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Ein Verfahren, das Rechtsgeschichte geschrieben hat

Interview mit Marlene Becker von Germanwatch zur Klimaklage gegen RWE

Es wurde Geschichte geschrieben. Rechts­geschichte, denn die Klimaklage vom peruanischen Bergführer und Bauern Saúl Luciano Lliuya gegen den Konzern RWE steuert nach zehn Jahren Prozess auf sein Ende zu. Der Fall ebnet damit erstmals den Weg für die Haftbarkeit von privaten Unternehmen für die durch sie hervorgerufenen Klimaschäden. Warum hier genau Rechtsgeschichte geschrieben wurde und was die Hauptbotschaften dieser Klage sind, hat die Referentin für Klimaklage-Kommunikation, Dr. Marlene Becker von Germanwatch Berlin, Lucy Weiler in einem Interview erklärt.

Lucy Weiler

Was hat es mit der Klimaklage von Saúl Luciano Lliuya aus Peru gegen den Konzern RWE auf sich? Welche Rolle spielt die Gefahr einer Flutwelle im Gebirge?

Im Jahr 2014 fand der Klimagipfel in Lima, Peru, statt. Daran nahmen auch Mitarbeiter*innen von Germanwatch teil. Saúl machte sich zu diesem Zeitpunkt große Sorgen um die Sicherheit der Menschen in der Stadt Huaraz in den Anden. Denn mit jedem Tag steigt dort das Risiko einer klimawandelbedingten Flutwelle. Über einen landwirtschaftlichen Berater entstand schließlich der Kontakt zwischen Saúl und Germanwatch. Während Germanwatch Saúl seitdem in Sachen Öffentlichkeitsarbeit unterstützt, kommt die Stiftung Zukunftsfähig für alle Gerichts-, Anwalts- und Gutachtenkosten auf. In Huaraz stehen wir vor mehreren Problematiken, die Saúls Leben beeinflussen: auf der einen Seite die Flutgefahr aufgrund der klimawandelbedingten Gletscherschmelze, auf der anderen Seite der Wassermangel. Der Permafrost im Hochgebirge der Anden schmilzt stetig durch die globale Erwärmung. Dadurch wird das Gestein instabiler, und es drohen Geröll- und Eisabgänge. Eine große Gefahr. Oberhalb der Stadt Huaraz gibt es die Laguna Palcacocha, ein Gletschersee, dessen Wasserpegel durch das Schmelzen ansteigt. Der Pegel ist seit den 1970er-Jahren bereits über das 30-Fache angewachsen. Bereits 1941 gab es dort eine Flutwelle mit rund 1800 Toten. Der menschengemachte Klimawandel war bereits damals einer der auslösenden Faktoren. Geht nun eine Eislawine in den See ab, kann es erneut zu einer Flutwelle kommen. Rund 50 000 Menschen wären dann akut betroffen. Das Risiko wird als so hoch eingeschätzt, dass der See rund um die Uhr überwacht wird. Die Angst vor einer ähnlichen Katastrophe ist im kollektiven Gedächtnis der Stadt natürlich verankert. Es gibt Familien, die Angehörige verloren haben oder Menschen, die damals die Flut als Kind erlebt haben.

Wir haben auf der einen Seite das Risiko, dass Huaraz von einer Welle überflutet werden könnte. Auf der anderen Seite ist der Wassermangel ein Problem. Das erscheint zunächst paradox: Flut und Trockenheit. Was hat es mit dem Wassermangel auf sich, und inwiefern soll RWE dafür Verantwortung übernehmen?

Wassermangel ist ein weltweites Problem, das durch den Klimawandel mitverursacht wird. Unter anderem leidet die Landwirtschaft im Hochgebirge von Huaraz unter der Trockenheit. Aber auch die Menschen leiden darunter, denn sie verwenden das Wasser aus den Bergen als Trinkwasser. Da RWE einer der größten CO2-Emittenten Europas ist und laut der Carbon-Majors-Studie zu etwa 0,5 Prozent für den menschengemachten Klimawandel verantwortlich ist, soll RWE nun vor Gericht dazu verpflichtet werden, sich finanziell an den erforderlichen Schutzmaßnahmen zu beteiligen. Und zwar in Höhe des Anteils von RWE am menschengemachten Klimawandel, also 0,5 Prozent.

Wir sprechen bei dieser Klimaklage nun davon, dass Rechtsgeschichte geschrieben wird. Stichwort für Eingeweihte: Paragraf 1004 BGB. Was ist das Einzigartige an diesem zivilrechtlichen Verfahren, und was macht es zu einem Präzedenzfall?

Saúls Klage gegen ein Unternehmen ist eine von vielen Klimaklagen weltweit. Das Besondere an Saúls Fall ist, dass es die Klage bis in die Beweisaufnahme vor das Oberlandesgericht Hamm geschafft hat. Das Oberlandesgericht hat bejaht, dass ein privates Unternehmen wie RWE rechtlich haftbar gemacht werden kann. Hier bildet sich also gerade ein neues Instrument für Betroffene des Klimawandels. Somit ist es ein richtungsweisender Präzedenzfall. Die Klimaklage von Saúl teilt sich auf in zwei Beweisfragen. Die erste Beweisfrage, wie hoch das Risiko für das Eigentum von Saúl durch eine Flutwelle des Palcacocha-Sees ist, wird aktuell verhandelt. Natürlich geht es Saúl bei seiner Klage nicht nur um sein Eigentum, sondern um die allgemeine Sicherheit aller Bewohner*innen von Huaraz. Dennoch muss man juristisch den möglichen Schaden an einer Einzelperson festmachen, und nicht an einer Stadt. Die zweite Beweisfrage ist, inwiefern RWE als Konzern zum Klimawandel und somit zu den Folgen beigetragen hat. Erstmals hat ein Gericht bejaht, dass prinzipiell ein privates Unternehmen für seinen Anteil an der Verursachung klimabedingter Schäden verantwortlich ist. Das ist historisch. Dass der Prozess so lange dauert, hätte 2015 natürlich niemand erwartet. Unter anderem hat die COVID-19-Pandemie alles verzögert.

Insgesamt nehmen wir im Moment wahr, dass die Berichterstattung zur Klimakrise angesichts anderer Themenschwerpunkte in den Hintergrund gerückt ist. Können Sie das für das jetzige Verfahren bestätigen?

Bei uns war es eher das Gegenteil. Dieser Präzedenzfall hat international für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Daher haben wir viele Anfragen für Statements, Interviews und Ähnliches erhalten, unter anderem aus China. Diese mediale Präsenz ermöglicht Saúl, dass weltweit Bewusstsein für die Situation in Peru geschaffen wird. Gleichzeitig zeigt dieser Fall, wie Menschen wie Saúl, die wenig bis gar nichts zum Problem beigetragen haben, mit den massiven Folgen der Klimakrise konfrontiert sind.

Was würde es für Saúl und die anderen Bewoh­ner*innen von Huaraz bedeuten, wenn das Ober­landes­gericht die Klage am 28. Mai als nicht rechtskräftig bewertet und RWE die Schutzmaßnahmen nicht finanzieren muss?

Es wäre eine Enttäuschung, wenn das Risiko einer Flut nicht anerkannt würde. Schließlich ist der Klimawandel beziehungsweise die Flutgefahr für Saúl und die Bewohner*innen von Huaraz offensichtlich. Die Behörden und Menschen vor Ort werden sich aber auch ohne die Mitfinanzierung von RWE weiterhin für Strategien zum Bevölkerungsschutz und Klimaanpassung einsetzen. Aber selbst wenn es zu dieser Situation kommt und das Flutrisiko als rechtlich zu gering eingeschätzt wird, wird der Fall dennoch einen Präzedenzfall schaffen und weltweite Auswirkungen haben. Bereits 2017 stellte das Oberlandesgericht fest, dass es einen zivilrechtlichen Anspruch zum Schutz der von der Klimakrise Betroffenen gegen einen sehr großen Emittenten wie RWE grundsätzlich für schlüssig hält. An das kommende Urteil können sich Betroffene der Klimakrise weltweit an Gerichte wenden und große Unternehmen zur Verantwortung ziehen, denn ähnliche Artikel wie der §1004, auf den sich die Klage stützt, gibt es auch in anderen Ländern.

Wenn das Urteil positiv für Saúl ausfällt: Was würde in den nächsten Monaten und Jahren auf Saúl und Germanwatch zukommen?

Denkbar wäre, dass RWE noch in Revision geht. Ist das nicht der Fall, würde im Anschluss an das Urteil die Zahlung an Saúl geplant. Das Geld wäre ein Teilbetrag für die notwendigen Schutzmaßnahmen vor Ort. Das müsste natürlich alles auf lokaler Ebene in Huaraz erfolgen. Zudem hat das Gericht über die Situation in Huaraz hinaus ein historisches Grundsatzurteil getroffen, auf das sich Betroffene weltweit berufen können und das in vielen anderen Ländern ähnlich angewendet werden könnte.

Was ist für Sie die wichtigste Botschaft, die dieser Fall der Gesellschaft und Welt vermittelt?

Saúl hat bewiesen, dass Einzelne viel erreichen können. Es lohnt sich, nicht aufzugeben und sich für Gerechtigkeit einzusetzen. Es geht nicht darum, dass alle nun beginnen, Unternehmen zu verklagen, sondern es geht um politische Lösungen. Juristisch zeigt der Fall, dass private Unternehmen eine globale Verantwortung haben und dass Betroffene der Klimakrise nicht rechtlos sind.

Das Online-Interview mit Marlene Becker führte Lucy Weiler am 16. April 2025.