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Humorlosigkeit hat den deutschen Sozialismus kaputtgemacht

Exil in der DDR: Omar Saavedra Santis

Nach dem Putsch der Militärs im September 1973 floh Omar Saavedra Santis wie Zehn­tausende seiner Landsleute aus seinem Heimatland Chile. Aus der chilenischen Hafenstadt Valparaíso kommend, fand er nach einigen Zwischenstationen schließlich Zuflucht in der ostdeutschen Hafenstadt Rostock. Dort entwickelten die chilenischen Flüchtlinge umfangreiche kulturelle Aktivitäten, u.a. kam es zur Gründung einer professionellen spanisch­sprachigen Theatergruppe, die kritisches chilenisches und lateinamerikanisches Theater auf die Bühne des Volks­theaters Rostock brachte. 1993 lebt Omar Saavedra immer noch in Rostock. Allerdings hat sich seit 1975 vieles verändert. Das Land, das ihm Asyl gewährte, existiert nicht mehr, der Name der Stadt, in der er lebt, ist seit den rassistischen Gewalt­aktionen im vergangenen Jahr zu einem Symbol für Haß und Unmenschlichkeit im wiedervereinigten Deutschland geworden. Im folgenden Interview berich­tet­ Omar Saavedra Santis über seine Exilzeit in der DDR, über sein Erleben der Wende und seine Erfahrungen mit den Deutschen.

Gert Eisenbürger

Sie sind 1974 als politischer Flüchtling von Chile in die DDR gekommen. Warum mußten Sie aus Chile weg, und wie wurde die DDR Ihr Exilland?

Ich bin aus Angst vor dem Faschismus in Chile ins Exil gegangen, ich war 1973 Chefredakteur der linken Tageszeitung „El Popular“, einer Provinzzeitung in Valparaíso. Im Grunde genommen war damals in Chile jeder gefährdet, nicht nur die Linken, sondern jeder denkende Mensch, der mehr oder weniger verdächtig war, etwas zu denken oder anders zu denken als die Militärs. Möglicherweise wäre mir überhaupt nichts passiert, aber dieses Risiko wollte ich nicht eingehen. Brutalität ist nicht beschreibbar, Brutalität ist nur zu erleben, die Brutalität, die ich nach dem Putsch erlebt hatte, hat mich bewogen, die Flucht zu ergreifen. Daß ich in die DDR kam, war mehr ein Zufall. Ich war zuerst etwa ein Jahr in Belgien, und dann bot sich die Möglichkeit, nach Berlin zu gehen, d.h. ich glaubte nach Berlin, letztendlich war es dann Karl-Marx-Stadt – heute heißt es Chemnitz – und dann schließlich Rostock. Nach Rostock kam ich aus beruflichen Gründen, am dortigen Volkstheater gründete sich eine feste chilenische Schauspieltruppe. Wir kannten uns alle, wir hatten in Santiago Schauspiel studiert und haben dann in der DDR dieses Theater neu gegründet. Wir haben dort mehrere Jahre als festes Ensemble gespielt, in spanischer Sprache. Das war kurzgefaßt mein Weg in die Emigration, es war keine Heldentat, in die Emigration zu gehen, das ist niemals eine Heldentat, aber eine Bürgertat.

Wieviele chilenische Flüchtlinge sind nach 1973 aus Chile in die DDR gekommen?

Das weiß ich nicht genau, aber ich schätze so ungefähr 2000.

Was haben Sie dann beruflich in der DDR gemacht bzw. was machen Sie heute?

Ganz am Anfang habe ich als Dreher in einem Schraubenkombinat gearbeitet, das war der erste Schritt. Dann habe ich mich, wie gesagt, in Rostock in diese Schauspieltruppe integriert. Da waren wir fest angestellt, engagiert am Volkstheater, und danach habe ich angefangen zu schreiben. Dieses „Ich habe angefangen zu schreiben“ bedeutet, daß ich in der DDR die Schriftstellerei ernsthaft begonnen habe. In Chile habe ich auch geschrieben, aber zu meinem Beruf habe ich die Schreiberei erst in der DDR gemacht. Ich hatte dort die Zeit, und ich mußte auch schreiben, weil ich überleben wollte, es war eine Überlebensfrage...

...eine psychische Überlebensfrage...

...ja, sonst wird man verrückt im Exil, vor allem in den ersten 20 Jahren (lacht).

Wie war Ihre Aufnahme in der DDR, sowohl seitens staatlicher Stellen, als auch seitens der Bevölkerung?

In der Regel war die Aufnahme seitens der Bevölkerung gut, und ich würde sagen, die Solidarität mit Chile war damals wirklich eine Herzenssache, wie die SED immer sagte. Es war eine Herzenssache, das habe ich gespürt. Das betone ich auch heute noch. Das heißt nicht, daß die Solidarität generell eine Herzenssache war. Ich habe z.B. mitbekommen, wie die Solidarität mit den arabischen Völkern war – offiziell auch eine Herzenssache – aber das war nicht so, das war eher eine Pflicht­übung, um den Parteitagsbeschlüssen zur Solidarität mit den Völkern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas Genüge zu tun. Die Solidarität mit anderen Völkern gehörte übrigens meiner Meinung nach zu den guten Parteibeschlüssen der SED.

Ein Teil der guten Aufnahme war die bürokratische Freundlichkeit, d.h. das Verhalten der Funktionäre, die uns betreut und uns Wohnungen und Arbeitsplätze vermittelt haben, das Ganze, was in westlichen Ländern die Caritas macht, die Profis eben.

Dann begann sich der Alltag zu gestalten, das war eine andere Sache. Da gab es ganz unterschiedliche Erfahrungen. 1974/75, vor 18 Jahren, haben wir Freunde gewonnen, die bis heute Freunde geblieben sind. Aber das sind wenige, ganz wenige, und das meine ich sehr ernst, ganz wenige, weil es nach der Wende noch weniger Leute waren, die mit uns noch, sagen wir, die alten Beziehungen aufrechterhalten wollten.

Aber es gab auch andere Erfahrungen. Es stimmt nicht, was heute gesagt wird, daß der Rassismus, der heute besonders in den neuen Ländern herrscht, existiert, weil der Ostdeutsche keinen Kontakt mit Ausländern hatte, das ist absolut idiotisch. Natürlich hatten sie Kontakt, und als wir mehr Deutsch konnten, war schon zu sehen, was heute zu erleben ist. „Chilenen raus“ wurde auf das Haus, in dem wir lebten, schon 1974 geschrieben, als die Diktatur in der DDR noch funktionierte. Es gab auch handfeste Konflikte, einige Chilenen wurden verprügelt, aber das war nicht die Regel, im allgemeinen wußte die Diktatur so etwas unter Kontrolle zu halten.

Das gerade Gesagte bedeutet längst nicht, daß alle Emigranten Engel sind. Alle Menschen stehen in der Situation des Exils unter einem anderen Druck, wir funktionieren unter einem anderen Druck plus dem normalen Druck der Arbeit usw. Exil ist eine schwere Zeit, das Leben in der Fremde ist eine sehr aggressive Zeit. Man ist im Exil oder überhaupt im Ausland immer in Selbstverteidigungsposition, immer, zumindest wenn man als Lateinamerikaner hier im zivilisierten Europa ist.

Trotz allem bereue ich meine DDR-Zeit überhaupt nicht, das ginge auch gar nicht, ich kann nicht einfach 18 Jahre meines Lebens wegschmeißen. Wir Emigranten haben allerdings auch nicht unter bestimmten Syndromen gelitten, wie die DDR-Bürger, das gebe ich auch zu.

Welche zum Beispiel?

Die Reisefreiheit z.B., da hatten wir nie Probleme, anfangs wollten sie uns nach DDR-Gesetzen behandeln, aber wir haben gesagt, ihr spinnt wohl. Einige Genossen von uns meinten allerdings, wir müßten machen, was die deutschen Genossen machten – das war wirklich absurd – aber so etwas gab es auch. Betonköpfe gibt es überall.

Aber, Gott sei Dank, ist die Konzeption der Macht bei den Lateinamerikanern anders als die europäische Konzeption von Macht. Diese katastrophale Humorlosigkeit hat den deutschen Sozialismus kaputt gemacht, wirklich. Sie dachten, daß bei ihrem Handeln so etwas Ernstes raus kommt, aber es kamen Erbärmlichkeiten raus. Deshalb hat mich die Wende nicht überrascht. Das war alles schon vorprogrammiert, die Omen der Zeit waren da.

Diese Arroganz der Macht ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Der andere Teil der Wahrheit ist, daß die Mehrheit mitgemacht hat, freiwillig. Die meisten sind brav zu den Mai-Demonstrationen gegangen. Ich bin da nie hingegangen ­– in Chile schon –, aber hier bin ich nur einmal hingegangen, es machte einfach keinen Spaß.

Es herrscht heute in der ehemaligen DDR eine Stammtischpolitik, und ich kenne die sehr gut, die Stammtische, dort waren die DDR-Deutschen groß. Ich bin damals viel in Kneipen gegangen, bin viele Jahre ein Kneipengänger gewesen. Ich bin ein guter Beobachter von Zufällen – eigentlich ist schreiben nichts anderes als die Beschreibung von Zufällen – und dann ist es immer interessant, etwas zu finden. Und da war plötzlich der Politoffizier der Volksmarine auch in so einer bierseligen Runde und hat angefangen zu erzählen, sein Vater war General oder so etwas von der Volkspolizei, und der hätte, wenn er sehr besoffen war, auch zu Hause Nazilieder gesungen oder Sprüche drauf gehabt, wie, wenn wir damals Baku erreicht hätten, hätten wir Erdöl gehabt und dann... Verstehen Sie, und das sage ich sehr behutsam, eine Art Volksbefindlichkeit ist da, eine barbarische Tradition im Denken ist da, das sage ich sehr behutsam, es ist auch sehr gefährlich, weil ich es hier auf Deutsch formuliere, denn deutsch ist so genau.

Das bedeutet nicht, daß ich nicht weiter an die wunderbare Möglichkeit der Utopie glaube. Es existiert kein Grund, nicht weiter an diese Utopie zu glauben. Ich komme aus einem Kontinent, wo mehr denn je gehungert wird, in Deutschland lebt ein Hund besser als die Hälfte der ganzen Bevölkerung Lateinamerikas.

Wissen Sie, was wir heute erleben, das Verschwinden des selbstgenannten Sozialismus betrachte ich nur als eine Krise, als Teil der Krise unserer Zivilisation. Ein anderer Teil ist die ökologische Selbstzerstörung, das sind mehr oder weniger äußere Zeichen dieser Zivilisationskrise.

Ich will noch einmal auf die Aufnahme in der Bevölkerung zurückkommen. Ich habe verschiedene chilenische Bekannte hier in der Bundesrepublik. Die erzählen öfter, daß sie hier sehr viel Ignoranz gespürt hätten. Ignoranz, Vorurteile bis hin zu offenem Rassismus bei breiten Kreisen der Bevölkerung und eine subtile, mitunter sehr verletzende Ignoranz bei uns Linken... (Omar Saavedra lacht)..., eine Überheblichkeit, ein Nicht-Ernst-Nehmen, wo viel von Solidarität geredet wurde, die meistens auch sehr ernsthaft betrieben worden sei, und trotzdem seien sie immer wieder verletzt worden durch die Ignoranz der deutschen GenossInnen. Wie haben Sie das erlebt?

Doch, die Ignoranz ist schon da, aber ich würde sagen, da existiert eine gegenseitige Ignoranz. Ich war schon vor meiner Exilzeit in Europa gewesen, ich hatte in Jugoslawien studiert, hatte also gewisse Erfahrungen, aber allgemein gab es schon einen Mangel an Information, und zwar auf beiden Seiten. Und dieses Informationsdefizit war sicherlich Ursache für Mißverständnisse und gegenseitige Ignoranz.

Ich habe auch Horrorgeschichten von Chilenen über die DDR gehört, die nicht stimmen, das kann ich auch sagen. Einiges mögen Leute subjektiv so erlebt oder empfunden haben, das kann stimmen, aber ich kenne auch einen Fall, wo wirklich Lügen verbreitet wurden, einfach Lügen, die sogar in Chile veröffentlicht wurden. So etwas ist schlimm, um ein ganz deutsches Wort zu benutzen. Solidarität hat auch mit Dankbarkeit zu tun.

Wichtig scheint mir nochmals zu betonen, daß das Exil eine emotional sehr schwierige Zeit ist, und daß Leute negative Empfindungen und Gefühle, die sie in der DDR hatten, genauso oder ähnlich auch gehabt hätten, wenn sie z.B. in Schweden oder Finnland aufgenommen worden wären, und daß Leute, die dort waren, tatsächlich ähnliche Probleme hatten.

Ich muß noch hinzufügen, daß ich, was die Erfahrungen mit Deutschen angeht, sicherlich nicht unbedingt repräsentativ für die Chilenen bin, die in der DDR waren. Ich habe relativ wenig mit Deutschen, aber auch mit anderen Chilenen zu tun gehabt. Das liegt sowohl an meiner persönlichen Zurückhaltung, als auch an meinem Beruf. Ich habe zu Hause gearbeitet, andere Chilenen haben in Fabriken oder in Büros gearbeitet, das ist ein großer Unterschied. Ich habe nie einen „Betriebsausflug“ mitgemacht, oder war nie in einem „sozialistischen Arbeiterkollektiv“. In diesem Sinne sind die Erfahrungen von anderen Chilenen reicher als die meinen.

Ich möchte nun auf Ihre Literatur zu sprechen kommen. Sie haben in der DDR eine Reihe von Theaterstücken, Erzählungen, Romanen veröffentlicht. Wurden die nur in deutsch publiziert oder auch in spanisch?

Einiges in spanisch, aber das wenigste. Am Anfang konnte ich in Chile nicht veröffentlichen, aus den bekannten Gründen, aber später hat sich dieser Kontakt mit Chile langsam wieder etabliert. Theaterstücke von mir sind in Chile aufgeführt worden, und so komme ich allmählich zurück zur Muttersprache. Ich habe furchtbar darunter gelitten, daß meine Bücher nur auf deutsch erschienen sind. Sehen Sie, es ist sicher ein Traum jedes Schriftstellers, daß seine Werke auch einmal übersetzt werden, aber für mich wurde dieser Traum zeitweilig zum Alptraum, da meine Romane immer nur in übersetzter Form publiziert wurden.

Ist keiner Ihrer Romane auf spanisch erschienen?

Keiner, alle nur in deutsch, jetzt kommt wahrscheinlich einer in Chile. In Cuba soll auch einer herauskommen, aber das ist sehr schwierig, weil die Papierlage in Cuba katastrophal ist.

Hatten Sie beim Schreiben das Gefühl, daß Sie nur für deutsches Publikum schreiben...

...nein, nein...

... ich denke, daß ein Autor oder eine Autorin irgendein Publikum vor Augen hat, ich stelle mir vor, daß man für ein deutsches Publikum anders schreibt, Dinge anders erklärt oder anderes voraussetzt, als wenn man für ein chilenisches Publikum schreibt?

Das weiß ich nicht, das hat mit der Haltung des Schriftstellers einem eventuellen Publikum gegenüber zu tun. Ich habe mir nie vorgestellt, wie ein Leser von mir aussehen würde, niemals. Mich interessiert beim Schreiben hauptsächlich, was ich im Moment schreibe. Alles andere ist für mich ziemlich irrelevant. Ob es gelesen wird oder ob es nicht gelesen wird, das ist mir erst einmal egal. Das hat auch mit Arroganz zu tun, aber ich sage, wer mich nicht liest, wird nur ärmer dadurch.

Sehr gelitten habe ich allerdings immer unter den Übersetzungen, zum Beispiel „Felipe kehrt zurück“ ist auf deutsch ein anderer Roman geworden, ein Roman, den ich nicht geschrieben habe. Ich mag die Übersetzerin gern, sie ist eine sehr liebe Frau, aber sie hat in der Übersetzung daneben gelegen.

Haben Sie sich dann nicht mit den ÜbersetzerInnen auseinandergesetzt, haben Sie nicht versucht, auf die Übersetzungen Einfluß zu nehmen?

Nein, nein. Ich bin der Auffassung, daß die Übersetzung nicht mein Bier ist, ich habe das Ding abgeschlossen, und damit war für mich die Sache zu Ende, mehr oder weniger.

Bei jeder Übersetzung gibt es immer einen Verlust an poetischem Gehalt, der poetische Gehalt von einer Sprache zur anderen, es ist immer ein Verlust, egal in welcher Richtung, bei der Übersetzung vom Spanischen ins Deutsche genauso wie vom Deutschen ins Spanische. Nur die Gradierung ist unterschiedlich von Sprache zu Sprache. Das sage ich, weil ich jetzt mehr Deutsch kann als am Anfang und ich jetzt diese Schwierigkeiten begreife. Ich versuche, die Seele der Sprache zu wahren, und das ist schwierig. Ich kenne Chilenen, die hervorragend Deutsch sprechen – viel besser als ich –, und die verstehen weniger Deutsch als ich, das ist eine Frage des Umgangs mit dem Labyrinth des Wortes.

Leider hatte ich keinen ständigen Übersetzer, das war in der DDR sehr kompliziert, in einem solchen Fall entwickelt sich – glaube ich – mit der Zeit eine Bruderschaft von Autor und Übersetzer, z.B. im Fall von Erich Ahrend und Pablo Neruda. Der Ahrend hat dreimal den „Canto General“ übersetzt, er war jeweils mit der alten Übersetzung nicht mehr zufrieden, weil er mit den Jahren der Seele des Dichters näher gekommen war.

In Ihrem zuletzt publizierten Roman „Frühling aus der Spieldose“ (1990) erzählen Sie die tragische Geschichte der Freundschaft zwischen dem zufällig in Nazideutschland gestrandeten chilenischen Seemann Simón und dem kleinen Jungen Leo, einem Halbjuden, den seine nichtjüdischen Großeltern zu Hause verstecken. Mit diesem Buch haben Sie einen Roman über den deutschen Faschismus geschrieben, und zwar über den Alltag des deutschen Faschismus, über den verzweifelten letztlich chancenlosen Versuch von Menschen, das drohende Unheil abzuwenden. Was war die Motivation für Sie, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen und diesen Roman zu schreiben?

Sehr trivial, es war zunächst trivial. Einer meiner Romane „Blonder Tango“, ein „DDR-Roman“, der den DDR-Alltag beschreibt, wurde von der DEFA verfilmt. Dabei hat sich eine gute Zusammenarbeit mit der Dramaturgin Erika Richter ergeben. Sie hat mich gefragt, warum ich nicht mal ein Drehbuch bzw ein Exposé für einen Film machen würde. Ich sagte, ich schriebe lieber ein Buch mit einer Geschichte, und daß andere daraus einen Film machen sollten. Die DEFA war einverstanden, hat mich bezahlt – das war gut in der DDR, ich hatte die Zeit, bezahlte Zeit, zu schreiben, was ich wollte – und dabei ist das Buch entstanden. Das war der äußere Rahmen. Das andere war, daß ich darauf gestoßen bin, daß tatsächlich chilenische Matrosen im Wirrwarr des Krieges zufällig in deutschen Häfen gelandet sind, interniert wurden und viele davon im KZ gestorben sind. Von solchen Schicksalen hatte ich schon in Chile gehört, ich komme aus Valparaíso, einer Hafenstadt, wo viele Geschichten erzählt werden. Als ich einmal im KZ Buchenwald war, sagte mir ein ehemaliger Häftling, der die Besucher dort herumführt, dort seien auch Chilenen inhaftiert gewesen. Das hat mich schon immer interessiert, weil es mir darum geht, die Möglichkeit einer gemeinsamen Sprache zwischen Kulturen zu etablieren, auf Gefühlsebene einen Kontakt zu etablieren. Wir versuchen heute ,Kontakt zu anderen Sternen herzustellen, und wir sind nicht einmal in der Lage, uns hier untereinander zu verstehen. Das ist grotesk. Da versuche ich, mit meiner Literatur anzusetzen, Literatur bewegt nicht viel, aber wenigstens etwas.

Es gibt ja verschiedene Beispiele von exilierten Autorinnen und Autoren, die historische Themen aus ihren Exilländern literarisch verarbeitet haben. Sehr oft sind diese Werke allerdings Allegorien, deren tatsächliche Themen die Problematik und Konflikte in den Heimatländern sind, ich denke etwa an einige Mexiko-Romane B. Travens, wie der Caoba-Zyklus, die im Grunde genommen eine Auseinandersetzung mit dem Faschismus in Deutschland darstellen. In Ihrem Roman „Frühling im Schatten“ habe ich nicht das Gefühl, daß Sie sich darin mit Chile auseinandersetzen, sondern daß Sie sich sehr intensiv auf die deutsche Geschichte eingelassen haben und versuchen, den Alltag des Faschismus – der sicher ein ganz anderer war als der Alltag unter der chilenischen Diktatur – begreifbar zu machen.

Genau wie es eine universelle Kultur gibt, gibt es auch eine universelle Barbarei. Ich sehe keinen großen Unterschied – wahrscheinlich bei der Perfektion könnten wir streiten – zwischen einem SA-Mann und einem unserer Schläger.

Sie haben aber nicht die Schläger beschrieben, sondern den Alltag, und genau darin hat sich der Nationalsozialismus doch sehr stark von den Diktaturen in Lateinamerika unterschieden, die totale Formierung der Gesellschaft, die breite Unterstützung der Barbarei durch die Bevölkerung, die die Ausgrenzung und Stigmatisierung der Opfer in ihrer überwältigenden Mehrheit mitvollzogen hat, das waren doch Merkmale, die die lateinamerikanischen Diktaturen bei aller Brutalität und Menschenverachtung im Vorgehen der Militärs so nicht hatten...

...es ist so, bei uns gab es keinen gewöhnlichen Faschismus wie hier, gab es nicht, ich glaube nirgendwo.

Wie haben Sie es dann geschafft, diese Situation des Alltags im deutschen Faschismus so darzustellen, woher haben Sie Ihre – meiner Meinung nach überzeugenden – Bilder?

Was ich eben schon angedeutet habe, die Deutschen sind alle gute Menschen, die Tragik hier, die deutsche Tragik ist, daß die Verbrechen von guten Menschen begangen werden. In jüngster Zeit, als die Sache mit Rostock passiert ist, die Krawalle, habe ich das wieder erlebt. Ich lebe in Rostock unter guten Deutschen, ich meine das nicht abwertend, sondern das sind keine schlechten Menschen, die grüßen freundlich, sind brav, diszipliniert, arbeitssam, alles was die Tugenden der DDR-Deutschen sind. Wir – meine Frau ist auch Ausländerin, sie ist Lettin, Lettin und Jüdin noch dazu – gehören für sie zu den guten Ausländern. Sie trauen sich, ohne sich etwas dabei zu denken, zu uns zu sagen, das dreckige Pack – gemeint sind die Asylbewerber – müßte weg. Da liegt für mich die Gefahr. Und das ist heute noch deutlicher zu beobachten, viel deutlicher.

Könnte man sagen, daß Sie in dem Roman das Milieu von damals so rekonstruiert haben in der Kenntnis der heutigen Deutschen?

Natürlich, natürlich hat das damit zu tun, sonst wäre das nicht möglich gewesen. Die Typen sind so, es sind nicht damalige Typen, es sind heutige Typen. Die Gespräche sind nicht damalige Gespräche, sondern ich halte sie für heutige Gespräche. Das ist das, was ich erlebt habe.

Sie haben als Autor und Schriftsteller in der DDR gelebt. Das Verhältnis der Autoren und Schriftsteller in der DDR zu ihrem Staat war ja äußerst kompliziert. (Omar Saavedra Santis lacht) Viele Schriftsteller hatten Konflikte. Wie haben Sie das erlebt, waren Sie der Ausländer, den das alles nichts anging, oder waren Sie beteiligt, ich meine jetzt nicht real, sondern emotional?

Das hat mich einen Dreck interessiert, muß ich sagen. Ich war natürlich oft sauer und habe meinen Verlegern auch immer gesagt, Ihr seid wirklich blöd, bestimmte Leute nicht zu verlegen, das ist einfach blöd. Aber sie wußten das selber, es war nicht so stromlinienförmig wie hier jetzt immer gesagt wird, aber es war diese Selbstzufriedenheit, sie wollten sich kein Problem machen. Ich war kein DDR-Schriftsteller. Das wurde mir allmählich bewußt, z.B. als ich „Der blonde Tango“ schrieb, das war 1982, vor 10 Jahren. Da sagt z.B. in einer Szene eine der Figuren, in diesem Land verwechselten viele Leute Leninismus mit Karrierismus, oder es gibt verschiedene deutliche Szenen über diesen DDR-Alltag und auch den Alltag der Chilenen in der DDR. Wenn ein DDR-Autor das geschrieben hätte, wäre er nicht ohne weiteres publiziert worden.

Meine Beziehung zum Verleger war völlig anders als die eines DDR-Schriftstellers. Ich habe immer gesagt, wenn er mich nicht veröffentlicht, dann verliert er einen guten Autor, dann veröffentliche ich woanders. Das habe ich gesagt. Änderungen wurden nie gemacht, nicht einmal vorgeschlagen, und sie wären von mir auch nicht akzeptiert wurden. Niemals. Wer sich auf so etwas einläßt, der ist kein Schriftsteller.

Wie haben Sie die Wende in der DDR erlebt. Was hat sich für Sie in Ihrem Leben konkret verändert?

Daß ich abends nach 19 Uhr nicht mehr allein auf die Straße gehe, das hat sich geändert. Ich gehe nicht mehr in Deutschland in eine Kneipe. In diesem Sinne hat sich mein Lebensraum beschränkt. Das tut mir nicht besonders weh, aber meine Frau leidet sehr darunter. Ich hatte früher ohnehin wenig Freunde. Jetzt habe ich noch weniger. Weil viele denken, daß ich Chilene bin und in der DDR gelebt habe, und das kompromittiert mich mit dem Regime. Oder andere finden es gefährlich oder „nicht sozial verträglich“, mit mir Kontakt zu haben. Die haben sich so verdeutscht. Mit meiner Frau ist das noch eine andere Sache. Meine Frau ist Lettin und sie ist Halbjüdin, eine Sache, die früher kaum wahrgenommen wurde. Heute spielt es plötzlich eine wichtige Rolle, daß sie Halbjüdin ist.

Aber das Ganze hat mich nicht besonders überrascht. Überrascht haben mich eher Einzelheiten. Die Bilder überraschen mich immer. Da bin ich immer gierig nach allen Bildern. Plötzlich hat die Stammtischphilosophie gesiegt. Plötzlich war sie Staatsräson. Angefangen hat es in Leipzig. Aber es war keineswegs eine Revolution. Sie hat nie in der DDR stattgefunden. Das ist absoluter Quatsch. Es wurde lediglich eine Sache zerstört, die verfault war. Nicht nur einiges, sondern das ganze System hätte niemals eine Überlebenschance gehabt. Auch wenn vieles dort, und das sagt jetzt jeder, eine Überlebenschance verdient hätte. Das einzige, was in der DDR überlebt hat, ist ein Teil der Straßenverkehrsordnung, weil man in den Neuen Bundesländern jetzt bei Rot über die Kreuzung darf, wenn der grüne Pfeil zum Abbiegen aufleuchtet. Das ist peinlich.

Aber das Peinlichste war, daß wieder alle mitgemacht haben. Die Leipziger Montagsdemonstranten waren dieselben wie die Leipziger 1. Mai-Demonstranten, verändert haben sie sich kaum.

Na ja, die Anführer waren andere. Neues Forum und diese Leute...

Ich bin mißtrauisch, ich bin von Berufs wegen mißtrauisch, ein Schriftsteller hat mißtrauisch zu sein. Er muß immer mehreren Göttern glauben. Ich hatte ein bißchen Hoffnung am Anfang. Wenn der gesunde Kern dieser Massenbewegung sich wirklich um die Zukunft des Landes gekümmert hätte, hätte er sich mit den veränderungswilligen Kräften in der SED zusammengefunden. Dann hätte es wahrscheinlich einige Chancen gegeben, ein völlig neues Modell voranzubringen. Sie hatten die besten Voraussetzungen unter allen sozialistischen Ländern. Ich sage das auf dem Boden des Spekulativen, weil die damalige BRD so etwas nie akzeptiert hätte. Deren Parole war: Alles oder nichts.

Hatten oder haben Sie vor, nach Chile zurückzukehren?

Auf jeden Fall, auch wenn ich keine Bindungen mehr mit Chile habe. Ich habe auch keinen festen Zeitplan. Aber zurückgehen möchte ich. Ich mag die Ecke sehr, aus der ich komme: Valparaíso, aber das ist mehr eine Art Jugendliebe.

Waren Sie seit Ihrer Flucht schon einmal wieder in Chile?

Ja, mehrmals. Die ersten zehn Jahre hatte ich Einreiseverbot. Seither war ich mehrere Male dort. Das letzte Mal in diesem Jahr, mit meiner Frau.

Ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führte Gert Eisenbürger im November 1992.