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Verschwistert, aber nicht immer vereint

Vier Standpunkte zu Vergangenheit und Zukunft der lateinamerikanischen Frauenkämpfe

Das „Frauenthema“ – salopp formuliert – bzw. die geschlechterspezifische Betrachtung bestimmter Sachverhalte war für die ila immer wichtig. Die Diskussionen dazu wurden über die Jahre mehr oder weniger intensiv auch in der Redaktion geführt. Vor- und Rückblicke, Standpunkte, Erfahrungen aus langjähriger Arbeit sind immer etwas kompliziert, weshalb wir dazu nicht nur einen einzelnen Artikel oder eine Meinung präsentieren wollten. Stattdessen befragten wir Frauen aus unterschiedlichen Herkunfts- und Erfahrungsbereichen.

Alicia Rivero
Nilma Bentes
Deysi Cheyne
Myriam Alvarez

Die vergangenen 30 Jahre waren auch in Lateinamerika eine Zeit, in der Frauen Machismo und patriarchalische Strukturen anklagten und versuchten, im privaten, öffentlichen und politischen Bereich die Machtbeziehungen zu verändern. Es entstanden viele feministische sowie andere Frauenorganisationen. Gibt es einen lateinamerikanischen Feminismus? Konnte er die gesellschaftlichen Machtverhältnisse aufbrechen? Haben wir nach 30 Jahren eine veränderte Situation, ein empowerment von Frauen und das „Besetzen“ von Positionen, die früher klassische Männerdomänen waren? 

Alicia: Da wäre zunächst zu definieren, wie viel Eigenes am lateinamerikanischen Feminismus ist. Wenn man gemeinsame Aspekte berücksichtigt, die mit der historischen Entwicklung zusammenhängen und damit, dass die sprachlichen Hürden in Lateinamerika geringer sind als in Europa, können wir von einem Feminismus mit lateinamerikanischen Zügen reden. Aber auf Landesebene und regional gesehen zeigen sich größere Unterschiede. Aber für mich ist das nicht das Wichtigste. Das eigentlich Interessante ist, dass der Feminismus in Lateinamerika dabei ist, andere kulturelle und soziale Unterschiede über die sexuelle Bestimmung hinaus zu integrieren, Stichwort diversity. Über die Doppel- und Dreifachbelastung hinausgehend, die alle Frauen betrifft und sich sozusagen durch alle sozialen Klassen zieht, werden viele Frauen wegen ihrer ethnischen Herkunft und/oder ihrer sozialen Zugehörigkeit diskriminiert: weil sie Frauen sind, weil sie indigen und weil sie arm sind; oder wegen ihrer sexuellen Orientierung. Die Diversität weitet den Blick. Zum Beispiel hat das bolivianische Kollektiv Mujeres creando dieses Grundprinzip. Einer der Slogans, die das Kollektiv in La Paz an die Wände sprüht, lautet: „Indias, Huren und Lesben: Vereint, anders herum und verschwistert“. Dieser Slogan hat etwas Subversives, aber auch etwas Lateinamerikanisches an sich.

Vielleicht haben dekonstruktivistische Ansichten wie die von Butler, die den traditionellen Feminismus für „heterosexistisch“ hält, seine Entwicklung verlangsamt. Der Feminismus machte sogar Rückschritte, aber nicht nur in Lateinamerika. Im Gegenzug vermehren sich Fundamentalismen aller Art, die von den männlichen Zentren der Macht genährt werden. Aber gleichzeitig gab und gibt es Fortschritte beim Kampf der Frauen, vor allem auf juristischer Ebene und konkret auf dem Gebiet der Gewalt gegen Frauen. Diese Gewalt ist in den lateinamerikanischen Gesellschaften sehr präsent. Aber im Gegensatz zu den 70er Jahren ist sie heute sichtbar bzw. wird sichtbar gemacht und es gibt einen rechtlichen Rahmen, um dagegen vorzugehen. Anwältinnen, die nur Frauen verteidigen, und Richterinnen mit Genderausbildung waren vor drei Jahrzehnten praktisch unbekannt.

Auch die Diktaturen vor 30 Jahren waren ein großes Hindernis für die Entwicklung des Feminismus auf dem Subkontinent. Aber man kann es nicht nur der repressiven Rechten anlasten, dass die spezifischen Forderungen von Frauen hintangestellt wurden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen hat auch die Linke das gemacht oder diese sogar von der Agenda gestrichen und sie als „bürgerlich“ und „spaltend“ bezeichnet. Auch die „Mütter der Plaza de Mayo“ mit ihren radikalen politischen Forderungen haben keine frauenspezifische Prägung. Sie erkennen nicht an, dass die strukturelle Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zum Ursprung geschlechterspezifischer Gewalt wird. Auch wenn sie gegen die strukturelle Gewalt kämpfen, stellen sie manche ihrer Ursachen nicht in Frage.

Die Wirtschaftskrisen und der neoliberale Kapitalismus haben die geschlechtliche Arbeitsteilung verändert. Der produktive Kapitalismus hat die Frauen je nach Bedarf in den Arbeitsmarkt integriert oder entfernt. Der spekulative Kapitalismus und die Automatisierung der Arbeit erzeugen Massenarbeitslosigkeit. Weil die Männer die Stellen verlieren, suchen viele Frauen bezahlte Arbeit außerhalb des Hauses. Das führt aber nur selten zu Emanzipation und gesellschaftlicher Anerkennung. Es gibt Ausnahmen, wenn die Betroffenen von Frauenorganisationen begleitet wurden, die bewusst das empowerment von Frauen zum Ziel haben. 

Die positiven Veränderungen, die wir nach 30 Jahren feststellen, sind vor allem dem feministischen Kampf geschuldet. Bachelet ist nicht die erste Präsidentin in Lateinamerika. Aber sie ist es in einem anderen Zusammenhang als früher und sie unterscheidet sich sehr von ihren Vorgängerinnen, aber auch von anderen lateinamerikanischen Frauen in den Höhen der Macht. Die Form, wie sie Macht ausübt, ist anders als die von Cristina Kirchner, die vielleicht die nächste weibliche Präsidentin des Subkontinents sein wird. Der Kampf der Frauen ist ein sozialer Prozess und fordert seine Zeit. Den Männern fällt es – wie der Bourgeoisie – schwer, ihre Privilegien abzutreten. Deshalb bemühen sich die Frauen, die in männliche Arbeitsdomänen vorgedrungen sind, immer noch das Glasdach zu zerdeppern, das ihnen breiteren Zugang zu höheren Stellen verschafft. 

Nilma: Ich werde auf die Fragen vor allem mit Auszügen aus Diskussionen und Texten des 10. Lateinamerikanischen und Karibischen Frauentreffens antworten, das im Oktober 2005 in Serra Negra, São Paulo, stattfand, an dem ich zusammen mit über 1200 Frauen teilnahm. Ja, ich denke, es gibt einen lateinamerikanischen Feminismus. Mehr noch, es gibt einen lateinamerikanischen und karibischen Feminismus, und noch viel mehr, es gibt ganz verschiedene Strömungen und Schattierungen dieses Feminismus. Betânia Ávila von der Gruppe SOS Corpo – Feministisches Institut für die Demokratie drückt das so aus: „Innerhalb der feministischen Bewegung gibt es eine Vielzahl von Organisationen und Kämpfen, aber es gibt auch Ungleichheiten zwischen den Frauen der Bewegung – Frauen aus unterschiedlichen Klassen, von verschiedener Hautfarbe – was historisch zu einer unterschiedlichen Stellung in der Gesellschaft geführt hat, schwarze Frauen, indigene Frauen, Frauen vom Land, Hausarbeiterinnen, die den Löwenanteil der armen Frauen stellen. Es gibt lesbische Frauen, die sich radikal gegen die herrschenden heterosexuellen Leitlinien wehren, Frauen, die eine besondere Behandlung benötigen, Frauen aus verschiedenen Generationen, die den Konflikt zwischen Anpassung und Revolte austragen. In diesem großem Kessel, wo Ursache und Wirkung, Folgen und Wechselwirkungen von Unterdrückung durcheinander brodeln, ist es unmöglich, beim Kampf um Gleichberechtigung die verschiedenen Aspekte dieser Rechte auseinander zu dröseln, vor allem, wenn es um den Komplex, Klasse – Ethnie – Geschlecht' geht, die Grundpfeiler der sozialen Unterschiede.“ 

Der Feminismus hat die Bedingungen für ein – wenn auch langsames – empowerment der Frauen geschaffen. In Brasilien sind Frauen inzwischen an den Universitäten in der Mehrzahl, in Lateinamerika und der Karibik stellen Frauen mehr als 15 Prozent der Abgeordneten, womit sie weltweit an zweiter Stelle stehen. Um die politische Bedeutung, die Frauen heute haben, zu zeigen, greife ich auf die Worte von Epsy Campbell zurück, Ex-Abgeordnete und Kandidatin für die Vizepräsidentschaft in Costa Rica: „Frauen haben immer mehr Einfluss auf politische Entscheidungen; jetzt sind es nicht mehr nur Frauengruppen, die Druck ausüben, oder die Arbeit von Frauenministerien oder von Fraueninstituten, Frauen sind auf allen politischen Ebenen präsent. Allerdings passiert das zu einem Zeitpunkt, wo die Staaten in vielen Ländern zerfallen, die öffentlichen Gelder immer geringer werden und die Bürokratie zum Selbstzweck geworden ist. Hier in dieser Region glauben immer mehr Menschen, die Regierungen würden nur das Chaos verwalten, wovon immer nur einige wenige profitieren, und die Armut sei ein dauerhaftes und nie endendes Problem, mit dem wir lernen müssen zu leben. Gelegentliches Dampfablassen dient dabei nur der Erhaltung des Status Quo der Pseudodemokratien. 

Wenn wir dieses scheinbar unabwendbare Schicksal in die eigenen Hände nehmen wollen, brauchen wir mehr Frauen in der Politik. Deshalb sind Quoten und vor allem die angestrebte Parität zwischen Frauen und Männern in allen öffentlichen Ämtern wichtig. Aber es geht nicht nur darum, mehr Frauen in politische Ämter zu bekommen, sondern die Regierungen müssen ein Spiegel der gesamten Gesellschaft werden. Wie ist es möglich, dass 150 Millionen AfroamerikanerInnen in Lateinamerika und der Karibik gerade mal 50 RegierungsvertreterInnen stellen, darunter sechs Frauen?“ Empowerment von Frauen bedeutet nicht, dass die Frauen in Machtpositionen alle Feministinnen sind oder der Frauenbewegung angehören. Dennoch ist es die Frauenbewegung gewesen, die erreicht hat, dass die Diskriminierung von Frauen auf verschiednen Ebenen zurückgegangen ist.

Was früher kämpferisch als Weg zur Frauen-Power bezeichnet wurde, wird heute oft mit Geschlechtergerechtigkeit ersetzt. Der Gender-Ansatz hat den Frauen-Ansatz abgelöst. Was hat sich dadurch verändert? 

Alicia: Das Establishment war schon immer sehr einfallsreich, um Strategien, die die Machtbeziehungen durcheinanderwirbeln könnten, ihres Inhalts zu berauben. Um sie zu neutralisieren, werden sie ignoriert, verändert oder einverleibt. Letzteres machte man mit der empowerment-Strategie von Frauen, die ursprünglich etwas Revolutionäres beinhaltete. 

Ein positives Ziel des Gender-Ansatzes, vor allem des Gender-Mainstreaming, ist die Absicht, dass die Männer nicht nur Zielgruppen für Politiken sind, die sich auf Frauenforderungen beziehen, sondern als Akteure einbezogen werden. Andererseits beseitigt das Gender-Mainstreaming nicht die spezifische Unterdrückung von Frauen. Meiner Ansicht nach haben die Rückschritte beim Kampf um empowerment und Chancengleichheit von Frauen mehr mit den weltweiten politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen als mit dem Gender-Ansatz zu tun. Auf jeden Fall ist klar, dass der Kampf weitergehen muss. 

Nilma: Der Machismo ist in Lateinamerika und der Karibik sehr stark. Die Begriffe Geschlechtergerechtigkeit, Gender oder Frauenbewegung werden deshalb verwendet, um den Begriff Feminismus/ Feministin zu vermeiden, der in der Macho-Männerwelt noch immer solche Reaktionen hervorruft wie „Alle Feministinnen sind Lesben“, oder „unbefriedigt“, „Frauen sollen feminin und nicht feministisch sein“. Das klingt nach Höhlenmenschen, und trotzdem gibt es auch immer noch viele Frauen, die das verinnerlicht haben. Feminismus und Antirassismus bekämpfen auch den Rassismus und Machismo bei Frauen. Obwohl also der Feminismus im engeren Sinne von weißen intellektuellen Frauen getragen wird, unterstützt doch die Mehrzahl der Frauen die Sache unter einem anderen Namen wie Frauenbewegung oder Frauenkollektiv. Auf dem Land wird man nur selten von Feminismus sprechen.

Die allgemeine Situation vieler Frauen in Lateinamerika hat sich in den letzten 30 Jahren nicht verbessert, da der Abstand zwischen Arm und Reich noch größer geworden ist. Was muss in Lateinamerika getan werden, um diesen Abstand zu verkleinern sowie patriarchalische Strukturen abzubauen? 

Alicia: Die derzeitigen Prozesse in vielen Ländern Lateinamerikas sind sehr interessant, gleichzeitig sehr komplex und nicht zuletzt ziemlich widersprüchlich. Die meisten europäischen Regierungen und die Mainstream-Presse sehen die progressiven Regierungen in Lateinamerika mit Skepsis und aus einer ziemlich eurozentristischen Perspektive. Sie werden als populistisch abgestempelt. Tatsache ist, dass viele Leute in der Region nach der Alleinherrschaft des Neoliberalismus der 1990er Jahre durch die Wahl von linken, sozialdemokratischen oder populistischen Kandidaten nach Alternativen suchen. Wir werden einen großen Schritt weitergekommen sein, wenn sich „die Evo Morales“ neben den ethnischen Forderungen auch dem Kampf der Frauen verpflichtet fühlen und „die Michelle Bachelets“ sich intensiv für die Rechte der ursprünglichen Bevölkerungsgruppen einsetzen.

Nilma: Hier möchte ich (wieder) Epsy Campbell, Ex-Abgeordente und Kandidatin für die Vizepräsidentschaft in Costa Rica, zitieren: „Die Situation in Lateinamerika und der Karibik kann niemanden erfreuen. Länder wie Mexiko, wo 60 Millionen Menschen in Armut leben, gelten als ‚stabil und demokratisch'. Nicaragua mit all seinen natürlichen Ressourcen kämpft mit denselben Widersprüchen wie noch vor Jahrzehnten, 70 Prozent der Bevölkerung leben in Armut, mit Gehältern um die 100 US-Dollar, während Abgeordnete 5000 US-Dollar verdienen und der Staatschef 20 000. 90 Prozent der 150 Millionen LateinamerikanerInnen mit afrikanischen Vorfahren leben in Armut und die Mehrzahl hat nicht die geringste Hoffnung, jemals aus dieser Situation herauszukommen. Dennoch habe ich keinen Zweifel daran, dass es Gründe zur Hoffnung und für einen Wandel gibt. Es gibt die Möglichkeit, Allianzen auf nationaler und internationaler Ebene zu schließen, um eine neue Politik zu schaffen. 

Wir – bewusste Frauen, die auf allen Ebenen politisch aktiv sind – haben die große Möglichkeit, die neue Perspektive in unserer Arbeit zu verwirklichen und die traditionellen und ausgrenzenden Formen der Politik zu überwinden. Die neue Politik ist überall und das Erste, was sie tut, ist, den Mythos vom ‚Messias' oder charismatischen ‚Führer', der für uns alle die Lösung bringen wird, zu zerstören, denn das ist eine der größten Lügen der traditionellen Politik. Die Grundlagen einer guten Regierungspolitik sind Respekt und Solidarität. Wir müssen verstehen, dass wir Frauen mit dieser neuen Politik mehr Möglichkeiten haben. Wir müssen uns neue Ziele setzen und uns nicht damit zufrieden geben, dass die Dinge sind, wie sie sind, und dass wir nur lernen müssten, uns an die Spielregeln zu halten.“

Zurück nach Brasilien. Die AMB, die brasilianische Frauenorganisation, lädt zum ersten nationalen Frauentreffen vom 7. bis 10. Dezember 2006 ein. In dem Aufruf heißt es: „Für die AMB ist der Augenblick gekommen, ein Programm mit gemeinsamen Aktionen zu planen, das von den politisch-wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedingungen in Lateinamerika ausgeht, mit besonderer Berücksichtigung der brasilianischen Realität, und das den feministischen Kampf weiterbringt. Deshalb laden wir zu einem nationalen Kongress alle aktiven Frauen ein, die mit unseren Zielen übereinstimmen“.

Deysi: Das Instituto de la Mujer, IMU, leistet seit 20 Jahren in El Salvador Pionierarbeit in Frauenfragen. Für mich ist es faszinierend, einen Blick zurückzuwerfen und nachzuspüren, welchen Weg wir zurückgelegt und welche Erfolge wir erreicht haben sowie welche Hindernisse sich uns in den Weg stellten. Ebenso, welche Herausforderungen in einem neuen Jahrtausend, das auch das „Jahrtausend der Frauen“ genannt wird, auf uns warten.

Lateinamerika ist politisch und kulturell schillernd und vielfältig. In den letzten 30 Jahren hat sich die feministische und die Frauenbewegung zu einer sehr dynamischen und komplexen Bewegung entwickelt, die sich für mehr soziale Gerechtigkeit und Demokratie in unseren Gesellschaften engagiert. Sie widersetzt sich der perversen Logik des kapitalistisch-neoliberalen und des patriarchalischen Systems. Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre formierte sich die sog. „zweite Welle der feministischen Bewegung“, die nicht nur gegen die Militärdiktaturen in der Region, sondern auch gegen die sexistische Politik der Linken und der Gewerkschaften kämpfte. In Mittelamerika wurde diese „Welle“ spürbar, als die Befriedungsprozesse den bewaffneten Konflikten ein Ende setzten. Diese hatten über ein Jahrzehnt vor allem in Nicaragua, Guatemala und El Salvador Leiden und Tod gesät. Die Frauen, die zu den Linksparteien gehörten, die die popularen Befreiungsprozesse anführten, mussten sich mit den Feministinnen auseinandersetzen, die kein Parteibuch hatten und den patriarchalischen Verhaltensweisen bei der Rechten und der Linken eine radikale Kampfansage machten. Linke Parteien und gemischte Gruppen erkannten die Bedeutung des Feminismus nicht an. Sie qualifizierten ihn als eine liberale, kleinbürgerliche Angelegenheit der Mittelklasse ab. Diese Spannung war ein Hindernis für die Stärkung einer breiten Frauenbewegung und ihrer kontinentalen Vernetzung. Heute besteht sie weiter, ist aber geschwächt. 

In den 90er Jahren gab es dank der Intervention der Vereinten Nationen für die Förderung der Frauenrechte international eine günstigere Korrelation. Der feministischen und der Frauenbewegung gelang ein weltweiter Konsens, dessen Ergebnis die sog. Plattform von Peking wurde. Diese wurde zum wichtigsten Bezugsrahmen für die Einforderung von öffentlichen Politiken und Mechanismen im Sinne der Fraueninteressen. Feministinnen in Leitungspositionen erarbeiteten anhand der Gender-Theorie Entwicklungskonzepte. Es gelang, die Forderungen der feministischen Agenda in die nationalen und internationalen Entwicklungsagenden zu integrieren. In dieser Konjunktur wurden Frauenprogramme initiiert und Frauenbehörden eingerichtet. Letztendlich führte sie zu einer erneuten Spaltung der feministischen Bewegung in diejenigen, die darauf setzten, dass die Gender-Ungleichheit über den Staat zu lösen sei, und andere, die prophezeiten, dass damit Diskriminierung und Unterordnung von Frauen nicht beizukommen sei, da der Staat selbst eine patriarchalische Einrichtung ist – schon gar nicht in einem neoliberalen Kontext, der die Klassen- und Geschlechterwidersprüche vertieft.

Die feministische und die Frauenbewegung unseres Kontinents, besonders die in Zentralamerika, spielte eine bedeutende Rolle bei den popularen Kämpfen im letzten Jahrzehnt. Nach ihrer Beteiligung am Kampf gegen die Diktaturen, der keine spezifischen Gender-Forderungen beinhaltete, führten die Feministinnen ihre Arbeit in den letzten zwei Jahrzehnten fort. Sie denunzierten Missstände, machten politische Vorschläge und riefen zu Mobilisierungen auf. Andere soziale Bewegungen zerfielen und wurden schwächer, da ihnen ein klares Projekt für politische Transformation fehlte. Während die soziale und politische Linke mit dem Fall der Mauer quasi ohne Utopie und Kompass da standen, wurde das Bewusstsein der feministischen und der Frauenbewegung geschärft. Ihr wurde klarer, dass sie zwei Systemen gegenüber steht, die sich – um weiter zu existieren – gegenseitig nähren, und dass der Kampf für die Befreiung der Frau nicht nur Frauen, sondern auch sensible und solidarische Männer benötigt. 

Die komplexe und globalisierte Welt von heute, deren hegemoniale Macht Natur und Menschen zerstört und in der das Leben vom Markt bestimmt und neu organisiert wird, bringt die Grundrechte von allen in Gefahr. Deshalb ist die feministische Agenda heute breiter, vielfältiger und komplexer. Zum Kampf für die bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte kommt der für die sexuellen und reproduktiven Rechte hinzu, der Kampf gegen Armut und Gender-Gewalt, für politische Mitbestimmung und volle Ausübung der BürgerInnenrechte. Neue Ansätze und Perspektiven werden entwickelt, die unsere komplexe Realität besser erklären sollen. Unter diesen Umständen ist die feministische Bewegung gefordert, sich als soziales, politisches Subjekt mit eigener Agenda zu stärken. Mittels eines feministischen empowerment müssen wir die ungleichen Machtbeziehungen zwischen den Geschlechtern dekonstruieren. Gleichzeitig muss es uns gelingen, dass sich auch die Männer für die Sache der Frauen einsetzen und anerkennen, dass Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Frieden und Geschlechtergleichheit universelle Werte sind. 

Wir Feministinnen wissen, dass Armut und Gewalt in all ihren Ausprägungen Ausdruck der bestehenden hegemonialen Macht sind und dass die Demokratien, die wir bisher kennen, nicht unsere Träume von Freiheit und Gerechtigkeit erfüllen. Die Logik der kapitalistischen Akkumulation zerstört den Planeten und damit das Leben der Menschen. All dies ist Teil eines patriarchalischen und kapitalistischen Kerns, der die gesellschaftliche und die Geschlechterordnung charakterisiert. Dieses Bewusstsein müssen mehr Frauen und Männer teilen, denn eine bessere, menschlichere, solidarischere, gerechtere und harmonischere Welt wird nur dann möglich, wenn wir alle, die in ihr leben, sie gemeinsam aufbauen.

Myriam: Für mich sind diese Fragen relevant, weil ich mich sehr mit den Problemen von Binnenflüchtlingen beschäftige. Besonders im Blick habe ich dabei die Situation von Frauen und die Auswirkungen, die gewaltsame Vertreibung für sie hat. Auch ich selbst bin Migrantin und habe in Freiburg eine Migrantinnengruppe mitgegründet. Besonders interessiert mich die Situation von lateinamerikanischen Frauen in Deutschland. 

Wenn ich also meine Erfahrungen aus der Arbeit mit Frauen in Kolumbien heranziehe und die meiner derzeitigen Arbeit dazunehme, dann meine ich schon, dass es einen lateinamerikanischen Feminismus gegeben hat und weiter gibt. Dieser Feminismus wurde auf der Grundlage universell gültiger Prinzipien der Anerkennung der Rechte von Frauen aufgebaut. In den USA und Europa gab es besondere feministische Ausprägungen. Auch in Lateinamerika bildete sich eine Frauenbewegung heraus, die je nach Land unterschiedliche Ursprünge und Ausdrucksformen hatte. Das machte sie spezifisch für die Region und einzigartig in Bezug auf die Konzeption und das Verständnis von Feminismus. 

Versucht man den Feminismus in Lateinamerika zu systematisieren, dann gibt es drei Merkmale, die für seine Entwicklung spezifisch sind: Zunächst die Sufragetten-Bewegungen in den 50er und 60er Jahren, denen es um das Frauenwahlrecht ging. Danach folgte die Verbreitung der feministischen Ideen. Zeitgleich veränderte sich in den 50er und 60er Jahren die Situation im ländlichen Raum, was eine starke Verstädterung in den 70er und 80er Jahren bewirkte. Gerade in dieser Zeit strömten viele Frauen auf den Arbeitsmarkt.
 
In den 80er und 90er Jahren schließlich gingen immer mehr Frauen an die Unis. Dies war der Raum, wo sich national und kontinental der Feminismus konsolidierte. Konkreter Ausdruck davon ist, was wir als soziale Bewegung von Frauen oder kurz Frauenbewegung bezeichnen. Heute gibt es in Lateinamerika unzählige unterschiedliche Initiativen und Ausdrucksformen von Frauen. Viele überschreiten thematische und örtliche Grenzen und sind vielfältig verknüpft. Besonders zu erwähnen sind die „Treffen der Feministinnen aus Lateinamerika und der Karibik“, die seit 1981 zehnmal stattgefunden haben. Meiner Meinung nach sind die politischen und konzeptionellen Positionen des lateinamerikanischen Feminismus' zwar vom internationalen Feminismus beeinflusst. Aber es ist unbestreitbar, dass in Lateinamerika eine kontinentale Theorie und Praxis entwickelt wurde, die die Situation von Frauen positiv veränderte. 

Wenn wir die 70er Jahre mit heute vergleichen, werden diese Veränderungen klarer. Nehmen wir drei Indikatoren, um Entwicklung und Wandel in der Stellung von Frauen zu bewerten. Zugang zu Bildung: Im letzten Jahrzehnt verbesserte sich der Zugang von Frauen zu Bildung im Vergleich zum vorherigen um 4,4 Prozent. 96 Prozent der Mädchen absolvieren derzeit die Primarschule.Wirtschaftliche Autonomie und Armut: Etwas weniger als die Hälfte der weiblichen Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ist berufstätig. Im besten Fall erreichen die Frauen aber nur 87 Prozent, im schlechtesten 57 Prozent der Entlohnung von Männern für eine vergleichbare Arbeit. Politische Partizipation: Im Bereich der Gleichstellung in Bezug auf politische Ämter (Zielvorgabe: 50 Prozent) haben wir heute in Lateinamerika ein Niveau von 24 Prozent erreicht, was Posten von Ministerinnen, Abgeordneten und Leitungspositionen auf kommunaler Ebene einschließt. Diese Zahlen sind mit denen der Beteiligung von Frauen auf internationaler Ebene vergleichbar.

Wenn wir also die heutige Situation der lateinamerikanischen Frauen mit den 70er Jahren vergleichen, stellen wir fest, dass es bedeutende Fortschritte gibt. Aber gleichwohl ist noch ein weiter Weg zurückzulegen, um die patriarchalische und neoliberale Dynamik zu verändern, in der unsere Gesellschaften verstrickt sind. Die Feministinnen in Lateinamerika haben das im Blick. Am Feminismus-Kongress letztes Jahr in Brasilien nahmen 1250 Frauen aus 28 Ländern teil. Weiter wird lebhaft und mit unterschiedlichen Ansätzen diskutiert. Ideen und Vorschläge sind in permanentem Fluss. Daran zeigt sich, dass die Utopie weiter lebendig ist. Und daraus schöpfen wir Lateinamerikanerinnen die Hoffnung, dass unsere Töchter ihr Leben als Frauen besser entfalten und als Bürgerinnen ihre wirtschaftlichen, politischen und sozialen Rechte einfordern werden.

Alicia Rivero kommt aus Argentinien und ist promovierte Architektin. Sie lebt seit 1987 mit Unterbrechungen in Bonn und ist seither der ila verbunden. Sie war Mitgründerin der ila-latina, einer spanisch- und portugiesischsprachigen Zeitschrift mit dem Anspruch, LateinamerikanerInnen in Deutschland mit kritischer Information zu versorgen. Alicia ist heute Beraterin (www.consult-ar.de) und bietet u.a. Trainings zur Förderung der Gender- und Diversity-Kompetenz an.

Nilma Bentes ist eine der Gründerinnen der CEDENPA – eine von Schwarzen für Schwarze 1980 gegründete Organisation in Pará in Brasilien. Für CEDENPA ist sie in der Organisation der schwarzen Frauen in Brasilien (AMNB) und in einigen anderen Organisationen aktiv. Außerdem ist sie Autorin, u.a. veröffentlichte sie das Buch „Negritando“.

Deysi Cheyne ist Psychologin, feministische Aktivistin und seit 14 Jahren Leiterin des Instituto de la Mujer (IMU), eine NRO, die sich für die Rechte der Frauen in El Salvador einsetzt. Sie hat den feministischen Zusammenschluss Prudencia Ayala gegründet, ein Netzwerk, das in El Salvador politisches Lobbying für Frauenrechte macht.

Myriam Alvarez ist Kolumbianerin und hat Philosophie und Geschichte studiert. 1989 gründete sie das Frauenzentrum Mujeres que crean in Medellín, das sie mehrere Jahre leitete. Außerdem hat sie in Kolumbien in staatlichen Frauenbüros an der Atlantikküste gearbeitet. Seit mehreren Jahren lebt sie in Freiburg und ist bei der Migrantinnengruppe Kalidoskopia aktiv. Sie berät Projekte für Kriegsvertriebene in Kolumbien für Caritas International.