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Televisa rächt sich

Eine der kritischsten Stimmen im mexikanischen Radio wird zum Schweigen gebracht

Im KollegInnen- und Freundeskreis stellten wir uns die Frage in den vergangenen Jahren häufiger: Wie lange wird es Carmen Arístegui noch erlaubt, hinter dem Radiomikrofon zu sitzen? Anfang Januar war die Frage beantwortet. Weil sie sich weigerte, inhaltlichen Einfluss von außen auf ihr vierstündiges Morgenmagazin mit dem Titel Hoy por hoy (etwa: „heute aktuell“) im Sender W Radio zu akzeptieren, wurde ihr auslaufender Vertrag kurzfristig nicht verlängert. Praktisch von einem Tag auf den anderen verstummte ihre Stimme. Seitdem reißt die Diskussion um den Fall nicht ab. Abgeordnete aller Parteien äußern sich zu der faktischen Entlassung, die angesehene mexikanische Wochenzeitschrift proceso widmete Arístegui eine Titelgeschichte, in den Zeitungen und im Internet kursieren Tausende von Protestadressen.

Gerold Schmidt

Kritische und gute JournalistInnen gibt es in Mexiko eine ganze Menge. Meistens fristen sie deswegen ein geduldetes Nischendasein, oft sind sie Schikanen und Drohungen bis hin zum Mord ausgesetzt (vgl. ila 308, S.34). Doch Ariístegui war ein Sonderfall. Morgen für Morgen informierten sie und ihr Team an exponierter Stelle in einem Sender, an dem zu 50 Prozent der mexikanische Medienriese Televisa und zu 50 Prozent der spanische Konzern PRISA, der unter anderem die Tageszeitung El País herausgibt, beteiligt sind. Als Arístegui vor fünf Jahren zu W Radio geholt wurde, war das eine strategische Entscheidung der Kommunikationsunternehmen. Televisa, letztlich immer in der Nähe zur Macht, wollte im Rahmen einer vorgetäuschten „Öffnung“ seinen vor sich hin dümpelnden Radiosender attraktiver machen. PRISA beabsichtigte über die Allianz mit Televisa einen Fuß in den mexikanischen Medienmarkt zu bekommen. Für den frischen journalistischen Wind sollte Arístegui sorgen. Wohl wissend, bei Televisa nicht gerade auf den Hort der freien Meinungsäußerung gestoßen zu sein, ging sie das Risiko des eigenen Glaubwürdigkeitsverlustes ein. Um diesen zu verhindern, sicherte sie sich durch Vertragsbestimmungen ab, die ihr für die inhaltliche Gestaltung der Sendung freie Hand ließen.

Anfangs ging die Rechnung für alle Beteiligten auf. Innerhalb kurzer Zeit stiegen immer mehr morgendliche RadiohörerInnen zwischen 6 und 10 Uhr auf Hoy por hoy um. Bald erreichte kein anderes Morgenmagazin ein so hohes Rating wie die von Carmen Arístegui geführte Sendung. Ihr souveräner Umgang mit der Sprache, aber noch viel mehr ihre unbestechliche Beharrlichkeit in Interviews und die Verfolgung wichtiger Themen mit einer oft über Wochen laufenden Hintergrundberichterstattung hoben ihr Programm weit über das Niveau der vergleichbaren Sendungen im mexikanischen Kommerzfunk. Manchmal war es förmlich aus dem Radiolautsprecher heraus zu hören, wie ihre Gesprächspartner sich beherrschen mussten, wenn die Journalistin sie stets freundlich, bestens informiert und mit scheinbar unverfänglichen Fragen vorführte und Lügengeschwätz bloßstellte. Ein Beispiel dafür waren ihre Interviews zur Polizeirepression im Dorf San Salvador Atenco im Mai 2006. Doch kaum ein Politiker konnte es sich leisten, ein Gespräch mit Arístegui einfach zu verweigern. Wichtige Organisationen und Initiativen der Zivilgesellschaft, woanders ignoriert, bekamen bei ihr eine Stimme. Doch auch sie mussten stets mit kritischen und unangenehmen Nachfragen rechnen.

Allerdings wuchs der Unmut über die Unabhängigkeit der Sendung in den verschiedensten Machtzirkeln immer mehr. Die Berichterstattung über die Deckung Kinder schändender Priester durch den mexikanischen Kardinal Norberto Rivera, über die aktive Einflussnahme der Unternehmerspitzen zugunsten des konservativen Kandidaten Felipe Calderón im Präsidentschaftswahlkampf 2006, über die mutmaßliche Vergewaltigung mit Todesfolge einer alten Indígena-Frau durch Soldaten, über die Bedrohung der Journalistin Lydia Cacho, die in einem Buch hochrangige Politiker und wichtige Unternehmer mit einem Kinderpornographie-Ring in Verbindung brachte, verschafften ihr Respekt und viele Feinde. Der Oppositionspolitiker Manuel Camacho schreibt zum Ansehen der Journalistin bei der Regierung etwas, was auch für die Beziehung zu anderen Machtgruppen gelten kann: „Die kritische Linie des Programmplatzes von Carmen Arístegui war letztlich extrem unbequem; vielleicht weil sie eher liberal als radikal war und dadurch zu einer breiten Gesellschaftsschicht Zugang fand.“

Innerhalb des überwiegend volksverdummenden Televisa-Programmes erwies sich die Arístegui-Sendung immer mehr als Fremdkörper. Die Breitenwirkung, die Televisa mit Hoy por hoy gesucht und dank Arístegui erreicht hatte, wurde spätestens dann zum Boomerang für den Mediengiganten, als die Journalistin den KritikerInnen des sog. Ley Televisa (vgl. ila 308, S.15ff) breiten Raum in ihrem Programm gab. Das von Televisa-Juristen für die eigenen kommerziellen Bedürfnisse maßgeschneiderte Gesetz wurde nach seiner Verabschiedung im mexikanischen Kongress in wesentlichen Teilen vom Verfassungsgericht gekippt. Im Zuge einer in der neuen Legislaturperiode verabschiedeten Wahlreform wird zudem vor allem die Parteienwerbung in Fernsehen und Radio drastisch beschnitten und damit die Einnahmeoptionen der Medienkonzerne. Während die Konzerne mit Televisa an der Spitze das bis heute als Einschränkung der Meinungsfreiheit verkaufen wollen, legte Arístegui sowohl beim Ley Televisa als auch bei der Debatte um die Wahlreform die dahinter stehenden ökonomischen Interessen schonungslos offen und machte sich damit endgültig zur Nestbeschmutzerin. 

Schon im Oktober 2006 hatte Televisa die Fernsehübertragung des Radioprogramms über den Paysender Sky abrupt wegen „technischer Fehler“ eingestellt. Damals war das für viele BeobachterInnen der erste deutliche Zensurversuch. Doch lange Zeit bekam Carmen Arístegui Rückendeckung von der PRISA-Gruppe. Dem spanischen Konzern, der sich gerne mit dem Image einer „modernen“ linksmoderaten Haltung schmückt, passte eine Entlassung Arísteguis nicht ins Konzept, obwohl der wachsende Unmut Televisas über die Journalistin nach verschiedenen Quellen mehrfach zu Spannungen führte. Änderungen in der Personalpolitik von PRISA, die unter anderem die Untervertragnahme eines Schwagers des mexikanischen Präsidenten Calderón einschlossen, führten schließlich in den vergangenen Monaten offenbar zur Wende. Offiziell gab es über das „neue Modell“ mit mehr kommerzieller Orientierung, das Televisa und PRISA bei ihren verschiedenen Kollaborationen im Medienbereich einführen wollen, keine Einigung mit Arístegui. Dass es darum ging, eine unliebsame Stimme loszuwerden, weisen die Medienkonzerne weit von sich.