Fake News und Mediendominanz
Die von so vielen ersehnte neue fortschrittliche Verfassung in Chile wurde 2022 in einem Referendum abgelehnt. Die Rechte hat sich ihre Kampagne gegen den Verfassungsentwurf einiges kosten lassen. Nach dem Erfolg dient sie als Schulungsmaterial in rechtsextremen Kreisen.
„Chile despertó“ („Chile ist aufgewacht“) war eine der Losungen der Protestbewegung, mit der in Chile ab 2019 Millionen von Menschen auf die Straße zogen und das Land in einen Zustand kollektiver Bewegung versetzten. Auslöser war eine vergleichsweise geringe Preiserhöhung der U-Bahn-Tickets in der Hauptstadt Santiago um 30 Pesos, umgerechnet weniger als vier Euro-Cent. Aufgestauter Frust über tägliche Erfahrungen sozialer Ungerechtigkeiten, sexistischer und rassistischer Gewalt trat offen an die Oberfläche. Die allerorten gerufene, geschriebene und gesprühte Parole „No son 30 pesos, son 30 años“, übersetzt etwa „Es geht nicht um 30 Pesos, sondern um 30 Jahre“, brachte es auf den Punkt. Das neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das junge Ökonomen der Chicagoer Schule rund um Milton Friedman während der Diktatur in Chile ab 1973 eingeführt hatten, das mit einer weitgehenden Privatisierung aller Systeme der sozialen Daseinsvorsorge einherging und das rechte wie Mitte-Links-Regierungen nach dem Ende der Diktatur 1990 in Chile, also seit mehr als 30 Jahren, noch vertieft hatten, hatte seine Legitimität verloren.
Es war Zeit für einen Neuanfang: Viele Menschen trafen sich und diskutierten in Nachbarschaftsversammlungen. Große Teile der Gesellschaft wollten einen Systemwechsel, weg vom Neoliberalismus, hin zu einer inklusiven, sozial und ökologisch ausgerichteten Gesellschaft, in der die Gleichberechtigung aller Geschlechter, Ethnien und Kulturen gelten sollte. Es kam weder zu einer Revolution oder einem Regierungswechsel noch zu einschneidenden Veränderungen der Sozialsysteme oder anderer Politiken der Regierung des damaligen Präsidenten Sebastián Piñera. Stattdessen wurde bereits im November 2019 ein „Abkommen für den sozialen Frieden und für eine neue Verfassung” und damit ein institutionalisierter Prozess beschlossen. Die neue Verfassung sollte die 1980 während der Pinochet-Diktatur eingeführte Verfassung ablösen, die das neoliberale System und die Vorherrschaft des Marktes vor dem Staat festschrieb.
Obwohl viele Rechte die Verfassung der Diktatur gar nicht ersetzen wollten, entfielen im Oktober 2020 bei einem Referendum fast 80 Prozent der abgegebenen Stimmen auf die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Ein halbes Jahr später wurde der Verfassungskonvent, das Gremium, das die neue Verfassung ausarbeiten sollte, gewählt. Zwei Drittel der 155 Sitze gewannen links-progressive Kräfte, teils aus Parteien, teils aus sozialen Bewegungen. Die politische Rechte verfehlte ihr zuvor formuliertes Hauptziel, mit einem Drittel der Sitze zumindest eine Sperrminorität zu erreichen, um weitreichende politische Veränderungen kontrollieren und im Zweifel blockieren zu können.
Die rechte Kampagne gegen die neue Verfassung lief bereits an, während die Mitglieder des Verfassungskonvents einen Verfassungsvorschlag formulierten. Dadurch, dass viele Vertreter*innen sozialer Bewegungen mit den gleichzeitigen Anforderungen ihrer anspruchsvollen Arbeit im Verfassungskonvent und deren Vermittlung an die Basis – unter erschwerten Bedingungen der Pandemie – überfordert waren, gewann die Rechte einen enormen Zeitvorsprung.
Das entscheidende Versäumnis der Befürworter*innen einer neuen Verfassung war zweifelsohne die unzureichende Kommunikation und Vermittlung der abstrakten Debatten in der Bevölkerung. Aber auch allzu kleinteilige Formulierungen in einem langen, 388 Artikel umfassenden Verfassungsentwurf und die nicht ausreichende Integration weit auseinanderklaffender kultureller Realitäten und Stadt-Land-Unterschiede trugen dazu bei, dass die Zustimmung zum Verfassungsvorschlag fehlging.
Fake News und Desinformation
Maßgeblichen Anteil am Scheitern der neuen Verfassung hatte jedoch auch die rechte Kampagne unter dem Slogan des „Rechazo“ („ich lehne ab“), die mit Fake News und gezielter Desinformation arbeitete.
Zuerst wurden vor allem weibliche Mitglieder des Verfassungskonvents, wie etwa dessen Vorsitzende, die Linguistin und Aktivistin der indigenen Mapuche, Elisa Loncón, öffentlich diskreditiert, und manche wurden bedroht.1 Im zweiten Schritt wurden die Inhalte des Verfassungsvorschlags mit einer gezielten Desinformationskampagne falsch oder verzerrt dargestellt. Besonders verunsichernd wirkte die falsche Behauptung, die neue Verfassung würde Eigentum an Wohnraum verbieten. Hinzu kam die Falschdarstellung, der zufolge die Abschaffung der Nationalhymne und -flagge geplant gewesen sei sowie verzerrte Darstellungen der vorgesehenen Regelungen zur Durchführung von Abtreibungen. Gezielte Falschaussagen, verpackt in Faltblätter in exakt gleichen Farben und Design wie die offiziellen Informationsmaterialien des Verfassungskonvents oder in täuschend echten Nachdrucken des Verfassungsentwurfs, trugen maßgeblich zur Verunsicherung der Bevölkerung bei.2
Die Gegner*innen des Verfassungsentwurfs konnten mit ihrer überwältigenden Medienmacht ein Negativ-Framing der neuen Verfassung durchsetzen. Fast 80 Prozent der Wahlspenden gingen an die Kampagne des Rechazo.3 Zu den Geldgebern gehörten die größten Unternehmen und Angehörige der reichsten Familien Chiles.
Auch neoliberale chilenische Stiftungen und Thinktanks warnten mit Studien und über soziale Netzwerke vor der neuen Verfassung oder ihren vermeintlichen Auswirkungen. Einige davon gehören zu dem in den USA angesiedelten, international aktiven rechts-libertären Atlas-Netzwerk, andere wurden auch von deutschen parteinahen Stiftungen unterstützt.
So warnten die mit der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung kooperierenden Thinktanks Instituto Res Publica und Fundación IdeaPaís vor einer Übertragung von Aufgaben allgemeiner Daseinsvorsorge an den Staat. Steigende öffentliche Ausgaben für die Rentenversorgung brächten eine „unverantwortliche Verschuldung“ mit sich.4 Bei Annahme des Verfassungsentwurfs werde die Wirtschaft durch stärkere Mitspracherechte indigener Gemeinschaften und durch das Recht auf Streik bedroht, hieß es in einem Bericht des Instituto Res Publica.5 Auch die mit der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit kooperierenden Stiftungen oder Thinktanks Fundación para el Progreso, Horizontal und Libertad y Desarrollo positionierten sich gegen die neue Verfassung.
Schließlich stimmte am 4. September 2022 bei einem Referendum – dieses Mal mit Wahlpflicht – eine deutliche Mehrheit der Chilen*innen gegen den neuen Verfasssungstext. Die Wahlbeteiligung lag bei 86 Prozent, im Gegensatz zu sonst rund 50 Prozent.
„Damit die Werbung für das Rechazo in das Bewusstsein der Bevölkerung eindringen konnte, reichte es, den Fernseher einzuschalten oder Social-Media-Kanälen zu folgen”, analysierte die Feministin Alondra Carrillo, die Vertreterin der feministischen Dachorganisation 8. März (CF8M) im Verfassungskonvent war, noch am Wahlabend im Lokal der Sozialen Bewegungen: „Aber um den Inhalt des Verfassungsvorschlags zu kennen, brauchte es eine Genossin oder einen Aktivisten, einen Freund oder eine informierte Nachbarin, die die Lügen widerlegen konnte, die von der politischen Rechten, aus Wirtschaftskreisen und von Sektoren, die den Fortschritt dieses Prozesses blockieren wollten, finanziert und organisiert wurden.” Manuela Royo von der Umweltschutzorganisation MODATIMA, die ebenfalls als parteiunabhängige Vertreterin im Verfassungskonvent war, sagte im Interview mit der Autorin wenige Tage nach dem Referendum: „Wir haben es nicht geschafft, die ärmsten Sektoren der Gesellschaft und diejenigen, die nie zuvor gewählt haben und entpolitisiert sind, zu erreichen.“6
Bei der Aufschlüsselung des Wahlverhaltens nach sozio-ökonomischen Faktoren wurde deutlich, dass die ärmsten Sektoren am stärksten mit Rechazo gestimmt hatten – ein demokratisches Dilemma für alle progressiven Kräfte, denn die neue Verfassung sollte die Lebensbedingungen genau der Menschen verbessern, die in Armut leben. Für die politische Rechte war die Rechazo-Kampagne gegen die fortschrittliche Verfassung hingegen ein Erfolg, der Strahlkraft über Chile und Lateinamerika hinaus entwickelte. Ein zweiter Anlauf zu einer neuen Verfassung war von extrem rechten Kräften dominiert, scheiterte in einem Referendum aber ebenfalls. Der Verfassungsprozess in Chile ist auf absehbare Zeit ausgebremst.
Lehrstück für die internationale Rechte
Der Gründer und Vorsitzende der extrem rechten Republikanischen Partei Chiles, José Antonio Kast, stellte die Rechazo-Kampagne später ausgewählten jungen Nachwuchskräften in Schulungsgruppen und Kampagnentrainings bei extrem rechten Konferenzen in Europa vor. Darunter waren Treffen, die von Disenso, der Stiftung der franquistischen spanischen VOX-Partei, oder vom Political Network for Values organisiert waren. Solche Konferenzen sollen den Austausch von Strategien und Erfahrungen fördern, die Vernetzung stärken und neue junge Eliten ausbilden. Der deutschstämmige Rechtsanwalt und Pinochet-Anhänger Kast war von 2022 bis 2024 selbst Vorsitzender des 2014 gegründeten extrem rechten, religiös geprägten internationalen Netzwerks Political Network for Values. Bei der Präsidentschaftwahl 2021 trat Kast gegen Gabriel Boric an, unterlag zwar, will im November 2025 aber wieder kandidieren.
Der Deutsch-Chilene Sven von Storch, der bereits 2021 als Kasts Berater in außenpolitischen Fragen galt, räumte inzwischen ein, seit mehr als sieben Jahren zum Beraterstab des US-Präsidenten Donald Trump zu gehören. Er habe zu strategischen Fragen der Beziehungen zwischen USA, Lateinamerika und Europa gearbeitet, die Zukunft Chiles habe dabei immer eine Rolle gespielt. Storch betreibt Petitions- und Nachrichtenportale wie „Freie Welt“ oder „civil petition“, die mit dem rechten Lobbyverein „Zivile Koalition“ kooperieren und AfD-nahe Nachrichten und Petitionen verbreiten. Sven und seine Gattin, die AfD-Vize-Fraktionsvorsitzende Beatrix von Storch, unterhalten enge Verbindungen zum brasilianischen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro und dessen Söhnen. In Berlin beteiligen sie sich regelmäßig am sogenannten „Marsch für das Leben“ gegen das Recht auf Abtreibung.
Weitere Personen und Institute, die sich gegen eine fortschrittliche Verfassung für Chile gestellt haben, sind heute nach wie vor aktiv. Axel Kaiser, der Leiter der Fundación para el Progreso, organisiert seit Jahren Buchpräsentationen und Veranstaltungen mit dem rechts-libertären argentinischen Präsidenten Javier Milei und ist stellvertretender Vorsitzender der Fundación Faro, der Stiftung von Mileis Partei La Libertad Avanza.
Sein Bruder Johannes Kaiser gründete die National-Libertäre Partei (PNL), mit der er sich rechts von José Antonio Kast positioniert und ebenfalls Präsident Chiles werden möchte. Bei den Wahlen am 16. November wollen mit Kast, Johannes Kaiser und Evelyn Matthei, die den Putsch Pinochets 1973 und folgende Menschenrechtsverbrechen kürzlich öffentlich rechtfertigte, drei Rechte kandidieren, die laut aktuellen Wahlumfragen zusammen die Hälfte der Stimmen auf sich vereinen könnten.
- 1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1165674.chile-die-natur-ist-kein-objek...
- 2. https://interferencia.cl/articulos/desmentidas-al-aire-las-fake-news-que...
- 3. https://x.com/s_boddenberg/status/1567178221396934657
- 4. https://www.respublica.cl/img/uploads/e99754178d84e062ebdf82acacb9dd07.pd
- 5. https://www.respublica.cl/img/uploads/f7d88aae042ca8628288b3e59287d679.pdf
- 6. https://www.npla.de/thema/politik-gesellschaft/sieg-des-rechazo-verpasst...