ila

Wofür es keinen Namen gibt

Die Redaktion liest...
Laura Carro

In ihrem autobiografischen Roman „Lo que no tiene nombre“ („Wofür es keinen Namen gibt“) versucht die kolumbianische Autorin Piedad Bonnett, jenen tiefen Schmerz in Worte zu fassen, der die universellste aller Erfahrungen darstellt, den Tod. Im Roman erfahren die Leser*innen, was die Autorin unter Mutterschaft versteht, erleben frohe Momente in der Familie mit, die Entwicklung der Kinder und was sie sich vom Leben erträumten. Doch diese Träume werden vom Tod durchschnitten, der mitunter unerwartet und stets ungewollt auftritt. In ihrem Buch bringt die Autorin – wie sie es selbst nennt – ihr Kind noch einmal auf die Welt, durch die Sprache. So hält sie die Erinnerung mit Buchstaben fest, damit sie nicht verblasst. In diesen Buchstaben ist ihr Sohn Daniel Segura1 nach wie vor fröhlich, brillant, talentiert und seinen Zeichnungen treu.

In vier Kapiteln, die den Prozess der Trauer einfangen, macht Piedad Bonnett einen Seelenstriptease und geht bis ans Äußerste mit diesem Roman, der dem Kampf einer Mutter, vor allem aber dem Kampf ihres Sohnes gerecht wird. Er kämpfte gegen eine Krankheit, die ihn bis an den Abgrund führte, in den er sich schließlich mit nur 28 Jahren hinabstürzte.

Im ersten Kapitel stellt sich diese liebende Mutter und Komplizin dem Schock, als sie an den Ort zurückkehrt, an dem ihr Sohn seine letzten Stunden verbrachte. Dort lässt sie die Erinnerungen an eine glückliche Kindheit frei. An diesem Ort, Tausende Kilometer von ihrem Zuhause entfernt, umarmt sie die einfachen, kleinen Dinge, die uns mit dem verbinden, was wir lieben, in Bonnetts Fall mit ihrem geliebten Sohn. Das erste Kapitel lädt dazu ein, die Magie der Erinnerungen schätzen zu lernen, die sich aus Fotos, Notizen, Karten und den wunderschönen Gemälden ihres Sohnes speisen.

Ihre Trauerarbeit setzt sich im zweiten Kapitel fort, in dem sie ihr „prekäres Gleichgewicht“ darstellt. Darin versucht die Autorin mit Hilfe der Buchstaben (die ihr Leben sind) herauszufinden, worin der Schmerz des kleinen Daniel wurzelte. Er musste seinen Traum, Maler zu werden, durch Medikamente ersetzen, um gegen die Schizophrenie zu kämpfen. Diese dunkle Reise in die Vergangenheit stellt die Mutter vor Fragen, die sie zutiefst erschüttern: „Würde ich meinem Sohn helfen zu sterben?“, „Lohnt es sich überhaupt zu leben mit all diesen täglichen Kämpfen?“, „Warum reicht meine Liebe nicht aus, um ihn zu heilen?“ Sie erkennt, dass es völlig unmöglich ist, diesem Abgrund zu entkommen. Deshalb widmet sich die Mutter anschließend der Entdeckung der „vierten Wand“. Mit zahlreichen Angaben zu der Literatur, die sie bei ihrem Abschied begleitete, reflektiert sie über den Suizid und die letzten Empfindungen ihres Sohnes: Sie fanden nicht mehr in seinem Kopf statt, sondern transportierten ihn in eine andere Welt, heraufbeschworen durch die Stimmen, die ihn schon so viele Jahre lang begleiteten. Bonnett weigert sich, Suizid als Scheitern zu verstehen. So schreibt sie, dass es Tage gebe, an denen sie die Bilder ihres Sohnes hervorhole, um ihn zu umarmen, ihm einen Kuss auf die Stirn zu geben, seinen Kopf zu streicheln und ihm ins Ohr zu flüstern, dass seine Entscheidung legitim war. Der Tod sei besser als ein würdeloses Leben, das von Angst beherrscht werde und dem Wissen, dass man von anderen bewohnt wird.

Der letzte Abschnitt von Piedad Bonnetts Reise könnte keine andere Form annehmen als die Annäherung an die Gemälde ihres Sohnes. In diesem vierten Kapitel erzählt sie, wie sie durch die Analyse seiner Werke und das Erstellen eines Blogs (der immer noch aufgerufen werden kann, siehe Link) der Erinnerung an ihren Sohn Kraft verleiht. An ihren Sohn, den sie so oft in den Schlaf gewiegt, den sie so oft leiden gesehen hat. Und dem sie, auch wenn es anstrengend ist, einfach „mach‘s gut“ sagen muss. Das Tal der Tränen zu durchqueren, das der Tod hinterlässt, ist unbeschreiblich und unaussprechlich. Deshalb hätte die Autorin keinen passenderen Titel für ihr Werk wählen können. Doch in der Welt der Sprache existiert der Tod nicht. Und so schenkt uns Piedad Bonnett ein wunderbares Paradox. Sie macht ihre Liebe und ihren Schmerz als Mutter unsterblich. Mit den Tränen, die sie in ihrem Buch vergossen hat, schafft es Piedad Bonnett, dass Daniel immer noch lebendig ist.

Übersetzung: Valerie Systermans