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Zwischen Poesie und politischer Realität

Eine haitianische Familiensaga über Armut, Glaube und die Last der Vergangenheit
Anna Buhl

Yanick Lahens’ Roman „Mondbad“ ist ein poetischer Roman, der sich über zahlreiche Generationen einer haitianischen Familie erstreckt und dabei tief in die ländliche Realität Haitis eintaucht. Die Autorin erzählt von einer Familie, deren Schicksal eng mit der Geschichte des Landes verwoben ist – eingebettet in eine Landschaft voller Armut, Gewalt, kolonialer Vergangenheit und politischer Umbrüche. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich die Geschichte der jungen Cétoute. Zu Beginn des Romans finden wir sie reglos am Strand liegen und folgen ihrem Wunsch, ihre Ahnen, ihre Vergangenheit nachzuzeichnen. Wir folgen ihren Vorfahren mütterlicher- und väterlicherseits, den Mésidors und den Lafleurs – zwei Familien, die sich grundlegend voneinander unterscheiden: Die einen führen seit Generationen ein Leben in Armut, im ländlichen Anse Bleue, halten sich durch Gemüseanbau und Fischfang über Wasser, besänftigen die Geister des Voodoo. Jedem Sturm, jeder Dürre sind sie schutzlos ausgesetzt. Die anderen dagegen sind ausbeuterische, skrupellose Großgrundbesitzer, die ein Leben in Reichtum führen.

Gleichzeitig erzählt der Roman von den politischen Kräften, die das Schicksal von Cétoutes Familie über Jahrzehnte hinweg prägen. Während die Familiengeschichte im Mittelpunkt steht, läuft die politische Realität Haitis im Hintergrund mit: Gewaltherrschaft, Diktaturen, Revolutionen, Misswirtschaft. Die Reichen und Mächtigen bewegen sich unbehelligt durch die Dörfer und Städte, unabhängig von den Verbrechen, die sie begehen. Die Armen bleiben zurück, gefangen in den Kreisläufen von Armut und Überlebenskampf. Lahens zeigt, wie die Gewalt Einzug in das Alltagsleben hält und wie vor allem Frauen darunter leiden.

Es ist ein Buch, das mensch als Leser*in körperlich durchlebt – voller kreolischer Gesänge, Rauschen von Wind und Wasser und dem Flüstern der Vergangenheit. Lahens schreibt kraftvoll, vielschichtig und bildreich. Aber es ist ein Roman, der durchaus herausfordernd ist. Vor allem aufgrund der vielen Charaktere, die teilweise nebenbei und nur flüchtig in die Geschichte eingebunden werden. Die Erzählung springt häufig zwischen verschiedenen Figuren und Generationen, wodurch es stellenweise schwierig ist, der Handlung durchgängig zu folgen. Christliche Vorstellungen und Voodoo-Traditionen überlagern sich dabei ebenso wie zeitliche Ebenen und Perspektiven. Die Vielzahl an Figuren macht es, trotz des am Ende des Buches abgedruckten Stammbaums, nicht immer einfach, den Überblick zu behalten. Es fällt daher schwer eine Verbindung zu den Figuren aufzubauen, die Leser*innen verbleiben in der Rolle von Beobachter*innen: distanziert vom Innenleben der Charaktere. Die zahlreichen historischen Anspielungen und kulturellen Konzepte des Voodoo fordern die Lesenden auf, sich auf die Geschichte einzulassen. Wer sich mit haitianischer Geschichte oder Voodoo so gar nicht auskennt, wird zusätzliche Informationen brauchen und viel Neues und Interessantes aufnehmen - oder sich orientierungslos fühlen.

„Mondbad“ ist kein Roman, den man schnell oder nebenbei liest. Er erfordert Aufmerksamkeit und Offenheit, er verlangt, dass man sich mitnehmen lässt, auch wenn man nicht immer alles versteht. Und doch ist das Buch bewegend. Etwa der ungeschönte Umgang mit Themen wie sexualisierte Gewalt, patriarchale Machtstrukturen und soziale Ungleichheit. Lahens schildert, wie politische Gewalt bis in die kleinsten Dorfgemeinschaften vordringt und wie Armut und Hoffnungslosigkeit generationsübergreifend wirken.

Rezensionen zu weiteren Romanen von Yanik Lahens in der ila 282 (Tanz der Ahnen), ila 346 (Und plötzlich tut sich der Boden auf. Haiti, 12. Januar 2010) und ila 445 (Sanfte Debakel)