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Der verschwundene Filmemacher

Buchbesprechung
Andreas Hesse

Eva Karnofsky, frühere Lateinamerikakorrespondentin der Süddeutschen Zeitung, liefert eine Chronik der cubanischen „Sonderperiode“, der Zeit nach dem Wegfall der Beziehungen mit dem im Abgrund der Geschichte versunkenen „Ostblock“. Sie führt uns am Beispiel der Familie Pérez Valdéz durch die für die CubanerInnen existenzbedrohenden neunziger Jahre. Hortensia und ihre Töchter werden nur von den Devisen eines deutschen Freundes, dessen Tagebuch einen Teil des Romans ausmacht, über Wasser gehalten. Die Tristesse wird unterbrochen von Flashbacks, die in die Anfangsjahre der Revolution und nach Remedios auf dem Land führen, wo die Familie lebte, bevor sie sich in Havanna niederlässt. Diese frühen Jahre, als der Staat sich noch kümmerte, die Menschen noch euphorisch und alle dem Comandante dankbar waren, werden von der Protagonistin mit warmem und leicht religiös-naivem Tonfall beschrieben. Doch manche erwähnte politisch-wirtschaftliche Entscheidung der RevolutionärInnen deutet schon an, dass sich Unheil zusammenbraut.

Und in den neunziger Jahren ist es dann soweit. Verbündete gibt es nicht mehr und Cuba scheint nicht auf eigenen Füßen stehen zu können. Hortensias Tochter Chachi, die einst dank der medizinischen Fortschritte der Revolution eine lebensbedrohliche Erkrankung überlebte, stirbt nun viele Jahre später, bedingt durch physische Erschöpfung und das zusammengebrochene Gesundheitswesen, das nicht mehr helfen kann. Die Revolution gibt, die Revolution nimmt: Gott gleich. Die Utopien sind weg. Anders als in früheren Jahren existiert nun weder ein rationales noch humanitäres Argument für die Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung. Was bleibt, sind Mangel und Repression. Gegenüber dieser Botschaft können sich die Personen des Romans nicht als eigenständig Handelnde entwickeln, sie dienen ihr als Medium und bleiben ihr somit untergeordnet: Das Verhältnis der Autorin zu ihrem Personal ist funktionaler Art. Und so gibt es keine einzige Begebenheit, kein einziges Detail im Roman ohne politischen Charakter. Alles, was die Personen tun, und alles, was ihnen begegnet, zeugt vom unaufhaltsamen Niedergang des Systems. Dies wird mit einer erschlagenden Fülle von Anekdoten angereichert, von denen manch eine, für sich genommen, die extremen Lebensverhältnisse der „Sonderperiode“ illustrieren kann, die in ihrer Gesamtheit den Roman jedoch kippen lassen. Man muss ihn nicht einmal von vorne bis hinten lesen, beschleicht einen doch schon bald das Gefühl, in eine Endlosschleife geraten zu sein, in die man sich an beliebiger Stelle einklinken kann.

Die Unterdrückung der Religion hat es Eva Karnofsky angetan. Die seit 1992 in der kubanischen Verfassung existierende Religionsfreiheit wird nicht erwähnt, vielleicht weiß es die Autorin gar nicht. Mangelhafte Recherche prägt das Buch auch anderswo. So geht es zum Beispiel um den Film Alicia En El Pueblo De Las Maravillas (1990) von Daniel Díaz Torres, der seinerzeit eine heftige Debatte erzeugte und nach nur wenigen Tagen Spielzeit verboten wurde. Eine verhängnisvolle Entscheidung in verhängnisvoller Zeit (erst Jahre später wurde der Film im Rahmen des Filmfestivals in Havanna erneut aufgeführt). Doch das Faktum der Zensur reicht der Autorin nicht, sie muss noch nachtreten und legt einer ihrer Personen in den Mund, man habe seither von dem Filmemacher nie wieder etwas gehört und die Karriere der DarstellerInnen sei sofort beendet gewesen. Tatsächlich aber ist Díaz Torres einer der wichtigsten Regisseure Cubas, drehte danach vier weitere Filme auf der Insel und arbeitet momentan an einem neuen Projekt. Ähnlich sieht es bei den SchauspielerInnen aus, die meisten hatten auch später noch tragende Rollen im cubanischen Kino oder Fernsehen.

Die simplifizierende Personalisierung politischer und sozialökonomischer Problemlagen, die Dämonisierung des „Schuldigen“ und die damit einhergehende fehlende Distanz zum Sujet ist für das Buch tödlich. Obsessiv arbeitet sich Eva Karnofsky am Comandante ab und steigert sich dabei in ihrer Negativfixierung mehrfach in ein wutschnaubendes Crescendo hinein, das jegliche Zurückhaltung vermissen lässt. Dass Castro endlich „verrecken“ soll, ist ein auch gegenüber politischen Gegnern nicht angemessenes Sprachniveau. Innere Widersprüche fallen dabei weder ihr noch ihren LektorInnen auf. Einmal wird suggeriert, der böse alte Mann interessiere sich nicht für den Energiemangel der Menschen, er und seine Clique hätten ja Strom und Sprit. Direkt im nächsten Absatz heißt es aber, das System lasse verzweifelt nach Öl bohren, um die Energiekrise zu lösen. Ja, was denn nun? Doch wenn nach Öl gebohrt wird, ist es übrigens auch wieder nicht recht, denn so könnte sich das System ja schließlich retten. Das wäre aber das Letzte, was die Autorin will.

Sprachlich verheddert sie sich im Kampf mit dem Konjunktiv und trifft da eher zufällig mal die richtige Form. Und das in einem Buch, das in der Einführung zu ihrer Lesung in Frankfurt am Main als „die cubanischen Buddenbrooks“ bezeichnet wurde. Die verworrene Situation Cubas spiegelt sich weder in Jubeldarstellungen noch in der Hochkonjunktur genießenden Abrechnungsliteratur wider, beide verweigern sich der Vielschichtigkeit des Landes und bedienen sich reduktionistischer Klischees und Projektionen. Wer auf Literatur wartet, die in sprachlich ansprechender Form der komplexen Realität der Insel gerecht wird, sollte von Eva Karnofskys Buddenbröckchen die Finger lassen.

Eva Karnofsky: Die Straße der Tugenden – Eine kubanische Familienchronik, Horlemann Verlag, Unkel 2009, 360 S., 19,90 Euro