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Aufbruchstimmung – teilweise rückwärtsgewandt

EU-Lateinamerikagipfel und Alternativveranstaltungen in Wien

Vom 11. bis 13. Mai fand in Wien der Gipfel der Regierungschefs der EU, Lateinamerikas und der Karibik statt. Es sei die größte Konferenz in der Stadt seit dem Wiener Kongress im Jahr 1815, schrieb die Tageszeitung Der Standard zwei Tage vor Eröffnung des Treffens. Damals ging es um die Restauration der alten Monarchien, nachdem die Französische Revolution und die napoleonischen Kriege die Herrschaftsverhältnisse in Europa für gut zwei Jahrzehnte durcheinander gewirbelt hatten. Das Festschreiben alter Machtverhältnisse war in gewisser Weise auch das Ziel des diesjährigen Wiener Kongresses. Es sollte über Freihandelszonen geredet werden. Allerdings sind die Bedingungen heute andere als im Jahr 1815. So war bereits im Vorfeld klar, dass zu den bereits bestehenden Freihandelsverträgen der EU mit Chile und Mexiko in nächster Zeit wohl keine neuen hinzukommen werden: Die Verhandlungen mit dem Mercosur liegen nunmehr seit Jahren praktisch auf Eis, weil die EU sich weigert, den südamerikanischen Agrarexporteuren substantielle Zugeständnisse hinsichtlich des Zugangs zum europäischen Markt zu machen und umgekehrt europäische Autohersteller und Dienstleister noch mehr freie Fahrt, sprich Abbau von Politikgestaltungsspielraum im Mercosur verlangen, als der – sinnvollerweise – zu geben bereit ist. Verhandlungen mit der Andengemeinschaft machen kaum noch Sinn, weil das Bündnis vor seinem Ende steht (vgl. Beitrag in dieser Ausgabe). Lediglich mit den Staaten Zentralamerikas wird noch ernsthaft über einen Assoziationsvertrag verhandelt. 

Gert Eisenbürger

So war das Regierungstreffen vor allem ein Repräsentations-Event und ein Raum für bilaterale Treffen lateinamerikanischer und europäischer Regierungen, wo das eine oder andere Geschäft eingetütet und wohl auch manche Warnung ausgesprochen wurde, etwa an den bolivianischen Präsidenten Morales, er solle es mit den Verstaatlichungen nicht zu doll treiben und europäischen Investoren „Rechtssicherheit“ garantieren. Offiziell wurde bei dem Gipfel über die üblichen Themen, wie Bekämpfung des Drogenhandels, des Terrorismus und ähnliches parliert, eine nebulöse strategische Partnerschaft zwischen der EU und Lateinamerika beschworen, und am Ende erklärte Österreichs Bundeskanzler und derzeitiger EU-Ratspräsident Schüssel erwartungsgemäß, er sei sehr zufrieden mit dem Treffen. Was hätte der Mann auch anderes sagen sollen? Mit argentinischem Humor kommentierte die linksliberale Tageszeitung Página/12 aus Buenos Aires, der Zweck einer internationalen Konferenz bestehe darin, den Termin der nächsten festzulegen. Diesbezüglich war der Wiener Regierungsgipfel erfolgreich: der nächste soll 2008 in Lima stattfinden.

Wesentlich vielfältiger waren die unter dem Motto Enlazando Alternativas 2 zusammengefassten Alternativveranstaltungen. Diese setzten sich zusammen aus einem Tribunal am 10. und 11. Mai, verschiedenen Foren und Großveranstaltungen, über siebzig selbstorganisierten Seminaren, einem Dokumentarfilmfestival, Konzerten, einer bunten und lebendigen Demo sowie als Abschluss einem Treffen mit den Präsidenten Chávez und Morales. Das von der in Rom ansässigen Lelio-Basso-Stiftung getragene Tribunal beschäftigte sich mit der Geschäftspolitik der europäischen transnationalen Konzerne in Lateinamerika. Organisationen aus Europa und Lateinamerika hatten im Vorfeld Fälle eingereicht, in denen europäischen Konzernen die Verletzungen von Arbeitsrechten, die Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen oder die Missachtung staatlicher Gesetze und Auflagen vorgeworfen wurden. Diese Fälle wurden in Wien von ArbeiterInnen, sozialen und ökologischen AktivistInnen, WissenschaftlerInnen und JuristInnen aus Lateinamerika präsentiert. In ihrer Abschlusserklärung nannte die Jury, der altgediente AktivistInnen wie die Publizistin und attac-Mitgründerin Susan George, die österreichische Dritt-Welt-Bewegte und Grünen-Veteranin Freda Meisner-Blau, der italienische Ökologe und Senator Francesco Martone und als Präsident der Berliner Politikwissenschaftler Elmar Altvater angehörten, eine Reihe grundlegender Rechtsverletzungen durch die Tätigkeit europäischer Konzerne in Lateinamerika : a) Die Gefährdung des Rechts auf Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen (z. B. durch die Privatisierung öffentlicher Wasserversorgung); b) Die Bedrohung des Rechts auf Land und Boden infolge der Expansion von Monokulturen (z. B. Soja und Eukalyptus); c) Die Unterminierung des Rechts auf Ernährungssicherheit und –souveränität durch die industriell betriebene Landwirtschaft und Produktion für den Export; d) Angriff auf Arbeitsrechte; e) Missachtung der Rechte der indigenen Bevölkerungen; f) Missachtung von Umweltrechten, und schließlich g) Die Bedrohung bürgerlicher und politischer Rechte durch den Einfluss der Konzerne auf die lateinamerikanischen Regierungen.

Die gut siebzig selbstorganisierten Seminare waren für mich das Herzstück der Alternativveranstaltungen, waren sie doch der einzige Raum, wo Diskussionen nicht nur auf Podien stattfanden, sondern die TeilnehmerInnen auch selbst in die Debatten eingreifen konnten. Dies war jedoch nur in den Seminaren möglich, die nicht allzu voll waren. Dort wo hundert und mehr Leute zusammenkamen, gab es doch wieder nur Podiumsgespräche, wo die VertreterInnen linker Parteien und Nichtregierungsorganisationen (NRO) ihre Sicht der Welt darlegten. Im Vorfeld waren über 150 Seminare angemeldet worden. Da dies die räumlichen und zeitlichen Kapazitäten völlig gesprengt hätte, hatten die VeranstalterInnen (österreichische Soligruppen, attac und Hilfswerke in enger Kooperation mit weiteren europäischen und lateinamerikanischen NRO) versucht, thematisch ähnliche Seminarvorschläge zusammenzufassen. Dort wo das gut lief, kamen Gruppen aus unterschiedlichen Ländern und politischen Zusammenhängen zusammen und führten produktive Debatten. Häufig war es leider aber auch so, dass die Zusammenlegung nur eine Vervielfachung der Zahl der RednerInnen bedeutete, denn jede beteiligte Organisation wollte natürlich eine Rednerin/einen Redner stellen, egal ob sie etwas Neues zu sagen hatten oder nicht.

Auf den Foren und Großveranstaltungen standen die Perspektive nach den linken Regierungsübernahmen in einigen Ländern im Mittelpunkt vieler Redebeiträge. In Wiederholung alter Schwächen der Solidaritätsbewegung feierte die Projektion eigener Hoffnungen und Erwartungen auf soziale Prozesse in Lateinamerika ein fröhliches Comeback. Gesprochen wurde fast nur über die Länder, wo es anscheinend gut läuft, wo die Regierungen tatsächlich Alternativen jenseits des Neoliberalismus anstreben, konkret Venezuela und Bolivien. Über die ernüchternden Erfahrungen mit der Regierungspraxis linker Organisationen bzw. Bündnisse etwa in Brasilien oder Uruguay wurde kaum diskutiert. Dabei wäre es höchst wichtig, sich diese Entwicklungen – an denen immerhin die bestorganisierten linken Parteien des Kontinents beteiligt sind – zu analysieren und zu kapieren, warum da so vieles schief läuft. Mehrfach beschworen RednerInnen Allianzen der sozialen Bewegungen Europas und Lateinamerikas mit den Regierungen Boliviens, Cubas und Venezuelas. Auf den Podien widersprachen nur wenige derartigem Ansinnen, am deutlichsten João Pedro Stedile von der brasilianischen Landlosenbewegung MST. Der betonte die Autonomie der sozialen Bewegungen und machte am Beispiel seiner Bewegung klar, dass sie in dieser Stärke sicher heute nicht mehr existieren würde, wenn sie in den neunziger Jahren der Verlockung erlegen wäre, sich zum Anhängsel der Arbeiterpartei PT zu machen. Kaum präsent auf den Podien und dem Seminarprogramm, aber wie immer über ihre gut organisierten Netzwerke gegenwärtig und aktionsfähig, waren die internationalen zapatistischen Zusammenhänge. Wo es keine Räume gab, setzte man sich halt auf dem Vorplatz der Wiener Stadthalle zusammen, um spontan eine ansehnliche Kundgebung zur polizeilichen Gewaltorgie in San Salvador Atenco zu organisieren, als Mexikos Präsident Fox mit Gefolge zu einem Essen bei Österreichs Bundespräsidenten Fischer vorfuhr.

Zur großen Abschlussveranstaltung in der Wiener Stadthalle mit Joao Pedro Stedile, José Bové, dem cubanischen Außenminister Carlos Lage sowie den Präsidenten Evo Morales und Hugo Chávez hatte nur Zutritt, wer vorher eine der 1300 Einlasskarten ergattert hate, alle anderen mussten draußen bleiben und konnten der Übertragung nur über Lautsprecher lauschen. Während Lage und Chávez im Wesentlichen die bekannten antiimperialistischen Positionen und ihre Kritik an den USA zum Besten gaben (Chávez machte das zweieinhalb Stunden lang, was nicht wenige im Publikum als Zumutung empfanden), hinterließ Evo Morales in seiner eher kurzen Rede mit seinem konkreten Diskurs und seinem bescheidenen Auftreten bei den meisten ZuhörerInnen einen nachhaltigen Eindruck. Ihm nahm man ab, dass er und seine Regierung es ernsthaft versuchen wollen, eine Politik jenseits des Neoliberalismus zu realisieren. Ihm bleibt auch gar nichts anderes übrig, denn seine Basis – auch das machte er deutlich – erwartet genau das von seiner Regierung und fordert es auch nachdrücklich ein. Denn der Unterschied zu Cuba und Venezuela sei, so Morales, dass er als Vertreter der sozialen Bewegungen an die Regierung gekommen und diesen auch verantwortlich sei.

Bei mir hinterließen die Veranstaltungen in Wien einen zwiespältigen Eindruck. Eindeutig positiv war, dass schon lange nicht mehr, vielleicht nie zuvor, in Europa so viele Leute zusammen gekommen waren (an den Alternativveranstaltungen haben über 3000 Leute teilgenommen), um über Lateinamerika bzw. die Solidaritätsarbeit mit den dortigen Emanzipationsprozessen zu diskutieren. Faszinierend war auch, dass es wohl noch nie in der Geschichte der Solibewegung ein solch internationales Treffen gab. Meiner Schätzung nach waren etwa die Hälfte der TeilnehmerInnen aus Österreich, mindestens zehn Prozent kamen aus Lateinamerika, dazu gab es große Gruppen aus Italien, Frankreich, der BRD, der Schweiz, Großbritannien, aber auch aus der Ukraine und der Russischen Föderation. Problematisch fand ich die allzu euphorische Bezugnahme auf die Regierungen Venezuelas und Boliviens. Natürlich ist es gut, wenn nach zwei Jahrzehnten neoliberaler Umverteilung mit Evo Morales endlich ein lateinamerikanischer Regierungschef verlangt, dass die Unternehmen der Öl- und Gasförderung mehrheitlich in staatlichem Besitz bleiben müssen. 

Aber nach allen historischen Erfahrungen muss doch klar sein, dass damit die Fragen erst beginnen. Wie kann erreicht werden, dass Unternehmen nicht nur verstaatlicht, sondern auch vergesellschaftet werden? Wie kann verhindert werden, dass sich eine Staats- oder Parteienbürokratie die Unternehmen aneignet? Was sind die Voraussetzungen einer demokratischen Kontrolle der Produktion und der Verwendung der Gewinne? Und was bedeutet überhaupt demokratische Kontrolle? Nur die der Beschäftigten, oder auch anderer Gruppen, deren Leben durch die Unternehmen geprägt wird? Wie können öffentliche Unternehmen wirtschaften, ohne die Umwelt zu zerstören? Kann man gewaltige Gaspipelineprojekte als Ausdruck neuer politischer und ökonomischer Autonomie Südamerikas abfeiern, oder muss man sie nicht eher als ökologischen Wahnsinn bekämpfen? Derartige Fragen wurden mir zu selten gestellt, aber genau damit müssen wir uns auseinandersetzen, wenn wir als Solidaritätsbewegung und Linke wieder in die politische Offensive kommen wollen. Wenn wir das nicht tun, sondern uns nur an der kämpferischen Rhetorik linker Regierungschefs in Lateinamerika erfreuen, dann wäre die spürbare neue Dynamik in der Solidaritätsbewegung nur eine rückwärtsgewandte Aufbruchstimmung, wie es ein langjähriger Aktivist der Bewegung nachdenklich formulierte.