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Ein Porträt der Abwesenheit

Die Fotografin Mayra Martell auf der Suche nach der Identität von verschwundenen Frauen

„Die einzige Lösung für das Problem der Gewalt in Ciudad Juárez ist, dass diese Stadt verschwindet und von allen Landkarten gelöscht wird“, lautet das Urteil der mexikanischen Fotografin Mayra Martell in einem Interview der Tageszeitung La Jornada. Im Juni 2003 reagierte die Weltpresse schockiert auf die Nachricht, dass Tausende von Frauen aus dieser Stadt verschwunden waren. Um das Phänomen zu verstehen, begann Martell, Porträts der Verschwundenen zu erstellen. Mit ihrer Kamera begab sie sich in die intime und familiäre Umgebung, die die Opfer zurückgelassen hatten. Doch wie können Menschen dargestellt werden, die nicht anwesend sind? Ihre Arbeit wirft die Frage nach der Definition von Identität auf: Was ist mit den Familienangehörigen passiert, mit dem Lebensumfeld; ab wann wurden ihre Leben Fiktion? Ihre Fotografien erzählen von einem Schwebezustand zwischen Leben und Tod.

Viola Campos

Die Fotografin (geb. 1979) stammt selbst aus Ciudad Juárez, ihre Bilderserie Retrato utópico de la identidad (Utopisches Identitätsbild 2005-2007) widmet sie den verschwundenen Frauen ihrer Heimatstadt. Der vorrangige Beweggrund für ihr Projekt war, von jedem einzelnen Mädchen als Individuum zu erzählen und nicht als Teil einer langen Liste. Die Schwierigkeit bestand darin, dass sie die Frauen nicht fotografieren konnte und nie getroffen hatte. Ihre Arbeit entwickelte sich zu einer ununterbrochenen Suche nach ihrer Identität, eine Suche nach emotionalen und visuellen Puzzleteilen, die das Erstellen eines Porträts möglich machen sollten. Martell hat das abgelichtet, was diese Menschen zurückgelassen haben: Ihre Zimmer, Kleidung, Betten und auch die Wünsche der Mädchen, Jugendlichen und Frauen, die Esmeralda, Erika, Jazmín, Ana, María Elena, Neyra oder Nohemí heißen. Im selben Maße, wie sie sich der Wahrnehmung einer verschwundenen Person näherte, entfernte sie sich auch, weil sich Zeit und Erinnerung in ein starkes Gefühl von Abwesenheit verwandeln. „Utopisches Identitätsbild“ zeigt Porträts von Personen, die nicht anwesend sind.

Die Idee zu ihrer Arbeit entstand, als Martell nach einer längeren, studiumsbedingten Abwesenheit in ihre Geburtsstadt zurückkehrte. Schon damals gab es viele Suchschilder von vermissten Frauen. Falls noch am Leben, wären viele in Martells Alter. Nachdem sie sich über die Situation informiert hatte, war ihre Neugierde so groß, dass sie zur Justizverwaltung ging und um die Adressen und Telefonnummern der Familienangehörigen bat. Ihr Interesse gilt den ermordeten Frauen, aber vor allem den Verschwundenen, weil es sich um einen Schwebezustand handelt: Niemand weiß, was mit den Frauen passiert ist, ob sie noch leben oder eines Tages zurückkehren werden.

Martell begann mit ihrer Arbeit 2005, also sehr viel später, nachdem die internationale Presse schon darüber berichtet und auf das Problem aufmerksam gemacht hatte. Es war nicht leicht, das anfängliche Misstrauen der Familien abzubauen. Nach all den Jahren waren die Mütter erschöpft, sie hatten genug von den ganzen Menschen, die zu ihnen kamen, davon, sich ständig zu wiederholen und vom Standardfoto mit einem Bild ihrer Töchter in den Händen. Es wurde viel Material auf- und mitgenommen, das sie nie wiedersahen. Bevor Martell zu fotografieren begann, unterhielt sie sich mit den Müttern, zeigte ihnen Proben ihrer Arbeit, und ganz plötzlich entstand eine besondere Beziehung. Die Mütter zeigten ihr daraufhin Gegenstände ihrer Töchter und erzählten die Geschichten zu jedem Objekt. Sie durfte die Lieblingskleidung sehen, die Schubladen öffnen und die Alben einsehen. Dabei passierte etwas Interessantes: Mit Hilfe der Erinnerung wurde die Identität der Frauen wieder hergestellt. Martells Beziehung zu den Familien besteht in der beiderseitigen Notwendigkeit, weiter von den Töchtern zu erzählen. Sowohl die Familie als auch die Fotografin haben das Bedürfnis, die Wiederherstellung der Identität voranzutreiben.

Gegenüber La Jornada bemerkt die Künstlerin: „Es ist so, als ob sie durch die Erinnerungen der Familienangehörigen anwesend wären. Diese Mädchen verließen das Haus, um in den Laden oder die Schule zu gehen; sie sind seit fünf oder zehn Jahren verschwunden und ihre Familien wissen nicht, ob sie wiederkehren werden. Am unglaublichsten ist, dass es keine genauen Zahlen über die verschwundenen Personen gibt, und du denkst dir, das sind doch keine Gegenstände, wie können Personen verloren gehen, so viele Personen, und niemand kann sagen, wie viele Mädchen verschwunden sind?“ 

Die Zusammenarbeit mit Familien von Verschwundenen war für die Fotografin nicht leicht, weil sie das Gefühl hatte, sich in eine sehr starke Intimität und in eine Mitwisserschaft einzumischen, in die Art und Weise, jemanden wahrzunehmen, der nicht da ist. Die Zeit ist für die Familienangehörigen nicht etwa chronologisch, sondern verwandelt sich in etwas Dauerhaftes, Permanentes, weil die Gegenwart verstreicht und die Vergangenheit erhalten wird. Die Familien lassen die Zimmer intakt, verrücken nichts, oft heben sie die Kleidung auf, die ihre Töchter Tage vor ihrem Verschwinden trugen. Die Mutter geht jeden Tag in das Kinderzimmer, setzt sich auf das Bett und erinnert sich an ihre Tochter, sie faltet immer wieder die Kleidung im Schrank und wischt den Staub von den Möbeln.

Die Porträts, die Martell zu erstellen versucht, sind nur ein kleiner Teil von dem, was die verschwundenen Frauen waren, nur Spuren. Die Identität hingegen, die die Familienangehörigen von den Verschwundenen haben, ihre einzige Annäherung an ihre Töchter, ist ein starkes Verharren in der Erinnerung. Bisher hat die Künstlerin 23 Fälle dokumentiert, und jedesmal sind die Orte so beibehalten worden, wie sie von den Frauen hinterlassen wurden. An der Kleidung haftet manchmal noch ein bisschen vom Geruch der Person, deshalb werden nur die Bettbezüge regelmäßig gewaschen. Alles andere bleibt so, wie es ist, und bildet eine einzigartige Atmosphäre.

In einem Zimmer hängt neben den Familienfotos an der Wand die Vermisstenanzeige der Tochter, in einem anderen hat eine Mutter eine Hose und Bluse auf das Bett gelegt, um der Fotografin die Statur ihrer Tochter Erika zu veranschaulichen: „Schau, so war mein Mädchen,“ sagt sie und streichelt die Kleidung dabei sehr zärtlich. Martell hat auch ein Stück Papier fotografiert, auf dem die neunjährige Anita schrieb: „Papa ich hab dich sehr lieb, du bist der beste Papa“; oder das Phantombild von Neyra, die seit 12 Jahren als vermisst gilt. Es ist das einzige Bild, das ihre Mutter María Salas von ihr hat. Eine andere Fotografie zeigt eine Liste, die Nohemí mit ihren kurz- und langfristigen Zielen am Spiegel hängen ließ:
– in den Schwimmverein eintreten
– hart arbeiten für die Einschreibegebühren der Schule 
– Geld für das Cervantino-Festival sammeln
– Schrank aufräumen
– das Haus im September streichen
– Stühle für das Esszimmer kaufen
– ein Paar Schuhe kaufen
– Platon lesen
– reden und sympathisch zu den Leuten sein

In manchen Fällen fangen die Familienangehörigen an, alle Sachen hervorzuholen und sie auf das Bett zu legen und bitten die Künstlerin, ein Foto davon zu machen. Da viele Familien nicht einmal ein Foto von den Vermissten haben, wird ihre Identität über die Erinnerung rekonstruiert. So gesehen fotografiert Martell nicht die Abwesenheit, sondern die Anwesenheit, die in den Räumen noch präsent ist. Daher gilt ihre Aufmerksamkeit auch den Betten und Decken der Verschwundenen.

In gewisser Weise sind die Zimmer der Verschwundenen eine Art Altar. Das Seltsame daran ist, dass es sich um Kinderzimmer handelt. Die Mädchen kommen aus unterschiedlichen sozialen Schichten, meistens aus ärmeren Verhältnissen. Die einzigartigen Details der Kinderzimmer – Plüschtiere, kleine Dekorationsfiguren, usw. – verwandeln sich in etwas Morbides, wo der Tod sehr präsent ist. „Ich habe noch nie so traurige Augen gesehen wie die, die mir bei dieser Arbeit begegnet sind. Es herrscht eine ununterbrochene Wehmut, wie die Mütter weinen, sich an etwas Schönes ihrer Töchter erinnern, dann lachen und anschließend wieder in eine tiefe Traurigkeit versinken. Ihre Trauer drückt sich in der ganzen Lebensart aus. Die Tage verstreichen, doch die Traurigkeit vergeht nie.“

Wenn ein Familienangehöriger stirbt, entsteht Resignation über den schweren Verlust eines geliebten Menschen. Genau dieses Gefühl ermöglicht es jedoch den Betroffenen allmählich, ohne die verstorbene Person weiterzuleben. Aber im Falle der Verschwundenen leben die Familienangehörigen in einem Schwebezustand, die Trauerarbeit kann nicht gelingen, weil die Hoffnung besteht, dass die Verschwundene noch am Leben ist. Dieser feine Unterschied zwischen Leben und Tod versetzt die Angehörigen fast in einen Wahnzustand und führt zu einem physischen und emotionalen Verschleiß, der sich im Laufe der Jahre anstaut. Es kann den Angehörigen nie wirklich gut gehen. „Ich habe gelernt, dass Hoffnung die größte Lüge auf dieser Welt ist und trotzdem aus emotionaler Sicht die logischste in diesen Zeiten. Seit manchem Verschwinden sind viele Jahre vergangen, in einigen Fällen gibt es nicht mal Bilder der Töchter. Ich fragte eine Mutter, ob sie sich an das Gesicht ihrer Tochter erinnern würde, und sie antwortete, dass sie jede Nacht von ihr träume. Ich habe den Eindruck, dass das Einzige, was die Betroffenen am Leben hält, die Tatsache ist, dass ihre Töchter zurückkehren werden.“ Die Familien denken sich 1000 und eine Geschichte darüber aus, was mit ihnen passiert sein könnte, aber wenn es Nacht wird, hoffen sie nur, dass ihre Vermissten einen sicheren Platz zum Schlafen haben. Ihr Lebensstil hat sich in ein tiefes Hoffen und Warten voller Wehmut und Ungewissheit verwandelt, mit einem unerklärlichen Schmerz, der daher rührt, dass sie nicht wissen, wo ihre Töchter sind.

„In Ciudad Juárez ist Tod in seiner perversesten Version etwas Alltägliches. Die unvorstellbarsten Gewalttaten werden an nahestehenden Menschen verübt. Der Tod bedeutet nichts, nur eine weitere Notiz in der Zeitung, ein weiteres totes Mädchen, ein weiterer Geköpfter. In Ciudad Juárez ist der Tod so alltäglich geworden, dass die Bewohner der Stadt es als gegeben hinnehmen, dass er in seiner schlimmsten Darstellung ein normaler Teil ihres Lebens ist.“ Die Künstlerin kommt in dem Beitrag von La Jornada zu dem Schluss, dass die Erziehung an den unmenschlichen Gewaltakten schuld ist: „Chihuahua war eine Kriegszone, wir befinden uns inmitten einer Wüste, die Familie, die Religion und die Behörden funktionieren nicht mehr, und wir haben keine neuen Werte gefunden. Die Grenzstadt ist eine Übergangsstadt und hat deshalb keine Identität. Aus ganz Mexiko, Mittel- und Südamerika kommen Menschen nach Ciudad Juárez. Die häufige Einstellung ‚ich bin hier, aber gleich wieder weg' schafft eine Gleichgültigkeit, die diese Grausamkeit ermöglicht. In Ciudad Juárez sind wir als Spezies schon verkommen, das ist nicht mehr zu retten.“

Die Fotografin betrachtet ihre Arbeit über die verschwundenen Frauen nicht als feministisch, sondern als menschlich, da sie auch die Väter, Brüder und eine ganze Gemeinschaft betrifft. Indem sie so intim wie möglich arbeitet, mit Liebe und Respekt gegenüber den Schicksalen, die daran beteiligt sind, versucht Martell zu verhindern, dass die Thematik in den Bereich der Sensationspresse rutscht. Ihre Fotografien sind Teil einer Besessenheit, die sie mit den Angehörigen gemeinsam hat: Die Existenz der Verschwundenen zu erhalten und wiederherzustellen. Neben ihrer Fotoserie Retrato utópico de la identidad fängt Mayra Martell auch andere Aspekte von Ciudad Juárez ein, wie z.B. mutmaßliche Mörder und kaputte Straßen. Am wichtigsten ist ihr, dass ihr Material „biologisch ist, mit einer biologischen Sprache, die Reaktionen und Emotionen im Betrachter hervorruft.“

Der Beitrag basiert auf einem E-Mail-Interview mit Mayra Martell und dem Artikel „Reconstruye fotógrafa la identidad de las desaparecidas de Juárez (mit Fotos)“ aus der mexikanischen Tageszeitung La Jornada vom 23. Juli 2008. Wir bedanken uns bei Ericka Montaño Garfias, Journalistin der Jornada, für die Unterstützung und der Vermittlung des Kontaktes zur Künstlerin.

Viola Campos ist Praktikantin in der ila-Redaktion.