Wer wagt es aktuell, von Utopien zu sprechen? Die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen, sowohl hierzulande als auch in Lateinamerika und weltweit, nehmen uns vielmehr den Atem und den Mut. Aber Pessimismus und Rückzug machen nichts besser, spielen den Rechten nur in die Hände. Wir Menschen brauchen Utopien. Oder wie es Eduardo Galeano, der große uruguayische Autor und Chronist, festhielt: „Die Utopie, sie steht am Horizont. Ich bewege mich zwei Schritte auf sie zu, und sie entfernt sich um zwei Schritte. Ich mache weitere zehn Schritte, und sie entfernt sich um zehn Schritte. Wofür ist sie also da, die Utopie? Dafür ist sie da: um zu gehen!“
Speziell aus Lateinamerika sind in der Geschichte kühne utopische Entwürfe gekommen, die inspiriert und zur Nachahmung angeregt haben. Was auf Spanisch meist als „propuesta“ daherkommt (auf Deutsch bescheiden als „Vorschlag“ übersetzt), birgt mitunter ausgefeilte, umfassende, bahnbrechende Konzepte. Ein paar Stichworte aus den letzten Jahrzehnten: die Befreiungstheologie, die sich ab den 1960er-Jahren gegen autoritäre Regime positionierte und die „Option für die Armen“ in den Mittelpunkt stellte; die cubanische Revolution samt ihrer Bildungsreformen und Ausweitung der Gesundheitsversorgung; Salvador Allendes demokratischer Sozialismus in Chile; die sandinistische Revolution in Nicaragua; die zapatistische Autonomie samt indigener Selbstverwaltung in Chiapas; das Konzept des „Buen Vivir“, das es in Verfassungstexte schaffte und dessen Verbreitung Postwachstumsdebatten weltweit beflügelte; solidarische Ökonomien, etwa in Argentinien, wo mit besetzten Fabriken und Kooperativen Alternativen zum Kapitalismus gesucht wurden; die Konstituierung Boliviens als „plurinationaler Staat“; die Weltsozialforen in Porto Alegre und später weltweit, unter dem Motto „Eine andere Welt ist möglich“; die als „grüne Flut“ bekannt gewordene feministische Bewegung in Argentinien, im Einsatz für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen.
Wir könnten ewig weitermachen. Und wollen an dieser Stelle nicht darüber lamentieren, dass einige dieser Beispiele gescheitert sind. Schon beim Zusammenstellen fällt auf: All diese propuestas tragen dazu bei, dass es die ila heute noch gibt. Die ila-Redaktion hat sich stets für hoffnungsvolle Ansätze begeistert, (mit) von Revolutionen geträumt sowie der gängigen, zu sehr auf Elend und Katastrophen fokussierten Berichterstattung Alternativen entgegengesetzt.
Aber was ist, wenn wir nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft schauen? Die Zeiten sind nicht die besten für die Utopien. Machen wir es eine Nummer kleiner und fragen: Wo sind die Lichtblicke? Welche Menschen, Initiativen, Kollektive schaffen es, sich aktuell für Frieden, Gerechtigkeit, Feminismus, Gleichheit, Menschenrechte, für ein Ende der Straflosigkeit sowie der Ausbeutung von Natur und Menschen einzusetzen? Wer lebt friedliche, zukunftsgerichtete Alternativen vor? Wem wollten wir schon immer mal ein Denkmal setzen?
Auch Kunst gibt Anstöße. Deswegen versammeln wir im aktuellen Dossier eine Reihe von Gedichten und Mikrofiktionen, also Ultrakurzgeschichten. Auf unsere öffentliche Ausschreibung und unsere Anfrage an das Netzwerk von Autorinnen für Mikrofiktionen (REM) haben wir beeindruckend vielfältige, bezaubernde Texte zugeschickt bekommen. An dieser Stelle ein dickes Dankeschön und eine warme Umarmung an die Schriftstellerin Esther Andradi (Berlin/Buenos Aires) für die Vermittlung und an alle beteiligten Kreativen! Einer von ihnen, der Dichter Tiago Alves Costa, sagt: „Poesie ist eine Sprache, die die Sprache selbst in Frage stellt. Auf ihrem Territorium wird das Alltägliche fremd und das Intime universell. In einer Welt, die von Lärm gesättigt ist, ist das Schreiben von Gedichten eine Form von Widerstand und radikaler Aufmerksamkeit.“
Die Vorschläge zurzeit mögen klein und defensiv erscheinen, aber sie sind notwendig. Inspirierend sind sie allemal. In diesem Sinne: Bangemachen gilt nicht!
In eigener Sache: Dies ist die erste Ausgabe ohne Ko-Redaktion unserer Kollegin Mirjana Jandik, die eine andere wichtige Arbeit übernommen hat. Ihre erfrischende, kooperative und
kluge Präsenz im Büro wird uns fehlen. Aber wir hoffen, dass sie uns noch lange als freiwillige Mitarbeiterin erhalten bleibt.