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Exil ohne Rückkehr

Zwei neue Bücher beleuchten das Exil der 1943 in Mexiko gestorbenen Alice Rühle-Gerstel
Gert Eisenbürger

Die 1894 in Prag geborene Psychologin und Feministin Alice Rühle-Gerstel war in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren eine der spannendsten linken Intellektuellen im deutschsprachigen Raum. Zudem zeigen die ab Ende der siebziger Jahre erstmals veröffentlichten Texte aus ihrer Zeit in Mexiko, wo sie ab 1936 als Flüchtling lebte, dass sie auch eine großartige Schriftstellerin war. Insbesondere ihr Roman „Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit“ gehört für mich zu den wichtigsten Büchern des antifaschistischen Exils. Literarisch weniger ambitioniert, aber durchaus interessant ist das Bändchen „Kein Gedicht für Trotzki“, in dem sie in Tagebuchaufzeichnungen ihre Begegnungen mit dem ebenfalls nach Mexiko geflohenen Lew Dawidowitsch Bronstein, genannt Trotzki, beschreibt.

Obwohl inzwischen eine Biographie1 und mehrere wissenschaftliche Arbeiten über Alice Rühle-Gerstel erschienen und der Roman sowie die Trotzki-Aufzeichnungen (beide waren lange vergriffen) neu aufgelegt worden sind, ist diese Autorin leider immer noch wenig bekannt.

Nun sind 2020 gleich zwei Neuerscheinungen zu beziehungsweise von ihr erschienen. Zunächst im Frühsommer das Buch „Widerstand zum Exil im Exil: Alice Rühle-Gerstel und Leo Trotzki in Mexiko“ von Mechthild Podzeit. Die Autorin (Jg. 1955), selbst Schriftstellerin, hat den Text als Masterarbeit an der Universität Wien vorgelegt. Sie hatte die spannende Idee, die Arbeit nicht klassisch aufzubauen, sondern das von ihr angestrebte Gesamtbild als Mosaik aus Aussagen von Zeitgenoss*innen und entsprechenden Exkursen über sie anzulegen.

Dabei bin ich auf Aspekte in der Vita von Alice Rühle-Gerstel gestoßen, die ich bisher kaum beachtet hatte, etwa ihre Tätigkeit als Krankenschwester in einem Militärlazarett 1914/15, worin Podzeit, selbst jahrelang als Krankenpflegerin in der Intensivpflege tätig, einen Schlüssel für die Hinwendung Rühle-Gerstels zur Psychologie und zum Engagement gegen Autoritarismus und Militarismus sieht.

Bei fortschreitender Lektüre fragte ich mich allerdings, was viele der Exkurse eigentlich mit Trotzki und Rühle-Gerstel zu tun haben. Manches hilft sicherlich bei der historischen Einordnung. Doch oft fehlt jeglicher Bezug zum eigentlichen Sujet, etwa bei den Passagen über den Holocaust oder den Antisemitismus in der Sowjetunion. Ja, beide kamen aus jüdischen Familien. Aber gerade beim Thema Antisemitismus sollte man genau sein: Weder Trotzki noch Rühle-Gerstel wurden wegen ihrer jüdischen Herkunft zu Verfolgten. Trotzki unterlag im Machtkampf in der bolschewistischen Führung nach Lenins Tod, Rühle-Gerstel emigrierte bereits 1932 aus Dresden nach Prag, weil ihr und ihrem Ehemann Otto Rühle (Jg. 1874) klar war, dass die Nazis an die Macht kommen würden und sie wegen ihrer links-libertären publizistischen Tätigkeit unmittelbar bedroht wären.

Die Person Trotzki scheint die Autorin wenig interessiert zu haben. Das überrascht, schließlich suggeriert der Buchtitel, es gehe um Alice Rühle-Gerstel und Leo Trotzki. Da sollte schon etwas mehr über sein Leben und seine politischen Vorstellungen kommen als ein paar Zitate aus Wikipedia-Einträgen. Trotzki dient Podzeit vor allem als Spiegel für ihre Interpretation der Situation Rühle-Gerstels im Exil.

Auch wenn im Untertitel ausdrücklich das Buch „Kein Gedicht für Trotzki“ genannt ist, bezieht sich Podzeit stärker auf den Roman „Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit“. Problematischerweise tendiert sie dazu, die Protagonistin Hanna mit Alice Rühle-Gerstel gleichzusetzen. Im Roman entwickelt eine kommunistische Aktivistin, die 1935 als Flüchtling aus Deutschland in ihre Geburtsstadt Prag kommt, immer größere Widersprüche zur KPD und löst sich schließlich von der Partei. Das hat nichts mit Alice Rühle-Gerstels politischem Werdegang zu tun. Die hatte zwar, wie sie im Trotzki-Tagebuch erzählt, 1919/20 große Sympathien für die Russische Revolution und sogar ein Bild des jungen Trotzki über ihrem Bett hängen, aber der KPD stand sie schon Anfang der zwanziger Jahre sehr distanziert gegenüber. Ihr Roman ist eine – absolut überzeugende – Kritik an der Politik der Kommunistischen Parteien vor und nach 1933, aber keine autobiographische Reflexion.
Ein Grundproblem der Arbeit ist, dass Podzeit die Rolle und die Position Otto Rühles und Alice Rühle-Gerstels in der Weimarer Republik weitgehend ausklammert und ihre Probleme in Mexiko, vor allem ihre zunehmende Vereinsamung, primär auf die Exilsituation zurückführt. Natürlich sind viele Flüchtlinge aus Nazideutschland am Exil zerbrochen, die Liste der Suizide ist erschreckend lang. Doch die Isolation Alice Rühle-Gerstels und Otto Rühles begann bereits Mitte der zwanziger Jahre in Deutschland. Otto Rühle hatte bis 1925 schon mehrere politische Stationen durchlaufen (SPD, Spartakusbund, KPD, die linksradikale KAPD, die rätekommunistische AAUE). Alice Rühle-Gerstel war Vertreterin der Individualpsychologie Alfred Adlers, die sich scharf von der Psychoanalyse Freuds abgrenzte. Unter der im Vergleich zu den Freudianer*innen relativ kleinen Gruppe der Adler-Anhänger*innen war Rühle-Gerstel wiederum als Marxistin absolut minoritär.

Bei Otto Rühle war es wohl so, dass er in allen politischen Zusammenhängen stets die Unterschiede und nicht die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stellte, weshalb es immer wieder zu Brüchen kam. Ab 1925 betrieben Otto und Alice Rühle weitgehend alleine den Verlag „Am anderen Ufer“, in dem sie vor allem antiautoritäre pädagogische Texte veröffentlichten. Zudem schrieben sie unaufhörlich und waren dabei intellektuell enorm innovativ: Alice Rühle-Gerstels Bücher „Der Weg zum Wir“ und besonders „Das Frauenproblem der Gegenwart“ (1973 unter dem Titel „Die Frau im Kapitalismus“ neu aufgelegt) sind Klassiker des Feminismus, Otto Rühles Arbeiten zu Karl Marx, zu den Revolutionen in der europäischen Geschichte und die zweibändige „Illustrierte Sittengeschichte des Proletariats“ sind bis heute aktuell. Es ist kein Zufall, dass die Schriften von beiden nach 1968 vom antiautoritären Flügel der Studierendenbewegung wiederentdeckt wurden.

Solange beide intellektuell produktiv sein und publizieren konnten, war ihre weitgehende Isolation verkraftbar. Als sie jedoch im mexikanischen Exil dieser Möglichkeiten beraubt waren, wurde sie für Alice Rühle-Gerstel immer schwerer erträglich. Trotzki war als Verfolgter und ebenfalls Minoritärer in der internationalen Arbeiterbewegung für beide ein gefühlter Verwandter, obwohl sie politisch weit voneinander entfernt waren, was schließlich zu einer Abkühlung des zunächst herzlichen Verhältnisses führte. Otto Rühle, der aus seinen Konflikten mit politischen Weggefährt*innen immer auch ein Stück Lebensenergie bezog, wurde für seine Gefährtin immer mehr zum einzigen Rettungsanker. Als er am 24. Juni 1943 in Mexiko-Stadt überraschend an einem Herzinfarkt starb, verlor Alice Rühle-Gerstel jeglichen Lebensmut und beging Suizid.
Ende 2020 erschien das zweisprachige Kinderbuch „Tommy’s Trip to Mexiko – Tommys Reise nach Mexiko“, zu dem Alice Rühle-Gerstel den Text schrieb und Otto Rühle die Illustrationen beisteuerte. In Mexiko war die finanzielle Lage der Rühles prekär. Otto Rühle hatte von 1935 bis Anfang 1938 als Berater im Erziehungsministerium gearbeitet. Als er diese Stelle verlor, war der 63-Jährige ohne Einkünfte. Während Alice durch Übersetzungen ein unregelmäßiges Einkommen erzielen konnte, besann sich Otto auf sein Zeichentalent und malte Postkarten mit mexikanischen Motiven, die Alice vervielfältigen ließ und verkaufte. Dem Versuch, etwas Geld zu verdienen, entsprang auch die Idee, ein englischsprachiges Kinderbuch zu machen und es Verlagen in den USA anzubieten. Der Text und die Illustrationen entstanden, einen Verlag dafür fanden sie aber nicht. Marta Marková, Biographin und Nachlassverwalterin Alice Rühle-Gerstels, die das Manuskript 1997 entdeckte, wollte es unbedingt veröffentlichen, was ihr nach langer Suche nach einem Verlag schließlich auch gelang.

Das englische Original ist mit den Aquarellen Otto Rühles gestaltet, im Anhang finden sich das Faksimile des Typoskripts von Alice Rühle-Gerstel mit ihren handschriftlichen Korrekturen sowie eine deutsche Übersetzung von Anton Pelinka. Die Geschichte ist wenig spektakulär: Tommy aus Baltimore verbringt seine Ferien bei Bekannten seines Vaters in Mexiko. Gemeinsam mit Guadelupe, der Tochter seiner Gastgeberfamilie, erkundet er die Gegend und beschreibt, was er in Mexiko sieht und was ihn fasziniert. Auch wenn das Buch überhaupt nicht politisch ist, wird deutlich, dass die Autorin einen kritischen Blick hat und nicht irgendwelche Sehenswürdigkeiten, sondern den Alltag der ärmeren Mexikaner*innen in den Fokus stellt und dabei auch die Geschlechterverhältnisse thematisiert: etwa wenn Tommy staunend feststellt, dass die Frau schwer beladen zu Fuß gehen muss, während ihr Mann auf dem Maultier reitet. Die Illustrationen Otto Rühles fangen die Farben Mexikos, etwa der Blumen und indigenen Trachten, sehr gut ein, ohne dabei klischeehaft oder kitschig zu wirken.

Abgerundet wird die sehr schöne Ausgabe durch ein biographisches Vorwort Marta Markovás, ein von Otto illustriertes langes Gedicht Alices über die Reise der beiden an den Chapalasee sowie durch zahlreiche Fotos der Rühles in Mexiko.

  • 1. Marta Marková: Auf ins Wunderland. Das Leben der Alice Rühle-Gerstel, Studienverlag Innsbruck/Wien, 2. Auflage 2008, 548 Seiten, 49,90 Euro