Anklage, Liebeserklärung, Kampfansage
Ein Baum in der Staubwüste, Geldscheine anstelle von Blättern und der Untertitel „Wer vom Raubbau am Regenwald profitiert“. Schon der erste Eindruck von Nicole Marons „Kahlschlag im Amazonas“ ist provokant.
Die Schweizer Journalistin mit Fokus auf umwelt- und sozialpolitische Themen macht schnell klar, dass die Leser*innen eine Anklageschrift vor sich haben. Gegen Dennis Melka, den Geschäftsführer einiger internationaler Konzerne, an dessen Geschichte sich archetypisch aufzeigen lässt, was falsch läuft im Amazonasgebiet. Aber auch gegen die Behörden, die dies zulassen, das System, das dieses Verhalten fördert, die käufliche Justiz Perus, das bewusste Wegsehen der internationalen Gesellschaft, die fehlende Aufarbeitung kolonialer Kontinuitäten in der Klima- und Agrarpolitik.
Wir begleiten die Machenschaften mehrerer Melka-Unternehmen von ersten Börsenauftritten bis tief in den Dschungel – sowohl den tatsächlichen, wo für den Anbau von Kakao und Palmöl etwa 11000 Hektar Primärwald abgeholzt werden, als auch den metaphorischen. Schnell verdichtet sich das Geflecht aus Ausbeutung, Spaltung, Kriminalität, Drohungen und Gerichtsverfahren.
Mit besonderem Fokus auf indigene und aktivistische Perspektiven präsentiert die Autorin ein Buch im Reportagestil, basierend auf ihren Recherchen, Interviews und Berichten. Juristische, politische, landwirtschaftliche, ökologische, kulturelle oder spirituelle Details behandelt sie in entsprechenden Infokästen.
Wir begleiten sie auf ihrer Suche nach der Wahrheit durch eine Geschichte, die Börsenkrimi und Krisenbericht zugleich ist. Der Aufbau illegaler Plantagen ist nicht nur eine der größten neuen Bedrohungen für Peru. Darüber hinaus führt er zur Spaltung indigener Gruppen, ist lebens- und identitätsgefährdend und häufig mit anderen Aspekten der Kriminalität verbunden, etwa Drogenhandel, Todesdrohungen, Korruption, Steuerhinterziehung oder Betrug. Zudem ist das Werk als „ganz persönliche profunde Liebeserklärung“
(S. 8) an den Amazonasregenwald zu verstehen.
Eigentlich zum Verzweifeln
Genau diese mehreren Ebenen sind typisch für das Buch. Neben persönlichen und politischen Kämpfen verschiedener Aktivist*innen in ihrer juristischen Komplexität beleuchtet Maron auch ihre persönliche Reise und Arbeit. Mit historischen Rückblicken, Grundsatzfragen, emotionalen und spirituellen Perspektiven macht sie deutlich, dass es um keinen Einzelfall geht, sondern um die generelle Frage, wie weit das sogenannte westliche Modell und Weltbild uns noch bringen kann und sollte.
„Wir müssen anprangern“ (S. 21), sagt Lucila Pautrat, die Direktorin einer NGO, die Maron als Ausgangspunkt ihrer Recherche dient, und: „Die Mühlen der Gerechtigkeit mahlen langsam in Peru.“ (S. 22) Sie bezieht sich auf die Repression, der Journalist*innen, Aktivist*innen und Betroffenen des Landraubs begegnen.
Doch trotz niederschmetternder Urteile, aller verbundenen Gefahren und so vieler Zusammenhänge und Verwicklungen klingen immer Wut, Kampfgeist und Hoffnung durch. Vielleicht lesen sich deshalb die gut 300 Seiten über Themen, an denen man eigentlich verzweifeln müsste, so flüssig: Das Buch glaubt, verrückter- und gewagterweise. Es zuckt und schreit und klagt an und leidet. Aber es glaubt auch noch.
Und während Marons Werk informativ und kritisch hervorhebt, dass Berichterstattung häufig wenig Auswirkungen hat und dennoch geschehen muss, bringt es auch Politik mit der Faszination für die Natur zusammen.
Maron gliedert ihre theoretische Recherche vor der Reise in einer Mindmap, die immer größer und komplizierter wird. Und auch das Buch ist ein Sammelsurium aus verschiedenen Zeiten, Orten und Aspekten, Geschichten, Personen und Handlungen, die – teils scheinbar aus der Luft gegriffen – am Ende doch immer zusammenfinden.
Immer wenn man denkt, es könne sich nicht weiter zuspitzen, knallt sie eine neue Akte auf den Tisch: Kokainhandel, korrupte UN-Funktionäre, postkoloniale Abhängigkeit.
Dabei findet sie für die Charakterisierung von Melka und weiteren Schuldigen einen ironisch-bissigen Ton, für die Darstellung der Kämpfe vor Ort politische Präzision und Aufrichtigkeit.
Alles wird zusammengebracht, mit Kontext, aber ohne runden Schluss – weil es noch nicht vorbei ist und noch nicht vorbei sein darf.
„Kahlschlag im Amazonas“ versteht sich als Anklage und Liebeserklärung, aber es ist auch eine Kampfansage.