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Das Viertel wird zum Protagonisten

Neuer Krimi aus Cuba

„Ein Bolero für den Kommissar“ heißt der Roman von Lorenzo Lunar Cardedo (geb. 1958 in Santa Clara), mit dem der Innsbrucker Haymon Verlag einen neuen cubanischen Autor und weiteren Vertreter des cubanischen Neokrimis auf dem deutschsprachigen Buchmarkt einführt. Dies mit einer gelungenen Übersetzung, die den umgangssprachlichen Ton und die direkte, schnelle Sprache des Originals respektiert und die, was bemerkenswert ist, als Gemeinschaftswerk von Studierenden der Romanistik an der Universität Innsbruck besorgt wurde.

Klaus Jetz

Der Kriminalroman kann im revolutionären Cuba auf eine lange, wenn auch durchbrochene Tradition zurückblicken. In den bleiernen 70er Jahren, als viele Intellektuelle gegängelt und verfolgt wurden (Padilla-Affäre) und die Kommunistische Partei das künstlerische Schaffen bestimmte, entstanden, sozusagen auf künstliche Art und Weise, viele Kriminal- oder Spionageromane von linientreuen Autoren. Leonardo Padura (Havanna 1955), der in Deutschland in den letzten Jahren durch seine vier Krimis der Havanna-Tetralogie bekannt wurde, beschreibt diesen Vorgang mit diesen Worten: „So wurden vor allem zwei literarische Gattungen gefördert: Kriminalroman und Kinderliteratur, also didaktische Gattungen par excellence. Im Märchen besiegt der Held, der Prinz, das Böse, das Monster. Im Kriminalroman legt der gute Polizist dem Verbrecher das Handwerk.“

Viele dieser die Welt in schwarz und weiß zeichnenden Thriller und Politkrimis mit gesellschaftspolitischer Funktion, deren Entstehung durch Wettbewerbe und Preise des Innenministeriums gefördert wurden, erschienen auch in deutscher Übersetzung (etwa Romane von Alberto Molina oder Luis Rogelio Nogueras). Man schrieb ihnen eine bedeutende Rolle in der Verbrechensbekämpfung und der Bewusstseinsbildung des Volkes zu. Ende der 80er Jahre aber verschwand diese Art von Kriminalroman, Autoren wie Daniel Chavarría, Leonardo Padura oder eben Lorenzo Lunar Cardedo traten mit neuen Werken in den Vordergrund. Sie schrieben Romane, in denen sie zwar Elemente der Kriminalliteratur, aber auch andere, die cubanische Realität reflektierende Themen aufgriffen. So schufen sie eine völlig neue Gattung, den cubanischen Neokrimi. In diesen Romanen, so auch in „Ein Bolero für den Kommissar“, werden die gesellschaftlichen Veränderungen der vergangenen zwanzig Jahre kritisch beleuchtet, unbequeme Themen wie Korruption, Vetternwirtschaft, steigende Kriminalität und Drogenhandel werden keineswegs ausgeblendet. Die Autoren zeichnen ein kritisches Bild der cubanischen Wirklichkeit, sie leben im Land, ihre Werke erscheinen in Cuba und in Spanien, werden rezensiert und prämiert. In ihrer Offenheit und Ungezwungenheit und nicht zuletzt durch die Nonkonformität und Kreatürlichkeit der Charaktere unterscheiden sich diese neuen Krimis wohltuend vom didaktischen Kriminalroman der 70er Jahre. 

In Lunar Cardedos „Ein Bolero für den Kommissar“ stehen nicht ein Verbrechen und die Auflösung eines Falles im Mittelpunkt. Der Mord an Cundo, einem alten Freund und Saufkumpan des Hauptkommissars Leo Martín, spielt eigentlich nur am Rande eine Rolle. Das Verbrechen wird sozusagen verpackt in eine schonungslose Darstellung der Wirklichkeit, konkret der Verhältnisse in einem Randviertel der Provinzstadt Santa Clara. Jeder kennt jeden und weiß alles über seine Nachbarn in diesem Mikrokosmos, der von Gaunern, Prostituierten, Schiebern und korrupten Beamten bevölkert wird, die aber allesamt nur Randfiguren darstellen. Das Viertel selbst wird neben dem Ich-Erzähler, Hauptkommissar Leo Martín, zum Protagonisten, „es formt dich, schüttelt dich durch, macht dich fertig und zermalmt dich, macht aus dir entweder einen echten Mann oder einen totalen Versager.“ Das Viertel wird zum „Ungeheuer mit tausenden unsichtbaren Fangarmen. Und über diese Tentakel verbreiten sich die Neuigkeiten schneller als über das Radio.“

Leo Martín, der Kommissar aus der Provinz, ist so etwas wie das Gegenstück zu Mario Conde aus Havanna, der von Leonardo Padura erschaffenen Romanfigur. Wie der muss auch Leo Martín am Ende resignieren. Er scheitert an den Verhältnissen, die der Autor sozusagen den offiziellen Parolen entgegenstellt. Zwar gelingt es ihm, den Mörder seines väterlichen Freundes auszumachen und den Fall aufzuklären. Doch das Verbrechen bleibt straffrei und ohne Folgen, alles wird weitergehen wie bisher, weil hinter dem Mörder ganz andere niederträchtige und korrupte Figuren stehen, die die Strippen ziehen und andere für sich die Drecksarbeit erledigen lassen. Und gegen die kommt auch Hauptkommissar Leo Martín nicht an.

Lorenzo Lunar Cardedo, Ein Bolero für den Kommissar, Haymon Verlag, Innsbruck 2006, 166 S., 17,90 Euro