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Gefahr für Chile

Wie die chilenische Rechte 1939/40 eine Visa-Affäre inszenierte

Auch falsche Anschuldigungen wie die von Victor Farías über den angeblichen Antisemitismus von Salvador Allende (vgl. S. 34/35) haben ihre Vorteile. Sie bringen einen dazu, Dinge nachzulesen. Dabei stößt man gelegentlich auf die wirklich interessanten Bücher. In diesem Fall hatte mich unser Freund Pedro Holz aus Santiago auf das von Salvador Allende unterzeichnete Protesttelegramm chilenischer ParlamentarierInnen an Hitler vom November 1938 aufmerksam gemacht (siehe Beitrag). Abgedruckt ist dieses Telegramm in dem Buch „Exil in Chile – Die deutsch-jüdische Emigration während des Nationalsozialismus 1933 – 1945“ von Irmtrud Wojak. Wie es dann so ist, habe ich nicht nur das Telegramm rausgesucht, sondern auch begonnen, in dem Buch zu lesen. Und dabei bin ich auf die „Jüdische Immigrationsaffaire“ von 1939/40 gestoßen.

Gert Eisenbürger

Wie die meisten Länder Lateinamerikas stand Chile MigrantInnen aus Europa lange Zeit sehr positiv gegenüber. Man strebte an, das Land zu kolonisieren, das heißt für eine marktorientierte Landwirtschaft zu erschließen und wirtschaftlich voranzubringen. Aus Europa erhoffte man sich gut ausgebildete Facharbeiter, Handwerker und Landwirte. Mit der Weltwirtschaftskrise begannen aber auch in Lateinamerika Bestrebungen, die Einwanderung zu begrenzen. So erließ die chilenische Regierung am 11. Oktober 1933 das Dekret No. 4072, wonach jeder Einwanderer nachweisen musste, dass er keine „soziale Last“ für den Staat darstellen werde. Dies bot den chilenischen Auslandsvertretungen die Möglichkeit bei der Visavergabe eine Auswahl zu treffen. 1934 wurde zudem die Verordnung erlassen, dass Firmen nur dann AusländerInnen einstellen durften, wenn es keine ChilenInnen mit entsprechender Qualifikation gab. 

Diese Restriktionen richteten sich zunächst gegen jede Form der Einwanderung, jedoch berichtet Wojak, dass es eine Reihe von chilenischen Diplomaten in Europa gab, die vor allem jüdische Antragsteller auf dieser Basis ablehnten. Die Regierung des liberalen Präsidenten Alessandri (1932-38) verweigerte sich auch den Appellen des Völkerbundes, der aufgrund der antijüdischen Politik der Nazis die lateinamerikanischen Länder zu Einreiseerleichterungen für deutsche Juden aufrief. 1937 legte die chilenische Regierung fest, dass außer Verwandten von in Chile bereits ansässigen Juden jährlich lediglich fünfzig jüdische Familien einreisen sollten.

In der Linken traf die restriktive Einwanderungspolitik auf Kritik. Am 20. November 1938 riefen verschiedene linke Organisationen auf Initiative des Schriftstellers Pablo Neruda zu einer Kundgebung gegen die Judenverfolgung in Deutschland auf, an der 10 000 Leute in Santiago teilnahmen. In einer Erklärung forderten Intellektuelle, Frauenorganisationen, christliche Gruppen und Gewerkschaften die Regierung auf, die „Türen Chiles für jüdische Emigranten zu öffnen“. Auch sozialistische Abgeordnete wie Marmaduke Grove und Salvador Allende setzten sich für eine liberalere Einwanderungspolitik gegenüber Flüchtlingen vor dem Nationalsozialismus ein. Die Rahmenbedingungen dafür waren günstig, denn inzwischen hatte die Regierung gewechselt: 1938 hatte die Volksfront aus Radikaler, Sozialistischer und Kommunistischer Partei mit ihrem Kandidaten Pedro Aguirre Cerda die Wahlen gewonnen. Im Parlament behielt allerdings die Rechte die Mehrheit. Im ersten Regierungsjahr der Volksfrontregierung stieg die Zahl der jüdischen ImmigrantInnen in Chile sprunghaft an. Hatten die chilenischen Konsulate in Hamburg, Berlin und Bremen 1938 gerade mal 145 Visa an jüdische Antragsteller erteilt, waren es 1939 mehr als 3700. Nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938 entschieden sich tausende jüdischer Familien, die bislang noch gezögert hatten, Deutschland zu verlassen, und bestürmten die diplomatischen Vertretungen jener Länder, die Einreisevisa vergaben. 

In Chile organisierte die faschistische Partei Movimiento Nacional Socialista (M.N.S.) unterstützt von zahlreichen großen Zeitungen, daraufhin eine Kampagne gegen die jüdische Einwanderung. Die Zeitungen brachten täglich sensationalistische Berichte über ankommende Flüchtlingsschiffe und sprachen bald von der Affaire de los Judíos. Die Rechte bezeichnete die jüdischen ImmigrantInnen als Gefahr für Chile und setzte die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses durch. Im Mittelpunkt der Kritik stand Außenminister Abraham Ortega. Hauptbelastungszeuge vor dem Ausschuss war der chilenische Konsul in Bremen, Elezar Vergara, ein Anhänger der Opposition. Er machte den Außenminister dafür verantwortlich, dass das Konsulat so viele Visa ausstellen musste. In einem Zirkular habe Ortega im April 1939 die Verkürzung des bürokratischen Verfahrens verlangt. Von den Antragstellern sollte nur noch ein Gesundheits- und ein polizeiliches Führungszeugnis verlangt werden. In einem weiteren Zirkular habe Ortega verfügt, genehmigte Visa zu erteilen, auch wenn der Antragsteller nicht vorher das notwendige Kapital auf dem Konsulat deponiert habe. Der Untersuchungssausschuss des Parlaments, in dem die rechte Opposition die Mehrheit hatte, verurteilt Ortega daraufhin in den Punkten „Missachtung der Gesetze des Staates“, weil seine Anweisung, die Visaerteilung zu vereinfachen, dem chilenischen Recht widersprochen hätte, sowie wegen Verletzung der Ehre der Nation, was auch immer das sein mag. Nach der Verurteilung durch das Parlament trat Ortega am 13. Februar 1940 zurück – weil er einige Tausend deutschen Juden und Jüdinnen vor der Deportation und der Ermordung gerettet hatte.

Rekapitulieren wir, zur Inszenierung einer Visa-Affäre braucht man: 1. Eine Presse, die tagtäglich Schlagzeilen über explodierende Einwanderungszahlen produziert und „enthüllt“, diese Einwanderer seien eine enorme Bedrohung; 2. Eine rechte Opposition, die sich über diese unhaltbaren Zustände empört und dafür die von ideologischen Interessen geleitete Einwanderungspolitik der Regierung verantwortlich macht. 3. Rechte Diplomaten, die vor parlamentarischen Ausschüssen erklären, Erlasse aus dem Außenministerium hätten sie gezwungen, massenhaft Visa zu erteilen, obwohl sie selbst das hochproblematisch fanden. Irgendwie kommt mir das alles bekannt vor...

Irmtrud Wojak: Exil in Chile – Die deutsch-jüdische Emigration während des Nationalsozialismus 1933-1945, Metropol Verlag, Berlin 1994