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Die zwei Zeiten der Revolution

John Holloways Texte über die Zapatistas
Gerald Raunig

Vier Jahre nachdem John Holloways Buch „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“ in der deutschen Fassung (Verlag Westfälisches Dampfboot) herausgekommen ist, erscheint nun eine Sammlung seiner Aufsätze über die Zapatistas beim Wiener Verlag Turia+Kant. Der Band umfasst sieben Texte, die der in Puebla lebende und lehrende Sozialwissenschaftler im Laufe der letzten zehn Jahre geschrieben hat. Über diese lange Strecke lässt sich die Entwicklung sowohl der von Holloway kompetent und empathisch begleiteten zapatistischen Praxis als auch jene der Theorieproduktion Holloways anschaulich verfolgen. Konzepte und Begriffsfelder wie jenes der Masken, der „Politik der Würde“, des „urbanen Zapatismus“, des gehorchenden Befehlens (mandar obedeciendo) oder des fragenden Voranschreitens (preguntando caminamos) sind zwar aus dem lakandonischen Urwald um die Welt und in alle möglichen aktivistischen und theoretischen Zusammenhänge eingegangen, bedürfen aber in vielen Fällen weiterer Vertiefung und Rekontextualisierung in den politischen Zusammenhängen in Chiapas und Mexiko.

John Holloway leistet diese Vertiefung der zapatistischen Politik ausgehend vor allem von der Konzeptualisierung zweier Formen der Macht, der power-over (der instrumentellen Macht) und der power-to-do (der kreativen Macht). Diese Zweiteilung, die in anderen Theorien als Differenz von potentia und potestas, von konstituierender und konstituierter Macht eingeführt worden ist, scheint zwar im theoretischen Widerspruch zu poststrukturalistischen Überlegungen Foucaults und anderer über die unauflösbare Verstricktheit von Macht und Widerstand. Bei interessiertem Zusammenlesen lassen sich die beiden Theoriestränge jedoch auch als komplementär verstehen. Holloway scheint jedenfalls weit von der Repressionshypothese entfernt, die Foucault in den 1970ern attackiert hat. Bis zu einem gewissen Grad überbrückt er sogar die Kluft zwischen marxistischen Theorien und der französischen Gegenwartsphilosophie, besonders augenfällig in der häufigen Verwendung von eher poststrukturalistisch geprägten Begriffen wie „Ereignis“ und „Intensität“.

Die Stelle, an der die Theoriebildung Holloways die staatskritische Debatte am effektivsten weiterentwickelt, ist wohl die titelgebende, die „zwei Zeiten der Revolution“. Wird Kapitalismus als Dauer verstanden (je nachdem als ewige oder zumindest als lange Dauer), so beschreiben herkömmliche Revolutionstheorien die Revolution als Bruch (die diese lange Dauer des Kapitalismus unterbricht). Wenn Holloway dagegen von zwei Zeiten der Revolution spricht, meint er damit neben der Zeitlichkeit des Risses, des Ereignisses, des „Ya Basta!“ jene einer Dauer, die auf dem Terrain des Kapitalismus entsteht, aber gegen ihn gerichtet ist oder über ihn hinausreicht. Die geduldige Konstruktion einer anderen Welt, anderer Formen der sozialen Beziehungen ist für Holloway gerade im Hier und Jetzt, auf der Immanenzebene zu erproben, im globalen Zusammenfügen von Prozessen kollektiver Selbstbestimmung, Räten und Versammlungen: „Eine neue Welt“, „ein neuer Kommunismus“ wachsen „in den Spalten oder Lücken des Kapitalismus und gegen ihn“. Die Ungeduld des Bruchs, des Ereignisses und die revolutionäre Geduld der konstituierenden Macht (wie Antonio Negri das wohl nennen würde) sind nicht auf einer Zeitlinie voneinander zu trennen, sondern gleichzeitige Phänomene, die als komplementäre Komponenten einer revolutionären Maschine zu verstehen sind – oder auch Komponenten einer revolution. revolution mit kleinem r, wie Subcomandante Marcos und mit ihm Holloway die Vielheit der mikro- und makropolitischen sozialen Kämpfe benennen. 

Auf der Ebene der Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitlichkeiten der Revolution Negri nicht unähnlich, unterscheidet sich Holloways Konzept der revolution allerdings dadurch, dass Widerstand und Aufstand darin nicht explizit unterschieden sind. Negri spricht von einer Dreiheit, deren Komponenten Widerstand, Aufstand und konstituierende Macht nicht in linearer Abfolge, sondern in ständigem Austausch befindlich zu verstehen sind. In Holloways Begriff von „Riss“ und „Ereignis“ verschwimmen die kleinen Brüche alltäglicher Widerstände mit jenen der massenhaften Insurrektion. 

Der Soziologe Jens Kastner, der die Texte Holloways aus dem Spanischen und Englischen übersetzt hat, stellt den zwischen Theorieproduktion und Praxisreflexion abwechslungsreich changierenden Aufsätzen in seiner kritischen Einleitung nicht nur eine kurze Geschichte des zapatistischen Aufstands und der zapatistischen Praxis von 1994 bis heute voran, er kontextualisiert zugleich diese Geschichte und ihre Aufarbeitung durch Holloway in ihrer deutschsprachigen Rezeption. Und Kastner zeichnet als Draufgabe auch noch zwei Linien nach, die bei Holloway nur implizit, unterirdisch vorkommen: einerseits die Nähe der zapatistischen Politik zur Genealogie der nicht-essenzialistischen Strömungen des Anarchismus, andererseits den Zusammenhang mit den minoritären Praxen um 1968.

John Holloway: Die zwei Zeiten der Revolution. Würde, Macht und die Politik der Zapatistas. Aus dem Englischen und Spanischen übersetzt und eingeleitet von Jens Kastner, Turia+Kant: Wien 2006, 110 Seiten, 10,- Euro