomplex des Landes mit Schwimmbad und vielen Fußballplätzen befindet sich in Nejapa und wird von Tausenden besucht. Die Ökogruppe von San José las Flores ist nicht nur groß, sondern auch sehr aktiv und hat sich neben der Bekämpfung der Buschfeuer und Waldbrände auch ein intensives Gruppenleben auf die Fahnen geschrieben und auch hier gibt es einen viel benutzten gemeindeeigenen Fußballplatz.

Beat Schmidt kommt aus der Schweizer Mittelamerika-Solidaritätsarbeit. Er hat über zehn Jahre in Nicaragua und El Salvador gelebt und in verschiedenen Zusammenhängen und Projekten gearbeitet. Seit 2004 ist er mit Unterstützung der Schweizer Freiwilligenorganisation GVOM in der linken Stadtverwaltung von Montevideo/Uruguay tätig.