Zeitenwende in Argentinien?
¿Qué ves cuando me ves? Cuando la mentira es la verdad (Was siehst du, wenn du mich siehst? Wenn die Lüge zur Wahrheit wird) sang die argentinische Rockgruppe Divididos in den 1990ern, als Carlos Saúl Menem Präsident von Argentinien war. Argentiniens aktueller Präsident, Javier Milei, hält Menem für den besten Präsidenten der argentinischen Geschichte – nach sich selbst natürlich. Auch heute verkauft die argentinische Regierung Lügen als Wahrheit. Roberto Frankenthal zerpflückt diese Lügen.
Lüge 1: Die Inflation ist eingedämmt
Wenige Tage nach der Amtsübernahme am 10. Dezember 2023 wurde der argentinische Peso um 116 Prozent abgewertet, was zu einem beschleunigten Anstieg der Inflation um 25 Prozent im selben Monat führte. Mit diesem Rechentrick behauptete Milei, das Land sei auf dem Weg in eine Jahresinflation von 17 000 Prozent. Im Vergleich dazu ist die aktuelle jährliche Inflationsrate von 160 Prozent gewiss wesentlich niedriger. Allerdings liegt diese Zahl nur knapp unter dem Jahresindex der Regierung von Vorgänger Fernández bis November 2023. Darüber hinaus wird der gewaltige Preisanstieg der öffentlichen Versorgungsleistungen (Wasser, Strom, Gas) in der Kalkulation nicht mehr im vollen Umfang berücksichtigt. Sonst würde die Inflation vielmehr bei 180 bis 200 Prozent liegen.
Lüge 2: Die Armut ist zurückgegangen
Laut der argentinischen Statistikbehörde INDEC waren Mitte 2024 etwa 53 Prozent der Argentinier*innen arm. Die Milei-Regierung gab im Dezember 2024 bekannt, dass die Armut der Bevölkerung auf 39 Prozent zurückgegangen sei. Bestimmte Kennzahlen stellen diesen Rückgang in Frage. Der Einkauf in kleinen und großen Geschäften ist zwischen Dezember 2023 und Dezember 2024 um 25 Prozent zurückgegangen. Auch der Konsum von Grundnahrungsmitteln wie Milch, Mate-Tee und Fleisch ist in derselben Zeit um ein Drittel gesunken. Andere Indikatoren, wie etwa der Verkauf von Medikamenten in Apotheken (vor Dezember 2023 noch subventioniert), zeigen ebenfalls Veränderungen, was besonders für Rentner*innen eine Rolle spielt.
Lüge 3: Die Wirtschaftslage ist stabil und Milei ist der erfolgreichste argentinische Präsident aller Zeiten
Seit Monaten verhandelt der argentinische Wirtschafts- und Finanzminister Luis Caputo mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF), um ein neues Darlehen zu erhalten. Einem Gesetz aus dem Jahr 2022 zufolge sollten diese Darlehen vom argentinischen Parlament längst genehmigt worden sein. Vor wenigen Tagen präsentierte die Milei-Regierung eine Not- und Dringlichkeitsverordnung (DNU), um diese Genehmigung zu umgehen. Die argentinische Zentralbank registriert zurzeit einen negativen Saldo von etwa 10 Milliarden US-Dollar. Die amtierende Regierung benötigt das Darlehen also sofort, um die Wirtschaftslage des Landes bis zu den Parlamentswahlen im Oktober 2025 zu stabilisieren.
Fehler und Blamagen
Wie letztes Jahr war Mileis Auftritt beim Weltwirtschaftsgipfel von Davos äußerst kontrovers. Während er 2024 alle Wirtschaftsordnungen, bis auf seine eigenen Ideen, als „sozialistischen Quatsch“ bezeichnete, konzentrierte er sich 2025 auf die sogenannte „Anti-Woke-Agenda“ des internationalen Neofaschismus. Seine Ausführungen gipfelten in der Behauptung, die Gender-Ideologie sei eine Rechtfertigung für „Kinderschänder“. Diesen Begriff der „Kinderschändung“ benutzte er bereits, als er die Rolle des Staates in der Wirtschaft definierte: „Der Staat ist wie ein Kinderschänder, der Zutritt zu einem Kindergarten hat, wo die Kinder gefesselt und eingeölt liegen.“ Welche Gedankenwelt sich hinter einem solchen Vergleich verbirgt, wäre eine interessante Aufgabe für Psycholog*innen. Seine Ausführungen sorgten für Empörung. Feministische und LGBTIQ+-Gruppen riefen auf zu einem „antifaschistischen und antirassistischen Marsch“ am 1. März 2025 mit starker Unterstützung von politischen Parteien, Gewerkschaften und der Menschenrechtsbewegung.
Die nächste Blamage: Mitte Februar empfahl Milei über seine Lieblingsplattform X eine Investition in eine bestimmte Kryptowährung. Er ist ein fundamentalistischer Befürworter dieser Finanzinstrumente, die fernab staatlicher Regulierung agieren. Die Initiatoren der Kryptowährung hatten sich bereits im Oktober 2024 mit Milei in Buenos Aires getroffen. Allerdings scheint die Herausgabe der Kryptowährung „$Libra“ mit einer betrügerischen Absicht eingeführt worden zu sein. Vier Minuten vor Mileis Post auf X wurde $Libra ins Netz gestellt. Mileis Post führte dazu, dass 40 000 Investor*innen einstiegen und dadurch $Libra binnen weniger Minuten ihren Wert versechsfachte. Allerdings verkauften wenige Zeit später sieben der Erstanleger*innen 87 Prozent ihrer Bestände. In Folge dessen verlor $Libra rasant an Wert. Die sieben Erstanleger*innen sollen dabei etwa 100 Millionen US-Dollar verdient haben. Alle anderen Investor*innen verloren sogar ihre Einlage. Sechs Stunden später korrigierte Milei seinen Post, mit dem Hinweis, dass er über „die Einzelheiten des Projektes“ nicht Bescheid wisse. Die im Finanzsektor bekannte Masche („Rug and Pull“) hat ein politisches und juristisches Nachspiel. Das argentinische Parlament will einen Untersuchungsausschuss dazu bilden und besonders die Rolle der Schwester des Präsidenten und Generalsekretärin des Präsidialamtes, Karina Milei, untersuchen lassen. Sie soll im letzten Jahr die Kontakte zwischen dem Kryptomanager und dem Präsidenten ermöglicht haben. Vor zwei argentinischen Bundesgerichten erstatteten Anleger*innen Anzeige, ebenso in Spanien, weil einer der Manager dort einen Zweitwohnsitz hat. Die für Milei gefährlichste Klage wurde am U.S. Supreme Court eingereicht.
Schutzlos im Starkregen
Am 7. März 2025 regnete es acht Stunden lang ununterbrochen in der Stadt Bahía Blanca, im Süden der Provinz Buenos Aires. 400 Millimeter Niederschlag pro Quadratmeter wurden an dem Tag gemessen, so viel wie normalerweise im ganzen Jahr in Bahía Blanca. Geprägt vom Negationismus der Klimakatastrophe hatte die argentinische Zentralregierung wenige Wochen davor ihr Koordinationsbüro für Katastropheneinsätze aufgelöst. An diesem Tag kamen 16 Menschen ums Leben und mehrere tausend mussten ihre Häuser verlassen. Die lokalen Behörden und der Gouverneur der Provinz Buenos Aires, der oppositionelle Axel Kiciloff, mobilisierten ihre begrenzten Mittel, um der Bevölkerung zu helfen. Erst zehn Tage später und ohne Ankündigung, um eventuelle Proteste zu verhindern, tauchte Milei vor Ort auf. Begleitet von etwa 100 Sicherheitskräften spazierte er weniger als eine Viertelstunde durch die Stadt und versprach, 10 Millionen US-Dollar für den Wiederaufbau bereitzustellen. Der Oberbürgermeister von Bahía Blanca bezifferte die Kosten des Wiederaufbaus auf etwa 400 Millionen US-Dollar.
Rentner*innen und Fußballfans geeint auf der Straße
Seit Monaten demonstrieren Rentner*innen jeden Mittwoch vor dem argentinischen Parlament. Die Mindestrente liegt bei etwa 260 Euro monatlich. Laut der argentinischen Statistikbehörde INDEC benötigt eine Person mindestens 450 Euro im Monat zum Überleben. Die Demonstrationen, an denen sich in der Regel einige hundert Leute beteiligen, lösten die Sicherheitskräfte zunehmend mit Gewalt auf. Bilder von älteren Frauen und Männern, die von hochgerüsteten Polizist*innen verprügelt oder mit Tränengas angegriffen werden, brachten organisierte Fußballfans dazu, sich am 12. März mit den Rentner*innen zu solidarisieren. Dieser Demonstration wurde mit noch mehr Gewalt begegnet. Einsatzgruppen aller Sicherheitskräfte waren mit Motorrädern, Wasserwerfern und für Kriegseinsätze geeigneter Ausrüstung am Start. Über 2000 Einsatzkräfte, begleitet durch Provokateure, die „zufälligerweise“ eine Waffe fallen ließen oder mal einen geöffneten Einsatzwagen verließen (der danach durch Unbekannte in Brand gesetzt wurde), gingen auf die Fußballfans und Pensionäre los. Eine 87-jährige Frau wurde durch einen Schlagstockeinsatz ohnmächtig. Eine gezielt abgefeuerte Tränengaspatrone traf den Kopf des Fotojournalisten Pablo Grillo. Während der Demo nahm die Polizei über 120 Menschen fest. Eine Richterin ließ sie nach wenigen Stunden wieder frei, da die Festnahmen keine Grundlage hatten. Empört über diesen Einsatz riefen für den 19. März noch mehr Anhänger*innen verschiedener Fußballvereine zum Protest auf. Die Demo blieb friedlich, denn wenn eine gewisse Anzahl an Demonstrant*innen auf die Straße geht, werden die Einsatzpläne von Sicherheitsministerin Patricia Bullrich nicht mehr so genau genommen. Vielleicht hatte die Zurückhaltung auch damit zu tun, dass ein Bundesrichter die Demonstration direkt beobachtete.
Bullrich, die bereits unter Mauricio Macri (2015-2019) Sicherheitsministerin war, übernimmt immer mehr die Rolle der „Law & Order“-Verfechterin. Schon unter Macri versuchte sie eine Gruppe Mapuche als „internationale Terroristen“ zu brandmarken, die von der kurdischen PKK und der spanischen ETA unterstützt würden. Sie blamierte sich, als sie in einer Pressekonferenz das angebliche Arsenal der Mapuche vorführte: alte verrostete Werkzeuge, zwei Messer und eine Schrotflinte aus dem 19. Jahrhundert. Seit der Amtseinführung von Milei schoss sie mehrmals verbal über das Ziel hinaus: Eine angebliche tonnenschwere Beschlagnahmung von Kokain entpuppte sich als Sicherstellung einer Talkumlieferung. Alle Demonstrierenden, die gegen Milei auf die Straße gehen, werden als mutmaßliche Terrorist*innen diffamiert, die einen Putsch vorbereiten. Alle Festgenommenen werden früher oder später freigelassen, weil die Festnahmen ohne Grund stattfinden und nur der Einschüchterung dienen.
„Einseitiges“ versus „komplettes“ Gedenken
Am 24. März 2025, dem Jahrestag des Putsches von 1976, kam es zu Massendemonstrationen in Buenos Aires sowie in den argentinischen Provinzgroßstädten Rosario und Córdoba. Über 400 000 Menschen in der Bundeshauptstadt, 150 000 in Córdoba und etwa 100 000 in Rosario gingen auf die Straße, um weiter für Wahrheit, Gerechtigkeit und Erinnerung zu kämpfen. Seit Mileis Amtseinführung im Dezember 2023 wird jede staatliche Behörde oder Organisation, die zu Menschenrechten arbeitet, gestrichen oder kaltgestellt. Zwar wurde die juristische Aufarbeitung der begangenen Menschrechtsverbrechen nicht gestoppt, aber jede Art der Unterstützung oder Hilfe durch Bundesbehörden oder Ministerien wurde eingestellt.
Konfrontiert mit der großen Menschenansammlung auf den Straßen hat das argentinische Präsidialamt ein Video mit einer Stellungnahme von Agustín Laje (angeblich der Redenschreiber von Milei in Davos) in Umlauf gebracht. Laje betonte, dass die Regierung Milei die „komplette Erinnerung“ befürworten würde (im Gegensatz zur „einseitigen“ Haltung der Kirchner-Regierungen). In seiner Ansprache beschrieb Laje die Tätigkeit der politisch-militärischen Organisationen in den 1970er-Jahren und versuchte, auf ihre Opfer aufmerksam zu machen. Allerdings erwähnte er mit keinem Wort die Struktur der Einsatzgruppen der Sicherheits- und Streitkräfte, noch die Existenz von etwa 400 Konzentrationslagern. Auch der Raub und die Entführungen von Kindern und Babys zwischen 1976 und 1983 blieben unangesprochen. Somit konnte von „kompletter Erinnerung“ keine Rede sein.
Am selben Tag gab der Sprecher des Präsidialamts, Manuel Adorni, bekannt, dass die Regierung alle Archive der damaligen SIDE (Nachrichtendienst des Staates) offenlegen würde. Cristina Caamaño, die die Nachfolgebehörde der SIDE unter Cristina Fernández de Kirchner leitete, bezeichnete die Ankündigung als „inhaltslose Luftnummer“, schließlich wurde die Offenlegung bereits 2010 durchgeführt. Was immer noch nicht offengelegt worden ist, sind die Listen der Verschwundenen, die die Sicherheitskräfte mindestens bis Dezember 1983 führten. Um bei großspurigen, aber inhaltslosen Bekanntmachungen zu bleiben, gab Guillermo Francos, Chef des Ministerkabinetts der Regierung Milei, am 25. März bekannt, dass die argentinische Regierung die noch verbleibenden Archive über Nazi-Verbrecher*innen, die sich in Argentinien nach dem Zweiten Weltkrieg niederließen, veröffentlichen werde. Erinnerungen an den Februar 1992 werden wach, als Präsident Menem die Offenlegung der Nazi-Archive der argentinischen Behörden versprach. Heraus kam eine Sammlung von Zeitungsausschnitten aus der argentinischen Presse zu diesem Thema aus den 1940er- und 1950er-Jahren.
Lästige Argentinier*innen
In den USA trat der Chef des Beraterstabes von Milei, Demian Reidel, vor einer Gruppe von Investor*innen auf. Reidel wollte die Investor*innen davon überzeugen, in KI in Argentinien zu investieren. Er lobte geographische und geopolitische Eigenschaften des Landes, bemängelte aber, dass das Land von Argentinier*innen bevölkert sei. So wie Reidel denken viele Macher*innen des argentinischen Establishments: Die Bevölkerungsmehrheit solle gefälligst der Entwicklung neuer Geschäftsfelder nicht im Wege stehen.
Wenige Tage nachdem die Klage gegen die Beteiligung von Javier Milei im Krypto-Skandal eingereicht wurde, gab der amtierende US-Außenminister Marco Rubio bekannt, dass Cristina Fernández de Kirchner, ihr Sohn und ihre Tochter sowie der frühere Minister de Vido nicht mehr in die USA einreisen dürften. Die ehemalige Präsidentin fragte sich, warum die USA nie die Einreise der verurteilten Massenmörder Videla und Massera verboten hätten.
Kurz vor Redaktionsschluss wird eine weitere Meldung publik, die die aktuelle Misere Argentiniens verdeutlicht. Eine Gedenkstätte in Patagonien zu Ehren des Schriftstellers und Historikers Osvaldo Bayer, der während der Militärdiktatur in Deutschland lebte, ist von der nationalen Straßenbaubehörde abgebaut worden. Bayers Wirken bleibt jedoch in seinen zahlreichen Büchern und Artikeln im Gedächtnis der Menschen in Argentinien und Deutschland.