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Prioritäten verfehlt

Drogenpolitik am Scheideweg – eine Bestandsaufnahme

Lateinamerika stand über ein Vierteljahrhundert lang im Zeichen des War on Drugs, der den Antikommunismus der Dominotheorie als hegemoniales Paradigma Washingtons in der Region abgelöst hatte, bevor er nach der Jahrtausendwende mit dem War on Terror verschmolzen wurde. Heute steht das System der internationalen Drogenkontrolle selbst infrage. Energischer Reformdruck kommt gerade aus Lateinamerika.

Robert Lessmann

Die internationale Drogenkontrolle befindet sich am Scheideweg. Die Kritik nimmt zu. Der rechtliche Rahmen des Kontrollsystems ist ein halbes Jahrhundert alt und stößt an Grenzen. Die Ergebnisse sind unbefriedigend, um das Wenigste zu sagen. Waren es zur Jahrtausendwende (1999) 141 Millionen Menschen, die illegale Substanzen konsumierten, so sind es laut dem soeben erschienenen World Drug Report 2014 der Vereinten Nationen heute 243 Millionen. Auch wenn man das Bevölkerungswachstum (von 6 Milliarden auf 7,1 im gleichen Zeitraum) mit in Rechnung stellt: Fast 75 Prozent Steigerung in nur anderthalb Jahrzehnten, von Erfolg mag da niemand mehr reden. Etwa 200 000 Menschen sterben jährlich weltweit an den Folgen dieses Konsums. Häufigste Ursachen für den Drogentod sind Überdosierung und Verunreinigungen. Angesichts von 120 000 Toten im Zusammenhang mit Nikotin und 47 000 im Zusammenhang mit Alkohol im Jahr 2012 allein in der Bundesrepublik mag man sich ohnehin fragen, ob hier die richtigen Prioritäten gesetzt werden. In den Vereinigten Staaten übersteigt übrigens die Zahl der Todesfälle nach dem Missbrauch verschreibungspflichtiger Schmerzmittel (5100) jene der Heroin- und Kokaintoten zusammengenommen.

Der Konsum bewusstseinsverändernder Substanzen ist in der Menschheitsgeschichte seit langer Zeit bekannt. Es begann wohl mit der alkoholischen Gärung. Bereits vor 8000 Jahren kannte man im westlichen Zentralasien den Wein. In Ägypten und im Zweistromland wurde spätestens um 3000 vor Christus Bier gebraut. Die Assyrer verwendeten Hanf/Cannabis schon in vorchristlicher Zeit. Seine berauschende Wirkung ist auch in den indischen Veden erwähnt. Seit dem vierten Jahrtausend vor Christus wurde in Vorderasien Schlafmohn angebaut, dessen Verwendung als schlafförderndes und schmerzstillendes Mittel ab 1300 vor Christus nachgewiesen ist. Häufig war der Konsum dieser Substanzen an Rituale gebunden oder gewissen Herrscher- und Priesterkasten vorbehalten. Drogenkonsum als rituellen und hierarchischen Kontexten enthobenes Massenphänomen taucht erst mit der Steigerung des Wohlstands durch die Industrialisierung und die Globalisierung im Zuge des Kolonialismus auf. Damit stellte sich auch die Frage nach einer Einhegung oder Domestizierung dieses Konsums neu.

Das erste einschlägige internationale Abkommen, die Haager (Opium-)Konvention von 1912, feierte gerade ihren 100., das heute maßgebliche Rahmenabkommen, die Single Convention on Narcotic Drugs der Vereinten Nationen von 1961, ihren 50. Geburtstag. Die Zahl der durch sie „kontrollierten Substanzen“ ist seither kontinuierlich angewachsen von sieben (1925) über 85 (1961) auf 234 (2012) – die Zahl der nicht durch sie erfassten bewusstseinsverändernden Substanzen neuerdings noch viel stärker. Fast schon im Wochenrhythmus tauchen neue Stimulanzien auf, die nicht unter die internationale Kontrolle fallen und die zum Teil als Badesalz oder Pflanzendünger im Internet angeboten werden. Das überfordert nicht nur die Behörden. Auch KonsumentInnen können immer weniger sicher sein, was sie da eigentlich schlucken oder inhalieren.

Unter diese sogenannten Designerdrogen (legal highs), Amphetamin-type Stimulants (ATS) oder New Psychoactive Substances (NPS) fällt auch künstliches Cannabis (Spice). Cannabis selbst, die mit Abstand am häufigsten konsumierte illegale Substanz, spielt für die internationale Drogenkontrolle praktisch keine Rolle, obwohl hier in den letzten Jahren erheblich potentere Sorten auf den Markt gekommen sind, die zu Komplikationen führen können. Zumeist wird Cannabis aber lokal angebaut und konsumiert, was staatliche Zugriffsmöglichkeiten minimiert. Ähnlich verhält es sich bei den NPS-Substanzen: Sie sind einfach herzustellen, die notwendigen Zutaten relativ leicht zu beschaffen, das Risiko relativ gering und die Profite hoch. Grenzüberschreitende Transaktionen sind nicht nötig. Produktion und Vertrieb können theoretisch als Einmannbetrieb organisiert sein. Trotzdem beobachten die UN hier zunehmend ein stärkeres Engagement auch internationaler krimineller Organisationen, die sich den lukrativen Markt nicht entgehen lassen wollen. Während die USA seit 2006 von einem Rückgang der Kokainkonsumenten um fast 40 Prozent berichten, hat dort die Zahl der entdeckten und zerstörten Methamphetaminlabors (siehe Kasten) exponenziell zugenommen. Ein klassisches Stimulanz wird durch ein neues, billigeres, gefährlicheres und schwerer zu kontrollierendes ersetzt, so scheint es. Und das gilt nicht nur für diesen größten Markt, sondern weltweit.

Die wichtigsten Märkte der NPS sind Europa und Nordamerika und insoweit sie doch in Übersee hergestellt werden, sind China und Indien führende Produzenten. Die internationale Drogenkontrolle stößt hier an Grenzen, weil ihre Konventionen mit Listen kontrollierter Substanzen arbeiten, die gar nicht schnell genug aktualisiert werden können. Die Staaten improvisieren daher in diesem Bereich jeweils nach eigenem Gutdünken und manchmal am Rande der Rechtsstaatlichkeit. Einzelentscheidungen bleiben oft der Justiz oder den Polizisten überlassen, die damit nicht selten überfordert sind. Allein die Zahl der in Europa erfassten NPS-Substanzen ist von 14 (2005) über 236 (2012) auf nunmehr 348 gestiegen.

Die Märkte für die klassischen pflanzengestützten „Drogen“ wie Opiate und Kokain haben sich stabilisiert, doch betrachtet man die Entwicklung im Detail, so besteht allenfalls zur Ernüchterung Anlass. Als Problemdroge Nummer eins gilt immer noch das Heroin mit seinem pflanzlichen Grundstoff, dem Schlafmohn/Opium. Die wichtigsten Märkte liegen in Europa (26 Prozent) und neuerdings in Russland (21 Prozent), gefolgt von China (13 Prozent). Mexiko und Kolumbien spielen eine Nebenrolle bei der Versorgung des nordamerikanischen Marktes (ca. 10 Prozent des globalen Marktes). Ansonsten beherrschen asiatische Länder die Versorgung mit dem Rohstoff, wobei Afghanistan (mit zeitweise nahe 90 Prozent) Myanmar als wichtigster Produzent abgelöst hat. Armut und Staatszerfall haben sich hier als Nährboden erwiesen.

Unter dem Strich pendelte die globale Produktion von Schlafmohn im letzten Vierteljahrhundert um die 200 000 Hektar, wobei sich konjunkturelle oder witterungsbedingte Veränderungen sowie Schädlingsbefall meist direkt niederschlagen, denn Schlafmohn ist, im Unterschied zu Koka, eine einjährige Pflanze. Anders als in Südamerika verzichtet Washington in Afghanistan auf Politiken der Zwangsvernichtung von Schlafmohnfeldern, um die Bauern nicht in die Hände der Taliban zu treiben (siehe Kasten). Durch Zuwächse in Afghanistan und Myanmar ist die Anbaufläche neuerdings auf ein Rekordhoch von fast 300 000 Hektar geklettert. Die weltweit höchsten Konsumraten für Opium und Heroin gibt es in Afghanistan und im Iran.

Beim Kokain stellen wir auf den ersten Blick einen Rückgang der Kokaanbaufläche fest. Zwischen 2007 und 2012 ist sie um 25 Prozent auf heute 133 700 Hektar geschrumpft. Aufgrund verbesserter Erträge und Verarbeitungsmethoden ist das Kokainangebot jedoch nicht proportional dazu gesunken. Die globale Kokainproduktion dürfte wie seit vielen Jahren bei etwa 1000 Tonnen pro Jahr liegen. Nach wie vor kommen fast 100 Prozent des Rohstoffs, die Blätter des Kokabusches, aus Bolivien, Kolumbien und Peru, obwohl er theoretisch auch in vielen anderen Regionen wachsen würde. Ein Vierteljahrhundert Drogenkrieg unter dem Diktat Washingtons hat daran nichts geändert, hat aber zu Verschiebungen unter diesen Ländern geführt.

Stets war Washington die treibende Kraft hinter der internationalen Drogenkontrolle. Stets waren in den USA der Drogenkonsum und die damit verbundene Besorgnis besonders groß. In den 80er-Jahren rückte mehr und mehr Kokain mit seiner rauchbaren Variante crack in den Vordergrund. Bereits im Jahr 1971 hatte US-Präsident Richard Nixon den Drogen „den Krieg erklärt“, doch erst unter Präsident Ronald Reagan (1981-1989) wurde aus der Kriegserklärung Ernst. Mit der Novellierung des Posse Comitatus Act im Jahr 1981 wurde die gesetzliche Grundlage für einen möglichen Einsatz der Armee im Kampf gegen den illegalen Drogenhandel geschaffen; das Gesetz aus dem Jahr 1878 hatte jeden Eingriff des Militärs in zivile Angelegenheiten untersagt. War diese Militarisierung zunächst auf die Versiegelung der Landesgrenzen (boarder interdiction) beschränkt, so erfolgte ab Mitte der 80er-Jahre die Externalisierung der US-Drogenkontrolle.

Bereits seit 1978/79 gibt es im State Department ein Bureau for International Narcotics Matters and Law Enforcement Affairs (INL – zu diesem derzeitigen Namen umbenannt 1995). Washington verlieh dem soft law der UN-Drogenkonventionen nunmehr im Alleingang Zähne und Klauen. Drogen seien zu einer Bedrohung der nationalen Sicherheit geworden, erklärte Präsident Reagan zu Beginn des Jahres 1986. Nachdem die boarder interdiction nicht den erhofften Erfolg gebracht hatte, hieß das Motto nun: Going to the source! Mit den Antidrogengesetzpaketen von 1986 und 1988 wurden die sogenannte drogenproduzierenden beziehungsweise wichtige Transitländer mit obligatorischen Sanktionen belegt, die der Präsident jeweils für ein Jahr aussetzen konnte (certification). Ein bedrohliches Damoklesschwert, mit dem es Washington weitgehend gelang, seinen Diskurs und teilweise sehr konkrete Maßnahmen in den betroffenen Ländern durchzusetzen.

Mit der Wahrnehmung von Kokain als Problemdroge Nummer 1 waren dies zunächst vor allem die südamerikanischen Produzentenländer Bolivien, Kolumbien und Peru, wo es in der Folge zu einer Amerikanisierung und Militarisierung der Drogenkontrolle kam. Diese war verbunden mit teilweise schwerwiegenden Eingriffen in die nationale Souveränität: Eingriffe in die nationale Gesetzgebung; Aufstellung, Ausrüstung und Training von Spezialpolizeieinheiten; Einbeziehung des Militärs in die Drogenbekämpfung; Tätigkeit von US-Polizei- und Militärpersonal im Gastland auch in leitenden Funktionen; Entführung mutmaßlicher Drogenstraftäter in die USA; temporäre Militärinterventionen in Bolivien (Operation Blast Furnace 1986) und Panama (Operation Just Cause 1989-90), bei letzterer soll es sich übrigens um das größte Luftlandeunternehmen seit dem 2. Weltkrieg gehandelt haben.

Im Januar 1990 wurde unter der Präsidentschaft von George Bush (sen.) die „Andenstrategie“ dem Kongress vorgelegt, in deren Rahmen die Drogenkontrolle in Bolivien, Kolumbien und Peru fünf Jahre lang mit 2,2 Milliarden US-Dollar unterstützt werden sollte. Ihr Ziel war eine Verminderung des Imports illegaler Drogen in die USA um 15 Prozent innerhalb von zwei und um 60 Prozent innerhalb von zehn Jahren. Insbesondere die Polizei- und Militärhilfe wurde drastisch ausgeweitet. Im Jahr 1990 übertraf die Militärhilfe an die drei Andenländer mit 142 Millionen US-Dollar jene an Zentralamerika, eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr um das 20-fache. Gleichzeitig wurde das Budget für Anti-Drogen-Operationen des US Southern Command der US Streitkräfte in Panama von 230 auf 430 Millionen US-Dollar ausgeweitet, womit es höher lag als die gesamte reguläre Antidrogenhilfe, die 1990 im Rahmen der „Andenstrategie“ bewilligt wurde.

Mit einer National Defense Authorization war das Pentagon bereits im September 1989 zur single lead agency bei Entdeckung und Beobachtung illegaler Drogentransporte erklärt worden. In der Folge wurde der Andenraum mit einem hochmodernen System der Radarüberwachung überzogen. Elitesoldaten der US Special Forces wurden in den Drogenkrieg einbezogen und mit Militär- und Geheimdienstpersonal besetzte Tactical Analysis Teams (heute meist Narcotics Action Section NAS genannt) steuerten von der jeweiligen US-Botschaft aus die Drogeneinsätze im Gastland. Diese Eingriffe in die nationale Souveränität der betroffenen Länder haben dort zu Protesten und innenpolitischen Auseinandersetzungen geführt. Und in Bolivien wurde der Chef der machtvollen Gewerkschaften der Kokabauern, Evo Morales, im Herbst 2005 zum Präsidenten gewählt.

Nach der Zerschlagung der großen kolumbianischen „Kartelle“, die das Vorprodukt pasta básica de cocaína zur Weiterverarbeitung vorwiegend aus Peru und Bolivien eingekauft hatten, kam es dort zu einem Prozess der Importsubstitution. Der Kokaanbau verdreifachte sich in Kolumbien in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre. Die traditionellen Kokaländer Bolivien und Peru verloren an Gewicht. Seit dem Jahr 2000 beobachten wir den gegenläufigen Trend. Doch die Rückgänge in Kolumbien haben einen hohen Preis: Eine Reduzierung um 16 000 Hektar (zwischen 2011 und 2012) wurden durch manuelles Herausreißen (344 86 ha) sowie Besprühung mit Pflanzengift (100 549 ha) erzielt. Schon seit dem Jahr 2002 wird in Kolumbien stets viel mehr Koka vernichtet als ursprünglich gepflanzt war oder letztlich dann übrig bleibt. Der Anbau ist dadurch zu einer extrem volatilen Angelegenheit geworden. Verschwunden ist er nicht. Zudem ist die Besprühung mit Pflanzengift ökologisch höchst umstritten. Von Erfolgen oder gar einer vernünftigen Strategie kann man da nicht wirklich sprechen. Und es gibt KritikerInnen, die mit plausiblen Argumenten hinter dieser Politik der verbrannten Erde eine gezielte Strategie der Bauernvertreibung und der Monopolisierung des Bodens zugunsten agroindustrieller Vorhaben sehen.

Bei einer Gesamtbevölkerung von 46,3 Millionen gibt es in Kolumbien infolge des schmutzigen Krieges mindestens 4 (manche Quellen sprechen von bis zu 5,2) Millionen Binnenflüchtlinge; Kolumbien ist damit Weltspitze vor dem Sudan. Die Vernichtung von Kokafeldern durch Besprühen mit Pflanzengift aus der Luft trägt weiter zu dieser Art von unfreiwilliger „Mobilität“ bei. Zudem haben sich Guerilla und Paramilitärs des lukrativen Geschäfts bemächtigt und die Kokavernichtung geschah (zumindest in der Vergangenheit) sehr eindeutig im Dienste der Aufstandsbekämpfung, nämlich überwiegend auf Guerillagebiet. Übrigens: Nur die Führungsmacht der Weltdrogenkontrolle leistet sich ein eigenes Büro für Drogenkontrolle und Gesetzesvollzugsangelegenheiten (INL) im State Department, dessen Budget stets deutlich über jenem der entsprechenden Organe der Vereinten Nationen liegt. Kolumbien (244,6 Mio.) und Afghanistan (272,5 Mio) erhielten Ende des letzten Jahrzehnts zusammen deutlich mehr als 50 Prozent des INL-Gesamtbudgets von 878,7 Mio. US-Dollar; Drogenbekämpfung ist dort ein Aspekt des „Krieges gegen den Terror“.

Unter dem Strich geht der Kokaanbau in Kolumbien und nun auch im Andenraum zurück, nachdem seit 2010 Bolivien (in Zusammenarbeit mit den Bauern und friedlich) und im letzten Jahr erstmals auch Peru leichte Rückgänge erzielten. Inwieweit es sich dabei allerdings wirklich um einen drogenpolitischen Erfolg handelt oder um eine Verschiebung der Märkte zugunsten von Methamphetamin und zu Lasten von Kokain sei dahingestellt. Unbeantwortet ist die Frage der Nachhaltigkeit. Glasklar sind die hohen sozialen und ökologischen Kosten, denn wirklich nachhaltig sind die Reduzierungen noch nicht einmal in Bolivien.

Während vor 20 Jahren Kolumbien mit Bombenattentaten und Entführungen im Brennpunkt der Gewalt stand, ist es heute die Nordgrenze Mexikos. Nach wie vor stammen 90 Prozent des in den USA (dem noch immer größten Markt) erhältlichen Kokains aus Kolumbien, aber es kommt heute zu 90 Prozent über Mexiko. Mehrere Faktoren waren für diese Entwicklung verantwortlich. Bessere Kontrollen der Seewege von Kolumbien über die Karibik- und die Pazifikroute führten zu einer Verlagerung des Schmuggels über Land, wo an der Nordgrenze Mexikos kriminelle Organisationen mit viel Erfahrung in allen möglichen Aktivitäten vom Warenschmuggel bis zur illegalen Migration bereitstanden. Deren Bedeutung nahm zu, weil auf dieser grenzüberschreitenden Ebene besonders hohe Gewinne erzielt werden und weil nach der Zerschlagung der großen „Kartelle“ Kolumbiens in der ersten Hälfte der 90er-Jahre deren kleinere Nachfolgeorganisationen in eine schwächere Verhandlungsposition gerieten.

Schließlich konnten die Mexikaner auch immer größere Teile des besonders lukrativen Großhandels in den USA unter ihre Kontrolle bringen. Die mexikanische Regierung schätzt die Finanztransfers aus US-Drogengeschäften auf 11 Milliarden US-Dollar pro Jahr, der private Finanzdienstleister KPMG gar auf 25 Milliarden. Der mexikanische Verteidigungshaushalt betrug dagegen stets rund 6 Mrd. US-Dollar. Erst im Finanzjahr 2012 wurde die Rekordsumme von 10,7 Milliarden US-Dollar für sicherheitsbezogene Ausgaben budgetiert. Indes, während der US-Kokainmarkt noch 1998 viermal so groß war wie der europäische, liegen sie heute beinahe gleichauf (37:33 Milliarden US-Dollar). Neue Routen nach Europa wurden wichtig und – zum Beispiel über Westafrika ab etwa 2004/2005 – auch erschlossen, wo einige der ärmsten Länder dieser Erde dem illegalen Treiben vollkommen machtlos gegenüberstanden und in Korruption versanken.

Seit spätestens Mitte des vergangenen Jahrzehnts geht der Kokainkonsum in den USA zurück. Als der Kokainmarkt dort zu schrumpfen begann, nahm die Konkurrenz zwischen den mexikanischen Drogenorganisationen zu. Ein neuer Drogenkrieg begann, in dessen Verlauf die kriminellen Banden immer wieder auch Teile der staatlichen Sicherheitskräfte korrumpierten und für ihre Ziele einsetzten. Der Krieg der „Kartelle“ gegeneinander sowie gegen Polizei und Militär hat allein in den ersten neun Monaten des Jahres 2011 12 903 Todesopfer gefordert. Während Mexiko noch im Brennpunkt der Aufmerksamkeit und der Diskussionen um endemische Korruption und Staatsversagen steht, geht die Suche nach neuen Vertriebswegen weiter und der Drogenkriegstsunami hat längst schon weitere Küsten erreicht. Im Jahr 2010 löste Honduras nach Auskunft der Vereinten Nationen El Salvador als Land mit der höchsten Mordrate pro Kopf der Bevölkerung ab. Honduras (mit 60,9 pro 100 000), El Salvador (51,8) und Guatemala (49), nicht Mexiko, führen heute die Liste an. Die Gewalt- und Mordtaten konzentrieren sich innerhalb dieser Länder auf Aktivitäten der organisierten Kriminalität und auf Regionen, in denen der Drogenhandel besonders aktiv ist. Angesichts dieser ernüchternden Bilanz scheint es höchste Zeit, über Alternativen und einen Neuanfang nachzudenken.

Lateinamerikanische Länder, allen voran Kolumbien und Mexiko, haben einen extrem hohen Blutzoll bezahlt. Dies und die eklatante Erfolglosigkeit dieser Politik, die allenfalls zu einer Verlagerung, bei genauerer Betrachtung aber zu einer Ausbreitung der Probleme geführt hat, riefen Reformkräfte auf den Plan. Im März 2009 formierten sich die ehemaligen Präsidenten Gaviria/Kolumbien, Zedillo/Mexiko und Cardoso/Brasilien zu einer Latinamerican Commission on Drug Policy, die zwei Jahre später zu einer globalen Kommission mutierte, deren Anliegen inzwischen auch von amtierenden Präsidenten (Santos/Kolumbien und Pérez Molina/Guatemala) und Honoratioren wie Kofi Annan, Javier Solana und Jimmy Carter unterstützt werden. Sie fordern ein Ende des Drogenkriegs und Reformen insbesondere im Sinne einer Reduzierung der Gewalt und einer Entkriminalisierung der Konsumenten.1 Ein Präsidentengipfel der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) endete im April 2012 im kolumbianischen Cartagena beinahe mit einem Eklat.

Neben dem Ausschluss Cubas stand die Drogenpolitik im Fokus der Auseinandersetzungen. Nach mehr als 60 000 Toten seit Dezember 2006 im mexikanischen Drogenkrieg und einem Überschwappen der Gewalt nach Zentralamerika kam von dort die Forderung, die herrschende Politik auf den Prüfstand zu stellen. Guatemalas Präsident Otto Pérez Molina hatte bereits im Februar 2012 gefordert, die Möglichkeiten einer Legalisierung zu studieren und die damalige Präsidentin Costa Ricas, Laura Chinchilla, erklärte in Cartagena, die bisherigen Strategien hätten nur zu einer Verlagerung der Probleme geführt – mit äußerst hohen Kosten: „Wir müssen das Problem von wenigstens vier Perspektiven her angehen, als Problem der öffentlichen Gesundheit, wobei man den Konsum nicht kriminalisieren soll; als Priorität unserer Erziehungssysteme, um ihm vorzubeugen; als Herausforderung für mehr Transparenz und Integrität unserer Institutionalität; und als Angelegenheit von höchster Priorität für den Rechtsstaat.“ Erste Ergebnisse: Die OAS hat im Rahmen zweier Studien die Resultate des bisherigen Kampfes gegen den Drogenhandel evaluiert und neue, effektivere Ansätze vorgeschlagen.

Zur gleichen Zeit erklärte Bolivien in seiner neuen Verfassung vom Januar 2009 das Kokablatt zum schützenswerten „andinen Natur- und Kulturerbe“. Folgerichtig reiste Präsident Evo Morales gleich im März 2009 zur UN-Drogenkommission nach Wien, um dort die Streichung zweier Unterparagraphen aus der UN-Drogenkonvention von 1961 zu beantragen, die Kokaanbau und -konsum verbieten, damit, wie er sagte „die internationalen Konventionen in Einklang gebracht werden mit der Kultur meines Landes und nicht umgekehrt“. Der bolivianische Antrag wurde schließlich nach 18 Monaten Bedenkzeit von einer Gruppe von 18 Staaten, die sich selbst als „Freunde der Konvention“ bezeichneten (darunter auch die Bundesrepublik unter der Regie des damaligen Niebel-Ministeriums) abgewiesen. Einen Gefallen haben sie der Konvention damit nicht getan, denn Bolivien trat daraufhin 2012 in einem bisher einmaligen Präzedenzfall aus der Konvention aus und unter Vorbehalt mit Wirkung zum Februar 2013 wieder bei. Inzwischen arbeitete das Parlament in Montevideo an der weltweit ersten nationalen Gesetzgebung zur Legalisierung von Cannabis, die im April 2014 in Uruguay in Kraft trat.

Diese multilateralen Initiativen und nationalen Alleingänge lateinamerikanischer Länder bewirkten, dass die Reformdebatte im Rahmen der Vereinten Nationen eine neue Dynamik gewann. Doch sie stehen nicht alleine. Seit vielen Jahren gestalten zunehmend mehr Länder ihre Drogenpolitik punktuell an den äußersten Rändern der Bestimmungen der UN-Konventionen oder gar jenseits davon. Und Washington hat als eherner Verteidiger des drogenpolitischen Status quo inzwischen mit der Marihuanalegalisierung in Washington State und Colorado schwierige Hausaufgaben im eigenen Land. Im Jahr 2016 wird es erneut eine Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen zum Thema Drogen geben. Man darf gespannt sein.

Robert Lessmann ist promovierter Soziologe und Politologe, Mitarbeiter der Informationsgruppe Lateinamerika (IGLA) in Wien und Lehrbeauftragter an der Uni Köln. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Drogenproblematik. Buchautor u.a. von: „Drogenökonomie und internationale Politik“ sowie „Zum Beispiel Kokain“.