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Chibolo, die Beule

Buchbesprechung
Ute Evers

Chibolo ist nicht wirklich eine Beule, sondern der Name eines Viertels im Norden Kolumbiens, das rund dreißigtausend Menschen in Hoffnung auf ein besseres Leben gegründet haben. Diese neuen Siedler kommen ursprünglich aus verschiedenen Dörfern der Region, in welcher sich Perspektivlosigkeit und eine fatale Indifferenz aufgrund der extremen Armut in ihre Gemüter hineingefressen haben. Nur dem selbst aus einfachen Verhältnissen stammenden Moisés Cantillo gelingt es, die Menschen aus ihrer Lähmung aufzurütteln und sie zu einem Auszug aus ihren Elendsvierteln zu bewegen. Das Hoffnung verheißende Ziel ist ein brachliegendes Land in der Nähe einer Provinz namens Bellavista.

Moisés, auch El Mono (Der Hellhäutige) genannt, wird, noch während er die Menschen mobilisiert, von einem gewissen Senator Fadul zu sich gerufen. „Der mächtigste Politiker der sieben Nordprovinzen“ bietet ihm seine politische Unterstützung bei der Landnahme an, mit der einzigen Voraussetzung, er müsse die Menschen, die eine Parzelle auf dem neuen Land versprochen bekommen, davon überzeugen, bei der nächsten Senatorenwahl für ihn zu stimmen. Der junge Mann mit dem biblischen Namen lässt sich auf das politische Geschäft ein. Moisés sieht in der Unterstützung durch Fadul einen Hoffnungsträger für eine gerechtere Zukunft. El Mono entwickelt sich bald schon zu einem ergebenen Handlanger des durchtriebenen Politikers. Mit der politischen Abhängigkeit verliert Moíses seine AnhängerInnenschaft und Überzeugungskraft bei den BewohnerInnen in Chibolo.

„Das Karibische Testament“ lehnt sich mit den großen Themen wie Vertreibung (aus dem Paradies?), Landverheißung, Brudermord, Exodus, Seuchen oder die Erscheinung eines Rettung verheißenden Messias ohne Zweifel an die Bibel an. Es geht dabei auf die Zeit vor den Befreiungskriegen zurück, also etwa Anfang des 19. Jahrhunderts, um schließlich bei Moisés Cantillo und mit ihm in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts anzukommen. 

Ein Meisterwerk mit literarischen Kniffen sowohl auf der sprachlichen als auch strukturellen Ebene ist „Das karibische Testament“ nicht. Ein Vergleich mit García Márquez' Macondo, wie ihn der Verlag zieht, ist daher irreführend. Trotz der oben genannten Beispiele bleibt der Erzählstil weitgehend sachlich, was sich bis auf die Figuren auswirkt, die dem Leser/der Leserin gegenüber überwiegend distanziert bleiben. Steht also politisch korrekter Inhalt vor literaturästhetischen Gesichtspunkten? Könnte man annehmen. Die linear erzählte Entwicklung der Region, die einem wahren Marathon durch mehrere Generationen, Familien und unzählige Geburten gleicht, wirkst sich bedauerlicherweise sehr negativ auf den Gesamteindruck des Romans aus.

Nun, nimmt man seine literarischen Ansprüche einmal zurück, ist der Roman eine interessante soziologische Darstellung der lateinamerikanischen Realitäten. Mehr noch, deckt doch vor allem das Ende des Buches ein Dilemma auf, das bis heute in Lateinamerika – betont sei hier: aus der Wahrnehmung von außen – fortzubestehen scheint: Politik wird zu sehr auf einzelne Personen fokussiert. Ist einmal die Führungspersönlichkeit verschwunden, werden die bis dahin mit Verve und Überzeugung umkämpften Projekte fallengelassen wie eine heiße Kartoffel. Chibolo, die Beule, ein Elendsviertel irgendwo im Norden Kolumbiens gelegen, vereint in sich so ziemlich alle Probleme, die in einem modernen lateinamerikanischen Barrio den Alltag vieler zur Qual werden lassen. 

1956 als Enkel jüdischer MigrantInnen aus Polen in Barranquilla, Kolumbien, geboren, lebt der Autor Marco Schwartz seit 1986 in Madrid, wo er neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit vor allem für die katalanische Zeitschrift El Periódico de Cataluña schreibt. Bevor er nach Europa kam, lebte er einige Zeit in Israel und den USA. „Das Karibische Testament“ ist sein erster Roman.

Marco Schwartz, Das Karibische Testament; Übersetzung: Jan Weiz, Rotpunktverlag, Zürich 2008. 318 Seiten, 24,- Euro