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Roatán – ein neuer Blue Space?

Wie eine Privatstadt in Honduras entsteht

Blue Space – so werden in rechts-libertären Kreisen politisch unbeanspruchte Räume bezeichnet. In der Theorie sind es Räume auf dem Meer, praktisch aber Gebiete ohne jegliche politische und kulturelle Bindung an einen Staat, also Territorien, auf denen Privatstädte errichtet werden können. Eine solche Stadt, die in Honduras „Sonderzone für Beschäftigung und ökonomische Entwicklung“ (ZEDE – Zona de empleo y desarrollo económico) genannt wird, entsteht aktuell auf der zu Honduras gehörenden Karibikinsel Roatán. Darüber, wie diese Stadt funktionieren soll, wer die zentralen Akteure sind und welche Theorien dahinterstecken, haben Kirstin Büttner und Rita Trautmann mit der US-amerikanischen Anthropologin Beth Geglia und der honduranischen Juristin Andrea Nuila gesprochen.

Kirstin Büttner
Rita Trautmann

Beth, kannst du uns die Idee hinter den ZEDES erläutern?

BG: Charter Cities oder ZEDEs sind Teil einer territorialen Ideologie, die von verschiedenen Gruppen vertreten wird, die sich zunehmend in einer Bewegung zur Bildung von Privatstädten auf der ganzen Welt organisieren. Diese Bewegung wurzelt sowohl in der marktradikalen Ideologie als auch im Techfuturismus. Die Bewegung für private Städte wird von deren Promotor*innen als Ideologie der „radikalen Dezentralisierung“ bezeichnet. Meines Erachtens verschleiert der Begriff das Konzept. Ich bevorzuge den Begriff der territorialen Flexibilisierung. Zusammen mit den Prozessen der Flexibilisierung von Arbeit nützt beides dem Kapital, die Zwänge der neoliberalen Ära zu überwinden.

Was ist mit territorialer Flexibilisierung gemeint?

BG: Das Monopol, das Nationalstaaten im Hinblick auf die Souveränität haben, steht einem Governancemarkt mit konkurrierenden privaten Rechtsprechungen im Weg. Durch territoriale Flexibilisierung werden sowohl Territorium als auch Regierungsführung den Marktkräften unterworfen, indem die Souveränität und das Territorium vom Nationalstaat entkoppelt werden. Praktisch geht es um eine Wettbewerbsfähigkeit von Regierungen; Demokratien sind hierbei störend und werden letztendlich abgeschafft.

Governance (Regierungsführung) wird zu einer Dienstleistung, die von einem privaten Unternehmen erbracht wird, die Staatsbürgerschaft ist direkt mit dem Besitz von Eigentum verbunden. Weitere Bestandteile dieser Privatstadtideologie sind Technikutopismus und Futurismus. Die radikalste Erweiterung dieser Logik zielt auf die Verwirklichung von „Governance ohne Geographie“ ab. Diese Idee geht davon aus, dass Technologie Regierungen ersetzen kann. Eine Zukunft, in der das Territorium obsolet wird und die Gerichtsbarkeiten nur noch virtuell existieren. All dies wird mit der ZEDE Próspera in Honduras mit einem e-residency-Programm realisiert, das von der Technischen Universität München (TUM) entwickelt wird.

Was verbirgt sich hinter Blue Space?

BG: In der Theorie der Privatstädte steht die Bezeichnung Blue Space für einen Raum auf dem Ozean. Es kann aber auch ein City-Venture-Projekt sein, wie das in Honduras der Fall ist. Der Grundgedanke dahinter ist, dass es Land ohne kulturelle und politische Bindungen gibt. Geprägt hat diesen Begriff das Seasteading Institute. Außerdem gibt es ein zunehmend organisiertes Netzwerk von Gruppen und Institutionen, die an dieser Idee arbeiten. Zu nennen wären Peter Thiel, prominenter Techkapitalist aus dem Silicon Valley, und Patri Friedman, Enkel von Milton Friedman, der so etwas wie der Großvater der Ideologie der freien Marktwirtschaft ist. Beide haben 2008 das Seasteading Institute gegründet.

Paul Romer stellte 2009 seinen Charter-City-Vorschlag öffentlich vor. Zwei Jahre später, 2011, fand die „Zukunft der freien Städte“-Versammlung auf Roatán statt. Im Jahr 2015 wurde dann die „Startup Society Foundation“ mit Patri Friedman im Vorstand gegründet, die die Akteure der Bewegung vereint. Das erste „Startup Society Summit“ 2017 in San Francisco gilt als die erste „Private-Stadt-Messe“ überhaupt.

Der Ort, an dem sie alle zusammenkommen, ist das CAMP in Honduras, das „Komitee zur Anwendung guter Praktiken“ (Comité para la Adopción de Mejores Prácticas). Die honduranischen Eliten hängen allerdings meines Erachtens nicht unbedingt der Blue-Space-Ideologie an. Ihr Interesse an den ZEDEs basiert eher auf einer Art klassischem Race-to-the-Bottom-Neoliberalismus und der Suche nach Investitionen. Dazu kommen narco-territoriale Interessen, die möglicherweise die honduranische Führung dahingehend beeinflussen, dieses territoriale Modell zu verfolgen.

Was genau ist das CAMP?

BG: Das CAMP ist so etwas wie der Vorstand aller ZEDEs im Land, aber es ist auch ein Gremium, das die ZEDEs international bewirbt und Investor*innen sucht. Es wurde 2014 gegründet und hat 21 Mitglieder, die unter anderem weltweit führende neoliberale Institutionen wie das Cato Institute und das Hayek Institute repräsentieren. Die Hauptaufgaben des CAMP sind die Genehmigung von ZEDE-Vorschlägen von Investorengruppen sowie die Genehmigung des technischen Sekretärs, des obersten Verwalters einer ZEDE. Wichtig ist, dass das CAMP die ZEDEs auch ohne die Zustimmung des Kongresses in „Gebieten mit geringer Bevölkerungsdichte“ in den honduranischen Departements genehmigen kann, die an den Pazifischen Ozean und den Golf von Fonseca im Süden grenzen. Im Inland ist die Zustimmung des Kongresses erforderlich, bei hoher Bevölkerungsdichte ist auch eine Art Volksabstimmung vorgesehen.

Wie sieht diese Struktur konkret bei der ZEDE Próspera auf Roatán aus?

AN: Die Struktur der Leitung von Próspera spiegelt ganz gut wider, wie speziell die Beziehung zwischen dem CAMP und dem Kuratorium, dem Leitungsgremium der ZEDE, in Próspera funktioniert. Es spiegelt auch die reale Macht wider, die der technische Sekretär hat, der in diesem Fall so etwas wie der Präsident der ZEDE ist.

BG: Der technische Sekretär der ZEDE Próspera ist Tristan Monterroso, gebürtig aus Roatán. Der Sekretär des Kuratoriums ist der Venezolaner Erick Brimen. Er ist US-Staatsbürger und CEO von NeWay Capital, der primären Investmentfirma von Próspera. Innerhalb von NeWay findet man Leute wie Tom Murcott, ein bedeutender Immobilienentwickler rund um die Welt, etwa in Songdo in Südkorea. Im Beirat sitzt Gabriel Delgado, ein Tech- und Finanzunternehmer im Bereich digitale Währungen. Der deutsche Titus Gebel, der in früheren Dokumenten als Mitglied des Kuratoriums erscheint, ist derzeit CEO der Beraterfirma Tipolis, die an der Entwicklung neuer privater Gerichtsbarkeiten arbeitet.

Die Próspera ZEDE hat eine ähnliche Logik wie eine öffentlich-private Partnerschaft (PPP), geht aber über den rechtlichen Rahmen hinaus. Sowohl öffentlich-private Partnerschaften als auch ZEDEs bieten eine Möglichkeit, staatliche Aufgaben an private Akteure auszulagern, mit dem Unterschied, dass die ZEDE nicht den honduranischen Gesetzen folgen muss. Die ZEDE-Regierungen haben sogar die Möglichkeit, völlig unabhängig von der honduranischen Regierung Verträge mit privaten Unternehmen abzuschließen.

Andrea, kannst du am Beispiel „Próspera“ erklären, wie es rein rechtlich möglich ist, eine solche ZEDE auf honduranischem Staatsgebiet aufzubauen?

AN: Die Form dieser Para-State-Entity wird in Honduras über das ZEDE-Gesetz etabliert. Vorweg möchte ich erwähnen, dass die Charter-Cities in Honduras zwar legal in dem Sinne sind, dass sie ihren eigenen rechtlichen Rahmen haben, ihre Legitimität jedoch höchst fragwürdig ist. Durch den Staatsstreich von 2009 gab es einen Übergang zu einer national-konservativ dominierten Regierung, die sowohl über den Kongress als auch die Exekutive die Macht hat. Im Jahr 2011wurde das Gesetz über die sogenannten speziellen Entwicklungsregionen (RED) verabschiedet. Als der Oberste Gerichtshof einer Verfassungsklage dagegen stattgab, folgte ein institutioneller Putsch. Vier der fünf Richter der Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs, die den Klagen stattgegeben hatten, wurden entlassen. Damit hatte die Nationale Partei auch die Judikative unter Kontrolle. Im Jahr 2013 wurde das Gesetz dann verabschiedet und ZEDEs genannt, Sonderzonen für Beschäftigung und Entwicklung (siehe auch Artikel in der ila 402, S. 36). Schließlich wurde 2020 bekannt, dass in Roatán die ZEDE Próspera gegründet wird. Erst vor zwei Monaten bekamen wir den ersten Entwurf der Charta für diese ZEDE zu sehen, der schon 2017 in der honduranischen Botschaft in Washington unterzeichnet worden war.

Wie konnte alles so lange geheim gehalten werden?

AN: Zum einen herrschte aufgrund der Wiederwahl des aktuellen Präsidenten viel Unruhe in Honduras. Zum anderen müssen wir bedenken, dass 2013, zeitgleich mit der Verabschiedung des ZEDE-Gesetzes, mehrere andere Gesetze durch den Kongress gingen, die den rechtlichen Rahmen ergänzten. Eines davon war ein spezielles Gesetz zur Geheimhaltung von Dokumenten, die sich auf „nationale Verteidigung und Sicherheit“ beziehen. Das war eine Art Schutzschild, der sehr gut funktionierte, um die Verhandlungen und alles zu vertuschen, was um die ZEDEs herum passierte. Es gab also eine Menge Spekulationen um die Verhandlungen und die zukünftigen Projekte, aber keinerlei Informationen wurden veröffentlicht, nicht einmal in den Medien.

Ist die Próspera-Charta so etwas wie eine Verfassung?

AN: Ja, sie legt die Regierungsstruktur fest, die Treuhandfonds, die Besteuerung, die Streitbeilegung, die zwischen dem Schiedsgericht und dem ZEDE-Gericht aufgeteilt ist. Die ZEDE hat eigene Sicherheitsregelungen, Aufenthaltsrechte und ein eigenes Strafrechtssystem, aber aktuell keinerlei soziale Rechte. Die sogenannten Bill of Rights bilden den ZEDE-eigenen Rechtsrahmen. Das Recht auf Einführung einer eigenen Währung und eine eigene Geldpolitik öffnet die Tür zu den Blockchain- und Kryptowährungen. Die Geltungsbereiche des normativen Rahmens jenseits der Charta beinhalten Arbeitsrecht und Zivilgesetzbücher. Außerdem sind eine Reihe von Regelungen für Bürger*innen etabliert, die physische oder elektronische Bürger*innen sein können. Sie müssen eine Vereinbarung über die Koexistenz unterschreiben, was stark an die Idee von Titus Gebel anknüpft, einen sozialen Vertrag zwischen Staat und „Kunden“ abzuschließen.

Über das ZEDE-Gesetz wird die Entwicklung und Erweiterung einer ZEDE zum „öffentlichen Interesse“ deklariert. Die ZEDE-Entwicklung wird also bereits als etwas definiert, das eine Enteignung auslösen kann. Obwohl die honduranische Regierung erklärt, dass sie in diesem Prozess keine Enteignungen durchführen wird, gibt es keine rechtliche Garantie dafür, dass sie es nicht tun wird. Schließlich besagt das ZEDE-Gesetz, dass der Staat eine Enteignung im Auftrag der ZEDEs durchführen kann. Somit bleibt unklar, wie und durch wen die Enteignung tatsächlich durchgeführt wird. Damit wird ganz klar ein Landnahmesystem unterstützt. Wenn es zu einem Landkonflikt kommt, und es gibt eine Menge umstrittenes oder mit mehreren Titeln belegtes Land in Honduras, wird enteignet. Im Falle einer Enteignung wird eine Entschädigung garantiert, die in einen Treuhandfonds fließt. Dann wird per Gericht entschieden, wem die Entschädigung zusteht. Welches Gericht zuständig ist, ist nicht festgelegt, ebenso wie viele undefinierte Dinge rund um das Enteignungsthema.

Können auch indigene Gemeinden wie die der Garífuna enteignet werden? Ist das überhaupt mit internationalem Recht vereinbar?

AN: Ist das möglich? Ja! Ist es legal? Nein! Es gibt internationales Recht, das die indigenen Völker, deren Landtitel und Landbesitz an diesen Orten schützt, vor allem an der Küste. Aber es geht nicht nach internationalem Recht, deshalb denke ich, ist es im nationalen Rechtsrahmen um die Próspera absichtlich sehr vage beschrieben. Erst vor ein paar Monaten hat das CAMP ein neues Memo zum Thema Zwangsräumung herausgegeben. Es besagt, dass Próspera oder mit ihr verbundene Konzerne kein Recht hätten, Menschen zu vertreiben. Sie können also niemanden zwangsräumen. Zur Räumung ist nur der Staat berechtigt. Das bedeutet meines Erachtens nicht, dass diese Räumung nicht möglich ist, sondern nur, dass die Behörden von Próspera die Unterstützung des honduranischen Staates anfordern können, um die lokalen Gemeinden zu vertreiben. Die Angst der lokalen Gemeinden ist also berechtigt.