Späte Genugtuung
Der kürzlich erschienene Roman „Dina und Natan: Eine Mutter und ihr Sohn, die dem Holocaust entfliehen. Ein Antinazi-Spionagenetz“ von Miriam Lewin beruht auf einer wahren Begebenheit. Nach Jahren der Trennung trifft Natan seine für tot gehaltene Mutter Dina im Argentinien der Nachkriegszeit wieder. Die Freude über ihr Wiedersehen währt jedoch nicht lange, denn ein gut gehütetes Geheimnis hat sie verändert.
„Ich hatte darüber nachgedacht, dass Sex Teil meiner Arbeit sein könnte, lange bevor sie es mir vorgeschlagen haben. (…) Ich hatte mein Leben schon zuvor auf diese Art und Weise gerettet. (…) Es war die Mühe wert und nichts daran war unmoralisch. Ich tat es wider die Ungerechtigkeiten, wider das Schlechte. Auch für Natan, auch wenn es ihm schwer fällt, das zu verstehen. Er ist ein Mann und glaubt, ich hätte seinen Vater betrogen. Er weiß nicht, dass der Körper nur Materie ist, dass man den Ekel mit einem Schwamm voller Seife und einer heißen Dusche abwaschen kann. Die Seele, das ist etwas anderes. Die Seele kann man nicht abwaschen, wenn sie beschmutzt wird. Und meine Seele habe ich nie preisgegeben, nur Gideon. Gideon und der Sache.“
Dina blickt zurück. Sie sitzt im Zug von Buenos Aires Richtung Mar del Plata. María, eine Nachbarin aus Vicente López, hat sie überzeugt, ein paar Tage gemeinsam in der Küstenstadt der Provinz zu verbringen. Ihr Sohn Natan hat sie zum Bahnhof Constitución gebracht und kurz zuvor seiner Mutter das Versprechen abgerungen, ihm nach dem Urlaub endlich alles zu erzählen. Ihr Verhältnis ist schwierig. Wir schreiben die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Als Natan 1957 am Hafen von Buenos Aires angekommen war und seine totgeglaubte Mutter unter den Wartenden entdeckt hatte, hatte er „Mamá! Mamita!“ gerufen. Er ist zu der Zeit 22 Jahre alt. Dina streichelt liebevoll seinen Kopf. Das erste, was sie sagt: „Sohnemann, du darfst mich nicht Mutter nennen! Ich habe wieder geheiratet, und mein Mann wusste bis vor Kurzem nichts von deiner Existenz. Er hat akzeptiert, dass ich dich herhole, aber nur unter der Bedingung, dass du offiziell mein Neffe bist.“ Dinas zweiter Mann, Ferdinand Berge, wartet im Auto. Es ist ein Deutscher, ein deutscher Nazi.
„Ich habe überall gesucht, aber dieser Name steht in keinem Register“, sagt Autorin Miriam Lewin Anfang Februar in Buenos Aires auf die Frage nach Berge: „Ich gehe davon aus, dass er einen falschen Namen in seinem Reisepass stehen hatte.“ Berge habe persönliche Kontakte zum nationalsozialistischen Dürer-Verlag gehabt, der in Buenos die Monatszeitschrift „Der Weg“ herausgab und sich um allerlei Hilfsdienste für „alte Kameraden“ kümmerte. Gewiss ist, dass sich Berge zu Beginn der 40er-Jahre in der Türkei aufgehalten hat, offenbar als Mitarbeiter von Franz von Papen, der ab April 1939 in Ankara als deutscher Botschafter agierte. Er und Dina heirateten 1951 in Istanbul. Auch ihre Namen sind erfunden. Darauf hat Natan, dessen Erinnerungen im Zentrum stehen, bestanden. „Ich bin jetzt über 80 Jahre alt und ich will nicht, dass irgendwelche Nazis nochmal nach mir suchen“, habe der alte Herr gesagt. Deswegen habe man sich auf falsche Namen geeinigt. Der Kontakt zu Natan war 2017 entstanden, seitdem hatten Miriam Lewin und ihr Kollege Horacio Lutzky Natan etliche Male getroffen.
Die Geschichte vor dem Wiedersehen von Mutter und Sohn geht so: Der sephardische Jude Gideon Dayan wird auf einer Rückreise aus Jerusalem in Istanbul Dina, Tochter einer türkischen Ärztefamilie, vorgestellt. Sie verlieben sich, heiraten und Shimon, so der erste (ebenfalls falsche) Name von Natan, wird geboren. 1941 zieht die Familie in Gideons jugoslawische Heimatstadt Bijeljina, im heutigen Nordosten Bosnien-Herzegowinas. Gideon betreibt ein Stoffgeschäft, seiner Familie gehören das Hotel und das Kino im Ort. Shimons frühe Kindheit ist idyllisch. Das ändert sich mit dem deutschen Einmarsch im März 1941 schlagartig. Dina wird von einem Soldaten vergewaltigt, das Geschäft wird beschlagnahmt, Gideon wird abgeholt. Er stirbt im KZ Jasenovac. Dinas Familie aus Istanbul schickt Alí, der die beiden holen soll. Die Flucht ist grausam. Dina wird mehrfach brutal vergewaltigt, in anderen Situationen bietet sie sich an – und rettet somit allen dreien das Leben. Natan sieht alles mit an.
In Istanbul angekommen, ist die Lage in Dinas Elternhaus – ob der Unentschlossenheit der Türkei, im Krieg Partei zu ergreifen – wirtschaftlich prekär, aber noch friedlich. Dina heuert beim OSS (Office of Strategic Services), dem Vorläufer der CIA, an. „Ich hatte keinen Zweifel: Wir brauchten das Geld und vielleicht könnte ich so den Tod meines Mannes rächen.“ Zum ersten Mal setzt die vielsprachige junge Frau auch ihre körperliche Attraktivität bewusst ein, um betörte Männer zum Reden zu bringen. „Ich fand meine Femme fatale-Rolle schon ein wenig karikaturesk“, denkt Dina nun zurück. Aber sie funktioniert hervorragend. Einige Monate später wird sie vom türkischen Geheimdienst festgenommen, die restliche Familie wird kurz darauf wie alle jüdischen Nachbarn abgeholt. Außer Natan, der zu der Zeit mit einem Freund durch Istanbul streunte. Die Jungs werden von Vertretern des „Joint Distribution Committee“ angesprochen.
Die seit 1914 in Europa tätige Hilfsorganisation US-amerikanischer Juden bringt Natan 1942 über Ankara, Aleppo und Beirut ins Kibbuz Hamifratz nach Palästina. Sein Lehrer dort gibt ihm den Namen Yehuda. Als der Krieg endet, ist er zehn Jahre alt. Er ist überzeugt, dass seine Mutter tot ist. Und er glaubt fest, dass sie ihn verlassen hat, dass sie eine schlechte Frau war, eine Verräterin. Im Kibbuz schließt er Freundschaften, verliebt sich, will Soldat werden und für den unabhängigen Staat Israel kämpfen. Ein Brief aus Istanbul verändert alles. Seine Mutter lebe in Argentinien, schreibt die Großmutter. Sie organisiert seine Reise über Istanbul nach Buenos Aires.
„Das war schon alles interessant“, sagt die Autorin Lewin, aber es schien eben auch wie die x-te Geschichte eines Holocaust-Überlebenden, der in Argentinien ein neues Leben begonnen hat. „Auch in meiner Familie gibt es solche Geschichten“, sagt Lewin. Zum Beispiel habe ein Cousin ihres Vaters, der als Auschwitz-Überlebender mit der eintätowierten Nummer in Buenos Aires angekommen sei, sich hier in eine Frau verliebt, die auch eine Auschwitz-Nummer auf dem Arm hatte. Lewins Eltern beziehungsweise Großeltern waren bereits in den 20er-Jahren aus dem polnischen Bialystok nach Argentinien ausgewandert. Das Gros ihrer Familienangehörigen wurde in Treblinka vergast. „Ich habe Natan ehrlich gesagt, dass der interessanteste Teil seiner Geschichte der ist, über den er nicht reden wollte“, sagt Lewin. Natan wird in Buenos Aires ein Spion für den Mossad.
Nach seiner Ankunft bezieht er im Haus von deutschen Freunden Ferdinand Berges ein Zimmer, beginnt, in einer Tischlerei zu arbeiten. Die deutsche Nazi-Exilgemeinde ist hilfsbereit, schließlich ist er der verwaiste türkische Neffe von Dina. Natan wird bei Festen und großen Abendessen eingeführt, wo Würste und Schwarzwälder Kirschtorten gegessen und über das viel zu liberale „Deutsche Tageblatt“ debattiert wird. Er geht mit Gleichaltrigen, die Eva, Adolf oder Gretchen heißen, in den „Deutschen Club“ oder in „Die Eiche“. Für den jungen Mann ist all das extrem verstörend. Seine Abneigung gegen die eigene Mutter wächst. Natan beobachtet, dass sie bei Partys Sex mit anderen Nazis hat. Wie kann sie das nur tun?
In einem Eisenwarenladen im Viertel La Paternal, dessen Eingang eine Mesusa (jüdische Schriftkapsel am Türpfosten) ziert, lernt Natan Duvet kennen und vertraut sich ihm an. Duvet stellt den entscheidenden Kontakt her und so beginnt seine geheime Mission in Vicente López. Natan sammelt akribisch Informationen, wird vorgeblich zum Hobbyfotografen und kann seinem Verbindungsmann des Mossad bald Ergebnisse übermitteln. Natan ist dabei, als Ricardo Klement (Eichmann) Willem Sassen die berühmten Interviews gibt; als Helmut Gregor (Mengele) eine Abtreibung vornimmt; er lernt Ludolf von Albensleben, Hans-Ulrich Rudel und Eberhard Fritsch kennen. Sie alle fühlen sich im beschaulichen Vorort Vicente López offenbar sicher. Erst Eichmanns Entführung durch ein Mossad-Kommando im Mai 1960, mit der Natan selbst nichts zu tun hat, beendet das Nazi-Idyll am anderen Ende der Welt. Das Geheimnis um Dina hingegen bleibt bestehen.
„Dina und Natan“ firmiert als Roman. „Als wir die Gespräche mit Natan ausgewertet haben, wurde uns klar, dass manche Details seiner Erinnerungen sich nicht mit den historischen Fakten decken“, erzählt die Investigativjournalistin. „Ich würde sagen, zu 85 Prozent entspricht die Erzählung der Wahrheit.“ Kurz vor Veröffentlichung des Buches, im Dezember 2024, ist Natan in Buenos Aires gestorben. Darüber, dass seine Mutter Dina, die heimliche Protagonistin des Buches, keine Verräterin, sondern eine Heldin ist, war er sich erst spät bewusst geworden.
Miriam Lewin (*1957) ist eine Überlebende der letzten Militärdiktatur, unter der sie in verschiedenen klandestinen Haftanstalten, darunter der ESMA, gefoltert wurde. 1985 war sie Zeugin im Prozess gegen die Junta. Investigativjournalistin für TV, Radio und Print. Im Zuge ihrer Recherche über die Todesflüge wurde 2023 eine originale Skyvan-Maschine in das Erinnerungszentrum Ex-ESMA überführt.