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Wie leben die Toten?

Totentag im Süden Mexikos

Allerheiligen, Herbstzeit, fallende Blätter, Nebelschleier zwischen tropfenden Bäumen. Mit kleinen Schritten, die um die Pfützen Bogen schlagen, ziehen schwarz gekleidete Menschen mit Regenschirmen durch düstere Alleen zu ihren Gräbern, um die Toten mit Blumen und Kerzen zu ehren, die in unserem Gedenken weiterleben. Die Gesichter sind blass, voll geziemender Trauer, die Worte leise und ehrfürchtig, keine Musik stört die heilige Totenruhe. Der Tod ist ein ernstes Geschäft und eine todtraurige Angelegenheit. Ende. Aus. Schluss mit Lustig. Anders in Mexiko: da ist der Tod ein Arme schlenkerndes Gerippe, das mit Begeisterung Musik fiedelt oder trötet, gern das Tanzbein schwingt, Rauchen und Trinken nicht vergisst und sich auch als zuckriger Schädel präsentieren kann, auf dem sogar der eigene Name prangt. Schon ab Mitte Oktober sind die Schaufenster der Konditoreien in der Hauptstadt mit süßen Totenschädeln gepflastert, und die Geschäfte sind voll von flatternden und klappernden Gebeinen, die einem hinter jeder Ecke ihr fleischloses Gebiss entgegenblecken.

Uwe Bennholdt-Thomsen

Auch wir Europäer kannten im Mittelalter den Totentanz, bei dem das grinsende Gerippe uns zur letzten Polka bat. Die Mexikaner aber haben bis zum heutigen Tag eine wahre Festkultur entwickelt, bei der sie den Tod bzw. die Toten auf dem Friedhof und in den Häusern mit wilden Verkleidungen oder bei opulenten Gelagen feiern. Ich bin in eine kleine Stadt im Süden Mexikos gefahren, um die Feiern zu Allerheiligen mitzuerleben. Hier ist es jetzt keineswegs neblig trüb, sondern um die 30° warm, strahlend blauer Himmel, häufig geht ein frischer Wind, der die langen bunten Röcke der Blumenverkäuferinnen aufbauscht, die in diesen Tagen gute Geschäfte machen wollen. Bestimmt mehr als hundert sitzen im Park vor dem Bürgermeisteramt und verkaufen Blumen, Blumen, Blumen, vorherrschend in den Farben Gelb und Rot bis Lila. Für das Gelb hat Tagetes, unsere Studentenblume, das Monopol, hier Cempuaxuchil genannt, aztekisch die Totenblume. Aus dem Rot ragt der Hahnenkamm hervor, eine riesig samtrote Staudendolde, dazu Berge von Luzernen und Rosen in jeder Schattierung. Alle eingebettet in das Grün ihrer Blätter und duftende Basilikumbüschel. Für schlanke Weißakzente sorgen verschiedene Lilienarten und Gladiolen. Außerdem werden Kerzen angeboten, Totenbrot – eine mit Zuckerguss verzierte Wecke –, Plastik- und Pappfiguren, Masken und die Totenschädel aus Zucker.

Ich schlendere unentschlossen über den Platz und studiere die Gesichter der Verkäuferinnen, die häufig auch ihre Kinder dabei haben. Nach langem und heißem Feilschen habe ich für den Hausaltar meiner Freundinnen zwei Sträuße Gladiolen, Tagetes und weiße Wolkenblumen erstanden, aber mit den hiesigen Frauen kann ich nicht konkurrieren, die ärmeweise ihre leuchtende Blumenpracht nach Hause schleppen. Es ist der 29. Oktober, und es gilt die Vasen und Töpfe für den Altar vorzubereiten, der ab morgen den Toten ein strahlendes Willkommen bieten soll. Für jeden Verstorbenen des Hauses steht schon eine Kerze bereit, die Heiligenbilder wurden geputzt und die Fotos der nächsten Verwandten auf die Ehrenplätze gerückt. Auch Früchte, vor allem Bananen, Äpfel, Kokosnüsse und ein paar Trauben, die der Großvater so gerne aß, werden kunstvoll auf das weiße Tischtuch eines niedrigeren Tischchens vor dem Altar geschichtet. Um das Gesamtbild zu vollenden, braucht es jetzt noch dazwischen gestreute weiß duftende Blüten vom Guiexhuba, dem Jasmin des Isthmus, und frische Blätterzweige als Girlanden. Ein Glas Wasser ist wichtig, Erfrischungsgetränke, Bier und vielleicht ein Gläschen Mezcal, auch eine Flasche Rum findet noch ihren Platz. Das ist die einfachere Form des Altars zum Totentag, denn der letzte Sterbefall bei uns im Haus liegt schon mehr als drei Jahre zurück.

Ich schaukele faul in der Hängematte, blinzle in das winddurchtobte Himmelblau und frage Florinda scheinheilig: Was machen die Toten denn, wenn sie sterben? Sie lacht und weist mit der ausgestreckten Hand nach oben: „Sie fliegen in den Himmel. Aber zuerst können sie sich nicht so leicht von der Stätte ihres Lebens trennen. Deshalb werden sie in den ersten Wochen noch von ihren Angehörigen betreut. Wo die Leiche mit dem Gesicht zum Hausaltar aufgebahrt war, wird, sobald der/die Tote zum Friedhof gebracht ist, auf einer Decke ein Kreuz aus Sand und Blumen ausgelegt, mit einem Ziegelstein für den Kopf. Darum herum stehen Vasen mit langstieligen Blumen und viele Kerzen. Neun Tage lang darf die nächststehende Trauernde das Zimmer nicht verlassen, denn die Seele oder der Geist des Toten ist noch anwesend und will nicht allein gelassen werden. Im Ganzen vierzig Tage lang geistert die Seele noch um das Haus, unstet und wie in einem Zwischenstadium zwischen Leben und Tod. Erst dann, wenn auch ihr Blumenkreuz an einen geweihten Ort gebracht ist, kann sie sich vom Leben trennen und begibt sich auf die ewige Reise. Ob es länger dauert, bis sie den Himmel da hinter den Wolken erreicht, weiß ich auch nicht. Jedenfalls ist jetzt ihre Lebensmüh zu Ende, und im Tode ruht sie aus wie in einem ewigen Traum“. Don Pancho, der Pfarrer der Stadtkirche, hatte erzählt, die meisten glaubten, der Ort der Toten sei ein „prächtiger Garten“. 

Ich muss noch etwas fragen: „Dass in den ersten beiden Jahren der Altar mit besonderer Sorgfalt und Liebe geschmückt wird, kann ich gut verstehen, dann sind die Geister uns und dem Leben noch näher, aber warum darf man den Toten ihren großen Festaltar nicht aufbauen, wenn ihr Ableben erst weniger als drei Monate her ist?“ Florinda lacht schon wieder: „Weil sie sonst nicht genug Zeit gehabt haben, um den Aufenthaltsort der Toten zu erreichen oder sich in den Strom der Besucherseelen einzugliedern, die ihnen unterwegs schon entgegen kommen.“ Ich setze meine Hängematte wieder in Bewegung, sehe dem durchsichtigen Gecko auf der Mauer zu, der unter der Glühbirne nach Mücken schnappt, und versuche zu verstehen, wie konkret ich selbst mir die verstorbenen Seelen vorstellen könnte. Mir scheint, es passt zu den Menschen hier, dass sie auch tot noch sehr lebendig sind und sich eine fast körperliche Präsenz bewahren.

Sebastiana hat mich für den 30. Oktober morgens früh in ihr Haus eingeladen, sie wohnt in einem Stadtteil, in dem die Traditionen noch getreulicher befolgt werden als im Zentrum. Die Männer laden gerade meterlange Bananenstauden vom Ochsenkarren, und im Hof sitzen die Frauen zusammen und kochen Tamales mit Mole. Das ist die traditionelle Speise, die den BesucherInnen angeboten wird. Es ist Pflicht, alle Häuser zu besuchen, in denen ein Verwandter oder Freund jüngst verstorben ist. Und bei den engen verwandtschaftlichen und gesellschaftlichen Verflechtungen kommen eine Menge Verpflichtungen zusammen. „Die Toten bringen die Lebenden ganz schön in Bewegung“, sagt Don Pancho. Man bringt eine Kerze oder Blumen mit, und auch ein Almosen sollte nicht fehlen. Dafür werde ich auch mit den in einem Bananenblatt gegarten Teigtaschen bewirtet, gefüllt mit Huhn in dunkler, herb süßer Sauce. Aber noch stecken alle mitten in den Vorbereitungen. 

Der Aufbau des Altars wird meist von den Männern, die Ausschmückung von den Frauen vorgenommen. Eigentlich ist der 30. Oktober für den Besuch der verstorbenen Kinder, Jungfrauen und Junggesellen reserviert, der 31. und 1. für die anderen, aber das wird nicht mehr so eng gesehen. Das Fest für die Seele der Verstorbenen im ersten Jahr heißt Xandu Yaa, und die alte, historische Form für den großen Hausaltar, die wohl auf zapotekische Traditionen zurückgeht, ist das Biguie'. Während noch daran gearbeitet wird, versuche ich dahinter zu kommen, wie das Biguie' konstruiert ist: ein etwa quadratischer Holzrahmen von zwei mal zwei Metern, in den ein Zwischengeflecht aus Palmzweigrippen eingezogen ist, mit gelben und roten Blüten durchwirkt, dazwischen werden Bananenbüschel, Äpfel, Brote und die Marquesotas gehängt, eine Art viereckiger Kuchen mit dem Namenszug des/r Toten aus Zuckerguss. Dieses Gestell wird über dem Altar unterm Dach aufgehängt. Das Biguie' wird meist noch von einem aus Bananenstauden geflochtenen Bogen überragt, der wie ein Triumphbogen des prallen Lebens wirkt. Auch der Raum vor dem Altar ist mit Früchten wie Apfelsinen, Pampelmusen, Limetten, Kokosnüssen und mit Blumenvasen, Gebäck und Getränken voll gepackt.

In Sebastianas Haus sind die Männer mit der Arbeit fertig, auch FreundInnen und NachbarInnen haben geholfen. Es ist neun Uhr morgens, wir sitzen an der Wand um den Altar herum, und ein Schnäpschen wird angeboten. Untereinander reden die Männer ausschließlich zapotekisch, verstehen aber auch spanisch. Ich erzähle, wie es an Allerheiligen in Deutschland aussieht und treffe auf ungläubiges Erstaunen. An so einer Feier hätten ja weder die Toten noch die Lebenden ihre Freude. Victor, der Sohn des Verstorbenen, von Beruf Fernfahrer, erzählt, dass er die ganze Feier nur seiner Mutter zu Liebe ausrichtet, denn das wäre für sie lebensnotwendig. Er glaube natürlich nicht an ein Leben nach dem Tod, dann sei sowieso alles zu Ende, er sei Trotzkist und also Materialist. Ein anderer pflichtet ihm bei, ihm gehe es genauso, aber er würde den Ritus auch mitmachen, denn es sei für alle wichtig, die Traditionen zu bewahren. 

Dann erzählen sie genüsslich Anekdoten – durch absolut glaubhafte Personen bezeugt! – über allerhand Schabernack, den die Toten mit den Lebenden treiben. Und immer wieder Geschichten, in denen Menschen, die nicht an den Besuch ihrer Toten glaubten und nichts vorbereitet hatten, in Träumen oder noch direkter erfuhren, wie enttäuscht ihre Angehörigen dann mit leeren Händen von dannen zogen. Von Strafen oder bösartigen Streichen seitens der Verstorbenen habe ich nichts gehört, aber von dem Lärm, den etwa die Geister der Kinder machen, wenn sie in der Nacht mit ihrem Spielzeug herumtollen, wie die Geister ihren Angehörigen und FreundInnen Zeichen geben oder dass die Früchte und Getränke nach den drei Tagen ihr Aroma verloren haben und nach nichts mehr schmecken; davon sind alle überzeugt. Nicht jeder ist in der Lage, die Gegenwart der Toten wahrzunehmen, es gehört eine besondere mediale Befähigung dazu. Sebastiana und Victor sind stolz auf ihr Werk und ihre Toten. Für sie ist es ganz selbstverständlich, dass sie sich den Verstorbenen nah und verbunden fühlen. Außerdem beschützen die Geister die Lebenden, darum muss ihr Foto auch auf dem Altar stehen, meint Victor.

Die Seelen werden nach Sonnenuntergang erwartet. Ich besuche mit einer Freundin das Haus von Anita, die vor einem halben Jahr einen Streit zwischen zwei Bekannten schlichten wollte und daraufhin von einem der beiden Streithähne erschossen wurde. Ihr Altar ist eine Stufenpyramide mit elf prächtig geschmückten und mit Gaben überladenen Stufen, wohl die katholische, neuere Form, gekrönt von einem sehr schönen Foto der Verstorbenen, und wenn ich nicht wüsste, dass sie ein Muxhe war, also ein Mann, der als Frau gelebt hat, hätte ich es nicht gemerkt. Die Muxhes in Juchitán fühlen sich schon als Kinder mehr weiblich als männlich, kleiden sich als Mädchen und verrichten vornehmlich Frauenarbeit, dürfen auf dem Markt wie die Frauen Handel treiben und sind große Meisterinnen beim Besticken der Huipiles, der ortstypischen Mieder. 

Wir nehmen dem Altar gegenüber Platz, die nächsten Angehörigen sitzen an der rechten Seite. Die Mutter und später auch die Großmutter bejammern den allzu frühen und so sinnlosen Tod der Verstorbenen mit großen theatralischen Gesten, die Klagen sind voll Pathos, von antiker Größe. Wir werden mit Kaffee und Tamales bewirtet, begleiten eine Zeitlang die Trauernden und bewundern den wunderschönen Altar. Draußen auf der Veranda sitzen ihre deutlich geschminkten und festlich zurecht gemachten Muxhe-Freundinnen, im Hof trinken und reden die Männer. Die Gespräche werden immer wieder von schallendem Gelächter unterbrochen, wenn eine besonders schlüpfrige Anspielung gelingt, auch Kritik an der Verstorbenen ist nicht ungehörig, und die Angehörigen werden in diese nicht sehr ehrfürchtigen Gesprächsrunden einbezogen. Es wird spät, bevor ich mich in meiner Hängematte in den Schlaf schaukele und all den Geistern, denen ich heute begegnen durfte, noch einmal zuwinke.

Am Vormittag des zweiten November strömen aus allen Häusern Menschen mit Eimern voll Blumen, gelb leuchtenden Blumenpacken auf den Köpfen und sogar mit Handwagen Richtung Friedhof, denn heute gilt es, die Toten wieder auf den Weg zu bringen. Wir müssen Abschied von ihnen nehmen, die jetzt zurück wandern in das Reich, wo sie zu Hause sind. Die Heilerin Na Ofelia erzählt mir am nächsten Tag, dass die Frauen mit dem Zweiten Gesicht sie sehen können, wie sie von dannen ziehen, die meisten mit Früchten und Blumen beladen, einige aber traurig und mit leeren Händen: ihnen wurde von den Verwandten kein großer Empfang bereitet. Jedenfalls hat niemand von ihnen nach allgemeiner Meinung das Fegefeuer oder gar die Hölle zu erleiden, was mir auch Pfarrer Don Pancho bestätigt. „Nein, das entspricht nicht unserer Tradition, der Tod ist für die Menschen hier die verdiente Ruhe nach einem pflichterfüllten Leben, auch wenn es dem überwiegenden Teil schon zu Lebzeiten ziemlich gut geht. Natürlich ist unser Bischof mit solchen Vorstellungen nicht einverstanden, aber die Diözese ist groß. Und im Hause des Herrn ist Platz für viele Glaubensformen.“

Als ich mit meinem Fotoapparat den Friedhof erreiche, wimmelt es dort schon von Menschen, die die Gräber putzen und mit frischen Blumen schmücken. Und wo viele Juchitecas beieinander sind, wird gleich alles mögliche für das leibliche Wohl feilgeboten. Auch aus dem Abschied von den Verstorbenen wird unter der strahlenden Sonne wieder ein lautes und lebhaftes Fest. Es scheint beiden Seiten, den Lebenden und den Toten, gut gefallen zu haben, ein paar Tage zusammen zu verbringen. „Gehabt euch wohl denn, bis zum nächsten Mal!“