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Hintergründe zur aktuellen Lage

Sammelband zur politischen und sozialen Entwicklung Boliviens
Stefan Silber

Bolivien ist seit der Wahl von Evo Morales zum Präsidenten Gegenstand internationaler Aufmerksamkeit geworden. Erfreulich ist daran besonders, dass diese Aufmerksamkeit einmal nicht sozialen Unruhen, drohendem Bürgerkrieg und schweren gesellschaftlichen Gegensätzen gilt, wie das in den Jahren zuvor häufig der Fall war, sondern der Tatsache, dass ein indigener Sozialist mit überwältigender Mehrheit demokratische Wahlen für sich entschieden hat. Die enge Anlehnung der neuen bolivianischen Regierung an Venezuela und Cuba, die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung und die im Ausland weithin gelassen aufgenommene Verstaatlichung der Erdgasreserven deuten auf einen deutlichen, demokratisch gewollten Umbau des bolivianischen Staates hin. 

In diesem Kontext stellt das Buch von Franziska Bopp und Georg Ismar viele Hintergrundinformationen und Analysen zur aktuellen Lage in Bolivien zur Verfügung. Einen Monat vor der Wahl, im November 2005, hatte die Kölner Fachschaft Regionalwissenschaften Lateinamerika zu einer internationalen und interdisziplinären Fachtagung über Bolivien eingeladen. In diesem Band werden nun nicht nur die nach der Wahl aktualisierten Vorträge dokumentiert, sondern darüber hinaus weitere Beiträge abgedruckt, die sich mit der aktuellen Lage in Bolivien befassen. Es ist ein vielfältiges, interessantes und weithin gut lesbares Buch entstanden, das nicht nur informativ und fachkundig aus der Perspektive verschiedener Disziplinen Bolivien in den Blick nimmt, sondern auch die Vielfalt und teilweise Gegensätzlichkeit der Meinungen über Bolivien dokumentiert. Zahlreiche Doppelungen und Wiederholungen, gerade angesichts des historischen Wahlausgangs, sind dabei wohl unvermeidlich und werden im Vorwort auch konzediert. Auch dass letztlich viele Fragen offen bleiben, liegt in der Natur der Sache eines solchen aktuellen Bandes, wenn die Situation selbst offen ist. 

Nach dem Vorwort und einem sehr fachkundigen „Einleitenden Überblick“ von Ismar gliedern sich 19 Beiträge eher lose in die drei Kapitel: „Politisches System“, „Wirtschaft und Gesellschaft“ und „Internationaler Kontext“. Während im ersten Kapitel die Politikwissenschaftler vorherrschen, treten im zweiten Kapitel Fachleute aus Ethnologie, Pädagogik, Geographie und Sozialwissenschaften auf. Zwei Interviews mit VertreterInnen verschiedener politischer Richtungen in der bolivianischen Urbevölkerung verleihen diesem Kapitel einen sehr interessanten Originalton. Im dritten Kapitel beleuchten Fachleute aus Politik- und Regionalwissenschaften, aus der Diplomatie und der Entwicklungszusammenarbeit wichtige Einzelaspekte vor allem der Auslandsbeziehungen Boliviens. Der internationale Charakter des Buches wird mit dem Abdruck je eines Beitrags in englischer und in spanischer Sprache sowie der beiden spanischsprachigen Interviews unterstrichen. 

Es ist erfreulich, dass viele jüngere AutorInnen zu Wort kommen. Die Beiträge von Studierenden stehen in ihrer Qualität nicht selten weit über denen von Autoren aus der akademischen Hierarchie (man vergleiche zum Beispiel die unvoreingenommene und sachliche Studie von Jörg Husar mit den weniger aussagekräftigen Überlegungen von Heinrich Pachner). Es fällt außerdem auf, dass politische Voreingenommenheit auch im universitären Kontext Diskurse prägen kann, die sich wissenschaftlich gerieren, wie Günther Maihold und Stefan Jost allzu anschaulich vorführen. 

Trotz der Vielfalt der Perspektiven stellen die verschiedenen Beiträge leider keine echte Interdisziplinarität her. Immerhin zeigen sich einige AutorInnen wie Juliana Ströbele-Gregor umfassend informiert und an einem Austausch vieler Perspektiven interessiert, um der komplexen Wirklichkeit Boliviens gerecht zu werden. Viele Beiträge setzen sich nur innerhalb eines Themenbereichs mit ihrem Gegenstand vertieft auseinander. Manche inhaltlichen Aspekte und Perspektiven werden auch darüber hinaus trotz des eindrucksvollen Buchumfangs weitgehend ausgeblendet. Es fehlen u. a. Analysen der Bedeutung von Kirchen und Religionen in Bolivien. Ebenso die Problembereiche Tourismus, Migration und Ökologie sowie die Rolle der Frauen in verschiedenen sozialen Kontexten. Auch der aktuelle Konflikt zwischen den östlichen und westlichen Regionen des Landes wird nur unzureichend analysiert. 

Die Stärken des Buches liegen in der Analyse der gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Lage Boliviens. Vor allem die Aufarbeitung der letzten zwanzig Jahre, in denen Bolivien zu Unrecht in den Ruf eines Modelllands für demokratische und wirtschaftliche Entwicklung gelangt war, macht seine Lektüre interessant und wertvoll. Wer sich mit der aktuellen Situation Boliviens befassen will, findet hier nicht nur eine gute Einführung, sondern auch Stoff zur Vertiefung und Diskussion zahlreicher Themen.

Franziska Bopp/Georg Ismar (Hg.) Bolivien - Neue Wege und alte Gegensätze,  Lateinamerika im Fokus (LatiF) Hrsg. von der Fachschaft Regionalwissenschaften Lateinamerika an der Universität zu Köln Band 3, 2006, 569 Seiten 30,- Euro