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Gott hat auch die Blumen unterschiedlich gemacht

Die Schwulen- und Lesbenszene in Guatemala

Am 27. Juni 1969 führten Polizisten in dem New Yorker Stadtteil Greenwich Village eine ihrer damals üblichen Razzien durch. Diesmal aber fügten sich die homosexuellen Gäste der Stonewall Inn Bar in der Christopher Street nicht den Schikanen der Polizei. Sie wehrten sich und Hunderte SympathisantInnen schlossen sich an. Die Krawalle dauerten zwei Tage lang und gelten heute weltweit als Beginn der Bewegung der Lesben, Schwulen und Transsexuellen. Anlässlich des Christopher Street Day werden auch in Deutschland dieses Jahr wieder Millionen Menschen auf die Straße gehen, um die Selbstverständlichkeit und Vielfalt homosexueller Lebensweisen zu präsentieren. In Mittelamerika kann man bisher erst von dem Beginn einer homosexuellen Bewegung sprechen. Dabei kommt Guatemala eine Vorreiterrolle zu, obwohl dessen Gesellschaft eigentlich besonders geprägt ist vom Machismo und von der Gewalt gegenüber Minderheiten.

Andreas Boueke

Es ist dunkel geworden im alten Zentrum von Guatemala-Stadt. Alle fünfzig Meter fällt der fade Schein rostiger Laternen auf den verstaubten Asphalt der Straßen. Umso auffälliger sind die leuchtenden Fackeln und Kerzen einer Gruppe junger Leute, die an diesem Abend fröhlich singend durch die Altstadt zieht. An jeder zweiten Kreuzung machen die rund dreißig Frauen und Männer mit einer Ladung Knallfrösche auf sich aufmerksam. Das ist so üblich bei Straßenumzügen in Guatemala. Viele Passanten schauen sich das bunte Treiben mit freundlicher Miene an. Doch sobald sie erkennen, dass in der Gruppe Männer mit langen Ohrringen Hand in Hand gehen und sich Frauen eng umschlungen küssen, wenden sich einige Zuschauer irritiert ab oder schimpfen über den angeblichen Verfall der Moral im Land.

Noch vor wenigen Jahren wäre solch ein abendlicher Umzug von Schwulen, Lesben und Transvestiten in dem mittelamerikanischen Land Guatemala kaum denkbar gewesen. Keiner von ihnen hätte es gewagt, auf diese Weise öffentlich aufzutreten. Doch an diesem Abend gehen sie unbekümmert über den zentralen Platz der Hauptstadt, vorbei an schwer bewaffneten Soldaten, die vor dem Nationalpalast missmutig Wache schieben. Das Klima für Homosexuelle in Guatemala hat sich deutlich verändert. Ein Wendepunkt war die Unterzeichnung der Friedensverträge im Dezember 1996, mit der ein lang andauernder Bürgerkrieg zwischen linken Guerillaverbänden und der Armee zu Ende gegangen ist. Seither ist die Gesellschaft offener und toleranter geworden, auch gegenüber Homosexuellen. Zwar ist das Thema für die meisten GuatemaltekInnen noch längst keine Selbstverständlichkeit, doch zumindest brauchen Homosexuelle heute nicht mehr so sehr um ihr Leben zu fürchten wie noch vor wenigen Jahren. 

Besonders gefährdet waren jahrzehntelang vor allem Transvestiten und Transsexuelle. Einer von ihnen, der 33jährige Juan, trägt seit seinem zehnten Lebensjahr Frauenkleider. Sein Outfit ist dezent, eher unauffällig, keine kurzen Röcke und keine übermäßige Schminke. Diese Zurückhaltung hat ihm womöglich das Leben gerettet: „Früher sind Soldaten auf Razzien durch die Stadt gefahren, um Transvestiten festzunehmen. Wenn sie eine von uns geschnappt haben, wurde sie an ein Auto gehängt und bis zu Brücke El Incensio geschleift. Dort sind Dutzende Kameradinnen in die Tiefe geworfen worden. Das war ein Hundetod. Aber wir sind auch Menschen mit Gefühlen. Wir haben ein Recht zu leben. “Der schwule Aktivist Vinicio Alvarado bemüht sich um die Aufklärung von Morden an Transvestiten: „Auch jetzt noch erfahren wir jedes Jahr von zwölf, dreizehn Fällen. Die Kameradinnen werden erschlagen, erschossen oder erstochen. Später tauchen ihre Leichen irgendwo im Wald auf. Bisher wurde keiner dieser Fälle aufgeklärt, nicht ein einziger in all den Jahren.“

Die Gewalt gegenüber Homosexuellen in Guatemala gehört noch längst nicht der Vergangenheit an. Bei solchen Delikten erweist sich der Justizapparat als besonders unfähig. Die Straffreiheit der Täter hinterlässt bei den Opfern ein Gefühl der Machtlosigkeit. Doch mit der Zeit haben sich die Homosexuellen einige Freiheiten erkämpfen können. Sie treten heute zunehmend selbstbewusster auf. Davon profitieren vor allem junge Schwule wie der achtzehnjährige Gabriel. Er schminkt sein dünnes, zartes Gesicht gerne mit leuchtend rotem Lippenstift, dunklen Lidschatten und auffälligem Puder. Hemmungen, über seine Homosexualität zu sprechen, hat er nicht: „Niemand sollte seine Identität verbergen müssen. Gott hat so viele verschiedene Dinge geschaffen, verschiedene Blumen zum Beispiel, Rosen und Nelken unterschiedlichster Farben. Genauso hat er auch uns Menschen verschieden geschaffen, mit unterschiedlichen Hautfarben und Gesichtszügen und eben auch mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen.“ Die Lehrerinnen und SchülerInnen in Gabriels Schule wissen, dass er transsexuell ist. Er gibt sich auch keinerlei Mühe, das zu verbergen. Im Gegenteil, viele seiner Gesten sind ausgesprochen feminin. „Da setze ich mir keine Grenzen. Mich motiviert das Bewusstsein, dass vor mir andere Personen für die Rechte der Homosexuellen gekämpft haben. Diese Leute sind meine Vorbilder. Ich habe mich der Bewegung angeschlossen, weil der Kampf noch längst nicht zu Ende ist.“

In Guatemala kann man heute durchaus von einer Bewegung der Homosexuellen sprechen. Deren erste Schritte hat die Deutsche Ines Rummel zehn Jahre lang begleitet. Sie weiß, dass Homosexuelle in Deutschland darum kämpfen, heiraten zu können oder Kinder adoptieren zu dürfen, während es bei dem Kampf in Mittelamerika um ganz andere, grundlegende Dinge geht. Dort wollen die Homosexuellen als Personen anerkannt werden, die ein Recht haben, nicht eingesperrt, misshandelt oder ermordet zu werden. „Während der letzten drei, vier Jahre haben sich die guatemaltekischen Schwulen und Lesben stärker organisiert“, sagt Ines Rummel. „Im Jahr 2000 haben wir zum ersten Mal den Christopher Street Day gefeiert.“ Ines Rummel weiß aber auch, dass Homosexualität in Guatemala noch längst nicht als normale Lebensform unter anderen anerkannt wird. „Jeder Schwule und jede Lesbe macht ihre eigenen, persönlichen Erfahrungen. Einige haben kaum Probleme, aber für die meisten ist es weiterhin schwierig. Gerade unter den jungen Schwulen gibt es viele, die von zu Hause rausgeschmissen werden. Sie leben oft in Hotels und verdienen ihr Geld auf dem Straßenstrich.“

In Lateinamerika wird Homosexualität häufig als ausländische Krankheit dargestellt oder als Ausdruck westlicher Dekadenz angesehen, obwohl es unbestritten ist, dass gleichgeschlechtliche Liebe schon in vorkolumbianischen Zivilisationen existiert hat. Der venezolanische Sozialforscher Antonio Raquena schrieb zu dieser Frage: „Akzeptiert oder verboten, verehrt oder grausam bestraft - präsent war die Homosexualität überall, von der Beringstraße bis zur Magellanstraße.“ Als die europäischen Eroberer vor 500 Jahren in die Neue Welt kamen, fanden sie Völker und Zivilisationen vor, deren sexuelle Praktiken sich deutlich von den Normen der jüdisch-christlichen Tradition unterschieden. Die Vorstellungen in Bezug auf Nacktheit, Jungfräulichkeit, Inzest oder Polygamie waren häufig geradezu entgegengesetzt. Das galt vor allem für die Homosexualität, die von den zumeist katholischen Kolonisatoren als Sünde angesehen wurde. Sie fanden zahlreiche Kunstgegenstände mit explizit homoerotischen Abbildungen und sahen darin einen Beweis für die Gottlosigkeit der amerikanischen Urbevölkerung. Soweit wir heute wissen, begann die homophobe Hetze in der Neuen Welt im Jahr 1513. Damals warf der spanische Eroberer Vasco Balboa vierzig homosexuelle Ureinwohner des heutigen Panama vor ein Rudel wütender Hunde. Im Jahr 1548 registrierten die Chronisten die erste Verfolgung europäischer Homosexueller in Lateinamerika. Sieben Männer, vier von ihnen Kleriker und drei Laien, wurden in Guatemala festgenommen und zum Tod am Galgen verurteilt. Doch sie konnten vor der Vollstreckung fliehen. In der guatemaltekischen Gesellschaft ist die Homophobie, die Angst und Abscheu gegenüber homosexuellen Neigungen, bis heute tief verwurzelt. Gerade die Kirchen fördern noch immer eine intolerante Haltung. Trotzdem stellt Ines Rummel fest, dass die meisten Homosexuellen in Guatemala bekennende Christen sind.

Trotz der zunehmenden Offenheit innerhalb der guatemaltekischen Gesellschaft hat sich die offizielle Haltung der Kirchen gegenüber Homosexuellen bisher nicht geändert. „Wenn wir eine Messe für eine ermordete Freundin organisieren, sammeln die Transvestiten meist unter sich Geld, um den Sarg und Blumen kaufen zu können“, erzählt Vinicio Alvarado, der sich als Menschenrechtsbeauftragter der Organisation OASIS für die Interessen von Homosexuellen einsetzt. „Die Katholiken erlauben zwar, dass wir in ihrer Kirche einen Trauergottesdienst abhalten, aber die Priester beeilen sich sehr, damit das Ganze nach fünf Minuten vorbei ist. Sie wollen uns nicht dort haben.“ Diesen Eindruck kann der ehemalige Diakon Guillermo bestätigen. Er musste die Priesterausbildung auf Grund seiner Homosexualität abbrechen. „Die Doppelmoral der Kirche in dieser Frage ist offensichtlich. Öffentlich verurteilt sie die Homosexualität mit drastischen Worten, gleichzeitig jedoch gibt es in den Reihen der Priester und Ordensbrüder sehr viele Homosexuelle. Ich kenne einige, die von der Kirche gedeckt werden. Dabei geht es um Macht und einflussreiche Positionen.“ Seitdem sich Guillermo der Schwulenbewegung angeschlossen hat, haben sich für ihn neue Möglichkeiten eröffnet und alte Wünsche erfüllt. Heute führt er Gottesdienste für Schwule und Lesben durch, organisiert religiöse Zeremonien an Festtagen und gibt seelsorgerischen Beistand, wenn ihm Paare ihre Probleme anvertrauen. Den Segen seiner Kirche hat er dabei aber nicht. Während sich die katholische Kirche in Guatemala nicht völlig gegenüber sexuellen Minderheiten verschließt, verhalten sich viele der einflussreichen evangelikalen Gruppen sehr viel drastischer. „Die Fundamentalisten meinen, wir seien vom Himmel ausgeschlossen“, sagt Vinicio Alvarado. „Sie wollen uns bekehren, als ob du ihren Glauben überstreifen und deine Homosexualität einfach ablegen könntest. Es gibt Fälle, da schließt sich die ganze Familie einer evangelikalen Sekte an, nur um den armen homosexuellen Bruder zu retten. Schon oft haben mir Eltern gesagt, sie würden ständig für ihren Sohn beten, damit er sich aus den Klauen der Homosexualität befreie. Das funktioniert natürlich nicht, und am Ende verlässt der Junge meist seine Familie.“ 

Heute gibt es selbst unter den guatemaltekischen Bischöfen einige, die die Beziehung zwischen der Kirche und homosexuellen Gläubigen verbessern möchten. Besonders Oscar Julio Vian, Bischof der flächengrößten Diözese Guatemalas, Petén, bemüht sich um dieses Miteinander. „Natürlich gibt es in unserer Kirche viele homosexuelle Personen. Die kirchliche Seelsorge steht ihnen offen. Wir bemühen uns um ihre Probleme, vielleicht nicht immer in der Öffentlichkeit. Es ist wichtig zu verstehen, dass sie sich in dem machistischen Umfeld Lateinamerikas diskriminiert und ausgegrenzt fühlen. Ich glaube, wenn wir sie unterstützen, dann können sie in der Kirche Antworten finden, die ihnen in ihrem Leben helfen.“ Ähnlich sieht es der Priester Enrique. Er beobachtet einen langsamen Wandlungsprozess: „Die Kirche war schon oft fähig, für ihr Fehlverhalten um Vergebung zu bitten. Mit der Zeit wird sie sich auch darauf einlassen, die Homosexuellen um Vergebung zu bitten für die Diskriminierung, unter der sie leiden, insbesondere in den Ländern Lateinamerikas. In Guatemala gibt es dazu zwar noch kein Dokument der Bischofskonferenz, doch das persönliche Verhalten der Bischöfe zeigt oft, dass sie uns als homosexuelle Personen akzeptieren und dass sie um Verzeihung bitten für das geschehene Unrecht.“ Von seiner eigenen Homosexualität spricht der Priester Enrique nur sehr zurückhaltend. Dabei legt er großen Wert darauf zu betonen, dass er sich an den Zölibat hält. Mit seinen Priesterkollegen spricht er jedoch nie über dieses Thema. Während Teile der Kirchen an gestrigen Partnerschaftsvorstellungen festhalten, erleben zunehmend mehr homosexuelle Jugendliche in Guatemala ihre sexuelle Orientierung als normal. „Es gibt immer mehr 14-, 15-Jährige, die öffentlich als Homosexuelle auftreten“, staunt der 20jährige Walter, der vor kurzem das erste Mal eine Diskothek für Homosexuelle betreten hat. „Aber die Jungs können sich noch nicht wirklich auf das Umfeld einlassen. Sie müssen warten, bis sie 18 sind, bevor sie Einlass in die Diskotheken bekommen.“

Bis vor wenigen Jahren gab es in Guatemala keine einzige Schwulendisco. Heute gibt es allein in der Hauptstadt über ein halbes Dutzend. Das Angebot reicht von billigen Tanzsalons, in denen sich junge Lesben und Schwule aus den ärmeren Stadtvierteln treffen, bis zu einer exklusiven Luxusdisco, in der Homosexuelle aus der Oberschicht 250 Quetzales Eintritt zahlen. Das sind rund 25 Euro, mehr als andere in einer Woche verdienen. Die populäre Disco BIG BANG im alten Stadtzentrum von Guatemala-Stadt ist in kolonialen Gemäuern untergebracht, ausgestattet mit vielen Räumen, Sofas, zwei Bars, einer erstklassigen Lichtanlage und einer großen Tanzfläche auf mehreren Ebenen. Im Takt der ohrenbetäubend lauten Musik bewegen sich fast ausschließlich Männer. Einer tanzt eng hinter dem Rücken seines Partners. Der rhythmische Lärm dringt bis auf die Straße. Von dem bunten, schrillen Nachtleben in Guatemala-Stadt werden Homosexuelle aus ganz Mittelamerika angezogen. Der Salvadorianer Simonea tritt im BIG BANG in einer Transvestitenshow auf. Er meint, Guatemala nehme heute eine Vorreiterrolle ein. „Hier gibt es viel mehr Freiheiten als in den Nachbarländern El Salvador, Honduras und Nicaragua. Noch vor fünf Jahren konntest du in Guatemala nicht öffentlich über deine Homosexualität sprechen. Seitdem haben wir viel erreicht. Heute werden wir zumindest geduldet.“

Auch für lesbische Frauen hat sich die Atmosphäre verändert. Rosa Contreras engagiert sich in der Gruppe LESBIRADAS. Die rund zwanzig Mitglieder haben schon mehrfach öffentliche Veranstaltungen durchgeführt und damit für andere Lesben Türen aufgestoßen. „Die meisten von uns, die heute stolz auf ihre sexuelle Identität sind, hatten früher viele Komplexe. Wir wollten unsere Realität und unsere Gefühle nicht akzeptieren. Heute gibt es viele Orte, an denen man junge Leute treffen kann, die genauso fühlen wie wir. Wir leben nicht mehr so vereinzelt wie früher.“ Die gesellschaftliche Öffnung gegenüber unterschiedlichen sexuellen Orientierungen ermöglicht vielen Menschen einen Neuanfang. Der 24jährige David wusste schon im Alter von sieben Jahren, dass er schwul war. Aber erst vor drei Monaten brachte er den Mut auf, mit seiner Familie darüber zu sprechen: „Früher ging es mir schlecht. Ich war sehr einsam. Doch seitdem ich das Umfeld der Homosexuellen kenne, fühle ich mich frei. Ich fühle mich gut, gelassen, in Gemeinschaft mit anderen. Heute habe ich viele Freunde, die mir helfen.“

Noch sind die mittelamerikanischen Gesellschaften weit entfernt von einer vorurteilsfreien Sexualität. Doch zumindest in Guatemala brauchen Homosexuelle heute nicht mehr vereinzelt zu leben. Ricardo, der Verwalter der Disco BIG BANG, sieht die Zukunft für Homosexuelle in Guatemala geradezu in rosaroten Farben: „Zum Beispiel ist es leichter geworden, Arbeit zu finden. Die Arbeitgeber reagieren oft sogar positiv, wenn du ihnen sagst, dass du schwul bist. Sie wissen, dass wir wegen all der schlechten Erfahrungen besonders treu gegenüber unserer Arbeit sind. Ich glaube, bald wird die Homosexualität auch in Guatemala kein Tabu mehr sein.“