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Vergeltung und Nostalgie

Ein Coming-of-Age-Roman über die brasilianische Militärdiktatur und die erste große Liebe
Fabio Freiberg

Ein Vorort Rio de Janeiros, geboren aus Staub, Lehm und Wasser: Der größte Teil von Victor Heringers Roman spielt hier, im fiktiven Viertel Queím, zur Zeit der brasilianischen Militärdiktatur, Ende der 70er-Jahre. Im Mittelpunkt steht Camilo, gerade 14 Jahre alt, der von seiner Familie erzählt. Und von seiner ersten großen Liebe: Cosme, der Pflegesohn, der unter unklaren Umständen vom Vater, einem Militärarzt und damit Täter der Diktatur, in die Familie aufgenommen wird. Diese eigenmächtige Entscheidung des Vaters weckt Missgunst und Eifersucht bei den anderen Familienmitgliedern, auch bei Camilo, der wie „alle Söhne der Mutter gehört“ und nun seine Verbindung zu ihr, der zurückgezogenen Frau des Hauses, infrage gestellt sieht.

Trotz seines jungen Alters versteht er schon viel von der Erwachsenenwelt, behält aber gleichermaßen den Reiz der Kindheit. Geprägt von seiner pubertären Scham und seiner körperlichen Behinderung überzeugt er die Lesenden mit seiner Unschuld, Naivität und seinem Mut. Mit diesen kindlichen Eigenschaften überwinden Camilo genauso wie alle weiteren Kinder und Jugendlichen des Romans die Vorschriften und Gewohnheiten der Erwachsenen, nicht ohne Furcht, aber dennoch mit einer außerordentlichen Selbstverständlichkeit. Etwa als Cosme und Camilo das erste Mal händchenhaltend durch die Straßen des Barrios ziehen und sich als Liebespaar zu erkennen geben. Während die Erwachsenen nur Verachtung übrighaben, bleiben die Gleichaltrigen, nach einem kurzen Moment der Ablehnung, Freunde und unterstützen die beiden.

Die Romanfiguren werden häufig in eine Passivität und Verletztheit getrieben, sei es durch die Taten anderer (der Diktatur) oder durch die drückenden Launen der Natur (der Natur­katastrophen in den Favelas). Die materielle Welt ist für den Jugendlichen überall und sie ist stark, mit ihren Geschmäckern, Gefühlen, dem Körper der Menschen und Tiere, den Trieben. Während Camilo durch seine körperliche Schwäche, das verkrüppelte Bein, ein Kopfmensch mit vielen Büchern und Antiquitäten wird, zieht ihn diese Körperlichkeit an und umgibt ihn. Er verliebt sich in Cosme und die beiden erkunden ihre Begehren und Bedürfnisse. Überhaupt prägen alle Empfindungen den Jungen nachdrücklich: die Tränen des Vaters, die gekochte Rinderzunge zum Mittagessen, das schmerzende Bein und auch das Stadtviertel, in dem sich alle Gerüche überlagern, der Gestank, die Parfüms, Zimt und Staub.

Fragile Männlichkeit

Demgegenüber entsteht eine fragile Männlichkeit, denn Camilo bleibt ein unsicherer Charakter, durch den tragischen Verlust Cosmes, aber auch durch die dysfunktionale Familie, durch die Schwächen der Eltern und die Ignoranz der Erwachsenenwelt. Frauen bleiben für Camilo stets suspekt und angsteinflößend, wenn auch durchaus positiv besetzt. Die Sphäre der Weiblichkeit schwindet mit der Zeit. In seinem Erwachsenenleben gibt es Frauen nur noch in der Distanz.

Im zweiten Teil des Buchs erfolgt ein Perspektivwechsel. Die Geschichte wird nun aus Sicht des erwachsenen Camilo weitererzählt, der mit dem Verlust seiner Jugendliebe umgehen muss. Camilo schwankt zwischen Vergeltungsfantasien und nostalgischer Liebe. Das ist mehr als die Verarbeitung der eigenen Biografie, es ist auch Sinnbild der gewaltvollen brasilianischen Geschichte. Die Szenen machen das transgenerationale Trauma erfahrbar. Eine wirkliche Verarbeitung ist für Camilo unmöglich. Das liegt auch daran, dass seine Beziehungen zu anderen Erwachsenen immer wieder scheitern. Sie verschließen entweder die Augen vor den familiären Verbrechen oder verbleiben in einer Vergangenheit, die romantisiert wird. Auch für Cosme bleibt kein erlösender Ausweg aus der eigenen Geschichte, aber immerhin einer, der ihm ein wenig Versöhnung bietet.

Victor Heringer war einer der gegenwärtigen lateinamerikanischen Romanautoren, die einen wichtigen Schritt in Richtung Verarbeitung und Bewältigung gegangen sind. Das darf und muss auch Rache, Wut und Trauer beinhalten. Aber dann muss es weitergehen. Wie? Das deutet Heringer zumindest an, andere Autor*innen müssen seinen Weg fortsetzen. Er hinterlässt nach einem kurzen, selbstbeendeten Leben nur drei Romane.