Geniales Sammelsurium
Bei einer Tagung in Leipzig zum Thema Degrowth trafen sich 2014 die Umweltaktivisten und -theoretiker Alberto Acosta aus Ecuador und Ashish Kothari aus Indien. Sie sprachen über das indische Konzept kollektiver Selbstbestimmung „Svarag“ und das lateinamerikanische „Buen Vivir“ (Gutes Leben) und darüber, in welchem Verhältnis diese Visionen aus dem Globalen Süden zur These des Degrowth aus dem Norden stünden. Hier entstand die Idee zu einem Buch, das Brücken bauen sollte zwischen verschiedenen Ansätzen zum Verständnis der Welt und Vorschlägen, sie zu verändern. Eine fünfköpfige Gruppe von Herausgeber*innen nahm das Projekt schließlich in die Hand. Entstanden ist ein kollektives und internationalistisches Werk, an dem 120 Autor*innen aus allen Kontinenten beteiligt waren. Das Buch erschien 2019 zuerst auf Englisch in Indien und als spanische Version in Ecuador und Spanien. Weitere Sprachen und Länder folgten. Dank einer Gruppe von Menschen, die es unentgeltlich übersetzten, konnte 2023 die deutsche Ausgabe erscheinen.
Im ersten der drei Teile wird die Idee der Entwicklung kritisiert als imperialistisches Konzept, das „das Gemetzel auf dem afrikanischen Kontinent gefördert“ hat, oder als patriarchaler Entwurf, der nur einem Prozent der Menschheit zugutekommt. Maristella Svampa beschreibt für Lateinamerika die drei Phasen der Kritik: die Ablehnung der Konsumgesellschaft in den 1970er- und 1980er-Jahren, danach die „radikale Kritik an der kolonialen Struktur des Konzepts Entwicklung als Erfindung der Vereinigten Staaten und anderer westlicher Mächte in der Nachkriegszeit (1949)“ sowie die Forderung, „nicht mehr über alternative Entwicklung nachzudenken, sondern über Alternativen zur Entwicklung“, und schließlich die aktuelle Kritik am Neo-Extraktivismus. Insgesamt sei eine „Ökologisierung der Kämpfe“ festzustellen. Die Kritik an den kapitalistischen Vorstellungen von Entwicklung und Wachstum zieht sich durch das ganze Lexikon der Alternativen.
Der zweite Teil ist ein Lexikon der falschen Fährten, der reformistischen Lösungsversuche, meist aus dem Globalen Norden. Sie können weder die zunehmende Ungleichheit noch die Zerstörung des Planeten aufhalten und erweisen sich als „ökologisch verschwenderische, profitorientierte Ablenkungsmanöver“. Hier geht es zum Beispiel um BRICS , Digitalisierung, Entwicklungshilfe, Grüne Wirtschaft, Nachhaltige Entwicklung, Smart Cities oder Transhumanismus.
Den dritten und umfangreichsten Teil bildet das Lexikon „Pluriversum der Menschen“ mit mehr als 80 transformativen Alternativen, die in kurzen Texten von jeweils gut zwei Seiten vorgestellt werden. Hier finden sich unter anderem Artikel über praktische Erfahrungen mit Arbeit und Landwirtschaft (Arbeiter*innen-geleitete Produktion, Ökodörfer, Permakultur), über Gesellschaftsmodelle (Biozivilisation, Demokratische Wirtschaft in Kurdistan, Ökoanarchismus, Ökosozialismus, Radikalökologische Demokratie, Zapatistische Autonomie), über lateinamerikanische Feminismen und neue Matriarchate, über verschiedene Religionen und spirituelle Visionen und über Konzepte von A wie „Agdale“ über Bruttonationalglück Bhutan, „Kawsak Sacha“, „Sentipensar“ und „Ubuntu“ bis zu Z wie Zivilisatorische Umbrüche.
ila-Leser*innen werden einige Autor*innen und Themen aus Lateinamerika wiedererkennen. Beim Blättern in diesem weltweiten Pluriversum werden aber sicherlich alle auf Ideen stoßen, von denen sie noch nie gehört haben. Für praktische Erfahrungen ist in den kurzen Artikeln leider wenig Platz, und die Autor*innen kommen bis auf wenige Ausnahmen aus dem akademischen Bereich. Trotzdem ist das Buch gut lesbar und ein Glossar erleichtert das Verständnis.
Im Sinne des zapatistischen Mottos von der „Welt, in der viele Welten Platz haben“ wird immer wieder der Universalismus kritisiert. Gleichzeitig werden universelle Konzepte wie die Rechte der Natur und die Menschenrechte verteidigt. Das Pluriversum ist ein geniales Sammelsurium von Ideen, Ideologien, Erfahrungen und Visionen, die sich auch widersprechen dürfen. Vor allem die Beiträge aus dem Globalen Süden bringen neue Impulse in die alte Diskussion, wie wir das zerstörerische System Kapitalismus überwinden können.
Kostenloser Download als PDF: https://agspak.de/pluriversum