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Erfolgreich ohne Avantgarde

El Alto: Selbstorganisierung in der Stadt der Aymara

El Alto war im Oktober 2003 das Zentrum des Aufstands, mit dem der damalige Präsident Sánchez de Lozada aus dem Amt gejagt wurde. Die BewohnerInnen konnten auf langjährige Erfahrungen von Selbstorganisierung zurückgreifen. Dabei hatten die Nachbarschaftsräte, die Juntas Vecinales, eine wichtige Rolle. Im „roten Oktober“ 2003 gingen die BewohnerInnen darüber hinaus.

Alix Arnold

Die Bevölkerung von El Alto trat damals in Aktion, nachdem das Militär bei der Räumung einer Straßenblockade auf dem Land fünf Aymara erschossen hatte. Damit war La Paz von Blockaden eingekreist. Besonders umkämpft war die Autobahn, die La Paz mit El Alto und dem Flughafen verbindet. Hier lieferten sich DemonstrantInnen Gefechte mit dem Militär, hoben Gräben aus und blockierten die Straße mit entgleisten Bahnwaggons. Der Aufstand hatte keine Führung; er wurde von den Menschen selbst gemacht.

El Alto liegt über dem Talkessel von La Paz, auf unwirtlichen 4000 Metern Höhe. Mit mehr als 800 000 EinwohnerInnen ist sie in Bolivien die drittgrößte Stadt – und in der Geschichte der Anden die erste Großstadt der Aymara. Zwei Drittel von ihnen sind nach 1985 in die Stadt gekommen, mit der Migrationswelle, die der Durchsetzung des Neoliberalismus folgte. Der größte Teil schlägt sich im informellen Sektor durch und lebt in extremer Armut. Der uruguayische Sozialforscher Raúl Zibechi, der seit Jahren den autonomen Tendenzen in den sozialen Bewegungen Lateinamerikas nachspürt, hat die Erfahrungen der MigrantInnen in El Alto untersucht und ihnen ein Buch gewidmet.1 Er geht der Frage nach, wie es zu dem Aufstand kommen konnte und wie dieser wiederum die Institutionen zersetzt hat – die staatlichen ebenso wie die der Bewegung selbst. Wir fassen hier einige seiner Ergebnisse zusammen.

Die Migration nach El Alto war eine Reaktion auf das soziale und kulturelle Erdbeben, das Bolivien in den 80er Jahren erlebt hat. Hunderttausende zogen innerhalb einer Generation in die Stadt. Sie kamen alle zusammen und aus demselben Grund: Ihre bisherigen Überlebensmöglichkeiten waren ihnen genommen worden. Das Gefühl, Überlebende einer Tragödie zu sein, hat sie zusammengeschweißt. Sie landeten in einer Stadt ohne Infrastruktur. Viele ließen sich zunächst in Zelten nieder. In dieser Notsituation taten sie sich zusammen, um kollektiv ihre Stadt zu bauen. Die Aymara-Tradition der gemeinschaftlichen Arbeit spielte dabei eine wichtige Rolle: „El Alto ist von seinen BewohnerInnen aufgebaut worden. Wenn eine Abwasser-Rinne gebaut werden muss, macht jeder Nachbar seinen Teil, und andere Teile werden gemeinsam gemacht. Beim Bau der Schule, des Fußballfeldes oder des Platzes arbeiten alle mit oder steuern Material bei, das ist absolut kollektiv. Das läuft in Schichten, nach der Logik, dass sich alle am Gemeinschaftlichen beteiligen sollen. Da gibt es viel Druck. Wer nicht mitmacht, muss die Gründe dafür erklären oder eine Strafe bezahlen. Die ist aber oft nur symbolisch.“ (Raúl Zibechi)

Fußballfelder und Plätze spielen im Stadtteilleben eine zentrale Rolle. Hier finden Austausch und Kommunikation statt, hier werden auf Versammlungen Entscheidungen getroffen, hier entsteht das Wir-Gefühl des Stadtteils. In vielen Fällen war allerdings schon der Beschluss zur Migration ein kollektiver. Ganze Gemeinschaften kamen in El Alto an. So entstanden Stadtteile von MigrantInnen, die aus derselben Provinz oder demselben Dorf kamen. In El Alto Norte konzentrieren sich die MigrantInnen aus den nördlichen Provinzen der Andenhochebene Altiplano, in El Alto Sur diejenigen aus den südlichen Provinzen. Es gibt Stadtteile von ehemaligen Bergarbeitern oder Fabrikarbeitern, oder von Leuten, die wegen des Flughafen- oder Autobahnbaus vertrieben worden waren. Ihre unterschiedlichen Organisations- und Kampferfahrungen brachten sie mit. Aber die neuen Gemeinschaften sind keine einfache Übertragung der Dorfgemeinschaften. Sie mussten in der Stadt neu erfunden werden.

Die erste Demonstration in El Alto fand 1987 statt. Es ging um die Asphaltierung der Straße Panamericana. Hier traten die Nachbarschaftsräte Juntas Vecinales und ihr städtischer Dachverband FEJUVE (Federación de Juntas Vecinales) zum ersten Mal öffentlich in Erscheinung. Da der Staat in El Alto kaum präsent ist, regeln die Nachbarschaftsräte zahlreiche Bereiche des öffentlichen Lebens. Gleichzeitig sind sie ein Ort kollektiver Entscheidung. Jede Junta hat ein kleines Lokal, in dem die Leitung tagt. Einmal im Monat, manchmal auch wöchentlich finden im Lokal oder auf der Straße Versammlungen statt. Jede Familie soll dort vertreten sein. Die Teilnahme ist keine Pflicht, aber wer sich nicht beteiligt, wird sozial geächtet. In der Regel sind die Männer die Vertreter; in den letzten Jahren ist die Beteiligung von Frauen und Jugendlichen gestiegen. Bei Entscheidungen wird abgestimmt; bei wichtigen Fragen wird der Konsens gesucht. Die Juntas Vecinales haben damit eine ähnliche Struktur wie die ayllus, die Dorfgemeinschaften der Aymara.

Die Juntas sind der Ort, wo sich neue BewohnerInnen vorstellen und Nachbarschaftskonflikte ohne Polizei oder Justiz gelöst werden. Vor allem aber kontrollieren sie den Kauf und Verkauf der Landparzellen. Anders als in anderen Städten liegen in El Alto alle diesbezüglichen Papiere bei der Junta Vecinal. Die Besiedlung El Altos war weitgehend der staatlichen Kontrolle entzogen. Die BewohnerInnen müssen von daher befürchten, dass ihr Besitzrecht an den selbst aufgeteilten Grundstücken vom Staat nicht anerkannt wird. Konflikte können sie nur selbst, mittels ihrer eigenen Institution Nachbarschaftsrat lösen. Durch die „wilde“ Besiedlung ist in El Alto ein Labyrinth von kleinen Stadtteilen und Sträßchen entstanden, mit vielen Sackgassen. Abgesehen von der großen Einfalls- und Ausfallsstraße nach La Paz gibt es im Inneren keine größeren geraden Straßen, die Übersicht und Einsicht getatten könnten. Ohne es geplant zu haben, haben die Aymara ihre Stadt strategisch clever gebaut. Für sie ist das Labyrinth ein vertrautes Gebiet – für Staat und Militär ein gefährlicher Dschungel.

Bis 1988 hatten sich 180 Nachbarschaftsräte gebildet, bei einer Bevölkerung von 360 000 heißt das eine Junta pro 2000 EinwohnerInnen. 2004 gab es 540 Juntas für dann 750 000 EinwohnerInnen. Die Mitgliedszahl pro Junta ist auf 1300 bis 1400 BewohnerInnen gesunken. Diese kleinteilige (und immer schlagkräftigere) Organisierung macht den Machthabern Angst. In einer Studie, in der sie kurz nach dem Oktoberaufstand mit Luftaufnahmen, Satellitenbildern und Statistiken versucht haben, den Konfliktherd El Alto zu analysieren, stellt die US-Agentur für Internationale Entwicklung USAID erschrocken fest, dass die Juntas Vecinales staatliche Funktionen übernehmen, aber nicht als ein Staat, sondern verstreut auf mehr als 500 Einheiten. Diese Zersplitterung sehen sie als Hauptproblem bei der Aufstandsbekämpfung. Sie hätte zu „starken Gruppensolidaritäten“ geführt, vor allem durch das gemeinsame Vorgehen in den Siedlungen gegen Betrügereien bei den Grundstücksaufteilungen.

Nach den Regeln der FEJUVE muss eine Junta Vecinal mindestens 200 Familien umfassen. USAID möchte die EinwohnerInnen von El Alto dagegen in größeren Stadtteileinheiten von 5000 bis 8000 BewohnerInnen zusammenfassen. An die Stelle der „fragmentierten und atomisierten“ Nachbarschaftsorganisationen möchten sie „Prozesse von Demokratisierung und Bürgerverantwortung“ setzen. Oder anders ausgedrückt: Selbstorganisierung und direkte Demokratie sollen der Repräsentation weichen, die „unter dem Euphemismus von ‚Partizipation und Demokratie' eine der besten Formen ist, die das kapitalistische System gefunden hat, um große Bevölkerungskonzentrationen kontrollieren zu können“ (Zibechi).

Die Angst der Eliten vor der Selbsttätigkeit der „fragmentierten“ Massen ist berechtigt. Im Oktoberaufstand 2003 haben die BewohnerInnen von El Alto ihre eigenen Basisorganisationen noch einmal von der Basis her überholt. Sie handelten wie Stadtteilregierungen, die sich an die Stelle des delegitimierten und nicht mehr präsenten Staates setzten. Alle Beschreibungen stimmen darin überein, dass es keine Führung gab. Die Juntas Vecinales waren als Struktur beteiligt, aber ihre Leitungen hatten nicht das Sagen. In vielen Fällen wurden sie ersetzt oder dazu verpflichtet, sich bedingungslos der Autorität der Versammlungen unterzuordnen, die auf den Straßen stattfanden.

Die Juntas waren gewohnt, Demonstrationen oder Streiks zu organisieren, also die Art von Aktionen, die von einem kleinen Kern vorbereitet werden (das, was üblicherweise unter „sozialer Bewegung“ verstanden wird). Die Mobilisierung im Aufstand wird dagegen als „Meer“ beschrieben: Leute kamen von überall her, sie gingen nicht in eine Richtung, sie bildeten keine Kolonnen, sondern sie verbreiteten sich wie Wasser, in Wellen. Am 13. und 14. Oktober war El Alto von seinen BewohnerInnen besetzt, die überall Wache hielten und blockierten. Spontan entstanden Kommissionen, die sich um sämtliche Aufgaben, von der Lebensmittelversorgung über die Bewachung der Barrikaden bis zur Vorbereitung der Verteidigung kümmerten. Es gab keinen Plan, aber in dem engen Netz sozialer Beziehungen ließ sich schnell Einigkeit über die jeweils nächsten Schritte herstellen.

Selbst die militärische Verteidigung war die Sache aller. An großen Aktionen wie entgleiste Waggons auf die Autobahn zu schieben beteiligten sich ganze Familien. Mit eigenen Aktionsformen gelang es den Aufständischen, die staatliche Militärmaschinerie ins Leere laufen zu lassen. Anders als bei klassischen Blockaden, hinter denen man sich im militärischen Stil verschanzt, schufen sie weitläufige Blockadezonen. Während die Militärs noch an der einen Stelle damit beschäftigt waren, die vielen teppichartig ausgelegten Steine wegzuräumen, legten die RebellInnen an anderer Stelle schon neue aus. Als pulga (Floh) wurde eine schnelle Form bezeichnet, nachts Straßen zu blockieren, mit sofortigem Rückzug – wie Flohstiche, Tausende gleichzeitig an verschiedenen Orten. Der heutige Vize-Präsident Boliviens, Álvaro García Linera, beschreibt das „Hauptquartier“ der Aufständischen in Qalachaka auf dem Altiplano: „Ihre militärische Organisation war das Antistaatlichste, was man je gesehen hat. Mehr noch als bei den Zapatistas. Denn es war eine Art Bündnis von Gemeinschaften, die entschieden hatten, heute das Land zu bebauen und morgen in den Krieg zu ziehen. Sie kamen mit ihren Männern, Frauen, Kindern, Großeltern und Tieren. Sie zogen als Gemeinschaft in den Krieg. Nicht als formierte Gruppe, nicht als in der Gemeinschaft formierte Elite. In dem Quartier von Qalachaka gab es 70-jährige Frauen mit Knüppeln, 18-jährige Jugendliche mit Sturmgewehr, Alte mit Dynamit, Kinder, die Essen brachten. Das hatte nichts von einem Staat. Es gab noch nicht einmal ein zentralisiertes Kommando oder einen Generalstab. Die Befehlsgewalt wurde jeden Tag neu verhandelt, je nachdem welche Blöcke neu dazukamen. Diese Logik ist sehr antistaatlich.“

Diese Logik der Bewegung machte sowohl den staatlichen als auch den eigenen Institutionen zu schaffen. Die Juntas Vecinales wurden überrollt, weil sie diesem Stand nicht entsprachen. Durch ihre Geschichte zieht sich der Widerspruch zwischen Selbstorganisierung und Anlehnung an den Staat. In Zeiten schwacher Bewegung wächst das Bedürfnis nach Institutionalisierung und Vertretung. Dann werden eher Repräsentanten gewählt, die gute Redner und Vertreter sind. Mitte der 80er Jahre wurde eine zunehmende Entfremdung der Juntas von ihrer Basis festgestellt. Die Anführer verschafften sich über ihre Posten ökonomische Vorteile, soziales Prestige und politische Macht. In der FEJUVE rangelten politische Parteien um die Führung der Organisation. Ende der 80er Jahre kam nach dem Zuzug tausender Bergarbeiter, die ihre Kampferfahrungen mitbrachten, eine Tendenz zu mehr Autonomie auf. Die Demokratisierung der FEJUVE fand jedoch ihre Grenze in ihrer doppelten Funktion: Sie ist einerseits Sprecherin für die Bedürfnisse des Stadtteils und andererseits Vermittlerin zwischen Juntas und Staat. 

In den 90er Jahren ordnete sie sich der CONDEPA-Stadtregierung unter: Diese Regierung war selbst Ausdruck der zunehmenden Delegitimierung der traditionellen Parteien und des politischen Aufstiegs der Aymara. Diese hatten 1988 nach der Schließung von Radio-Televisión Popular des bekannten Sprechers und Sängers Carlos Palenque, der für Gleichberechtigung der MigrantInnen eingetreten war und die herrschende Klasse heftig kritisiert hatte, eine riesige Demonstration für die Wiedereröffnung des Senders mobilisiert. Die Basis der neuen Partei CONDEPA (Consciencia de Patria) bestand aus MigrantInnen, verarmten Lehrerinnen, Kunsthandwerkern, Kleinhändlern, Hausangestellten, Arbeitslosen und Arbeiterinnen. An der Macht entwickelte sich die CONDEPA jedoch schnell zur Ordnungspartei, und nach dem Tod von Palenque 1997 verschwand sie wieder von der Bildfläche. Die FEJUVE hatte sich gespalten. Daneben entstand eine informelle Versammlung (Asamblea de la Alteñidad), die in den 90er Jahren wichtige Aktionen organisierte. Der Zyklus von Kämpfen und Aufständen seit 2000 in Bolivien hat als sehr tiefgehende „Revolution in der Revolution“ das politische Panorama verändert. 2002 bekam die FEJUVE eine neue Leitung; die Entscheidungen wurden nun wieder in größeren Versammlungen getroffen. Nach der Erfahrung von 2003 kann es sich die Leitung nicht mehr erlauben, hinter dem Rücken der Leute Politik zu machen.

„Für uns, die wir auf die Emanzipation setzen, liegen die zentralen und entscheidenden Herausforderungen nicht oben, sondern unten. Von daher hat es keinen Sinn, den Regierenden Schuld oder Fehler oder gar ‚Verrat' vorzuwerfen.“ Getreu dieser Devise sucht Zibechi nach den befreienden Elementen innerhalb der realen Bewegungen – denn die Menschen „entdecken ihre Fähigkeiten erst in dem Moment, in dem sie sie entfalten“. Die neoliberale Organisation der Gesellschaft ist nicht nur eine Zerstörung alter Solidaritäten, sondern auch eine Chance für neue Selbsttätigkeit. „In der Zeit, in der die Arbeiter die Arbeitsorganisation den Chefs und die Verwaltung der Gesellschaft dem Staat überlassen haben, mussten sie sich auf hierarchische und zentralisierte Strukturen stützen, wenn sie kämpfen wollten, und sie waren abhängig von ihren (gewerkschaftlichen und politischen) Anführern, die sie vertraten und die Entscheidungen trafen.“ Dagegen können die neuen „autonomen“ ArbeiterInnen, die im informellen Sektor zur Eigeninitiative gezwungen sind, diese Fähigkeiten auch politisch wenden und einsetzen. Die neuen Bewegungen sind nicht mehr symmetrisch zum Staat organisiert, sondern horizontal. Darin liegt ihre Chance.

Die Ereignisse in Bolivien und an anderen Orten Lateinamerikas geben dieser Theorie recht. Die BewohnerInnen von El Alto haben gezeigt, dass erfolgreiche Kämpfe ohne Avantgarden und Führungsapparate geführt werden können, und dass „Organisationen“, die aus dem Alltagsleben entstehen, in der Lage sind, das Leben selbst in die Hand zu nehmen. Im Aufstand von El Alto ist für einen Moment sichtbar geworden, dass ein Leben ohne Staat, Hierarchie und Kommando möglich ist.

  • 1. Raúl Zibechi, Dispersar el poder. Los movimientos como poderes antiestatales. Barcelona 2007. Eine deutsche Übersetzung erscheint 2009 bei Nautilus.