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Spaziergang durch eine Gemäldegalerie

„Mirador“ erzählt die Lebenswege von Ubaldo Stallforth und Johann Moritz Rugendas
Laura Held

Die Autorin und Übersetzerin Marie Gaté hat im Februar 2025 ihren zweiten Roman „Mirador“ veröffentlicht. Er ist vieles zugleich: eine internationale Familienchronik (in großen Teilen die der Autorin, angereichert mit fiktionalen Elementen), die Entstehungsgeschichte eines Gemäldes, des „Mirador“ von Johann Moritz Rugendas (1833), sowie ein Spaziergang durch eine Gemäldegalerie, in der es eine Unmenge von Zeichnungen aus dem 19. und 20. Jahrhundert zu bestaunen gibt.

Das mag zunächst verwirrend klingen, ist es aber nicht, da die Autorin die Leserin wie bei einer Führung von Bild zu Bild begleitet. Sie erklärt die Hintergründe, das Motiv, erzählt dazu Anekdoten und hilft mit Daten und Fakten aus.

Worum geht es? Um zwei außergewöhnliche Lebenswege, zumindest um Ausschnitte davon. Da ist der erste Erzähl­strang, das Leben (bis zur Studentenzeit) von Ubaldo Stallforth, dem aktuellen Besitzer des Bildes von Rugendas. Mit vollem Namen heißt das Bild „Blick auf die Hazienda El Mirador und den Pico de Orizaba“. Es entstand in Mexiko, dem Lieblingsland des Reisemalers Rugendas, der große Teile seines Lebens in Mexiko und Südamerika verbrachte. Das Bild „Mirador“ ist in Gänze im Buch und in einem Ausschnitt auf dem Titel abgedruckt, sodass es immer wieder betrachtet werden kann.

Ubaldo wird in Deutschland Uwe genannt. Das ist kein Name, sondern ein Buchstabe, findet der unglückliche Junge (das deutsche „v“ wird auf spanisch „uwe“ ausgesprochen). Nach seiner frühen Kindheit in Paraguay und Argentinien hat es ihn ungewollt ins graue, noch weltkriegszerstörte Düsseldorf zu seinen Großeltern verschlagen. Kurze Szenen skizzieren den Alltag in der Arztpraxis der Eltern bei den strenggläubigen Mennoniten in Paraguay, den einsamen kleinen Jungen, der weder Deutsch noch Spanisch spricht und stundenlang vor dem „Mirador“-Bild im Arbeitszimmer seines Großvaters sitzt, ebenso die unbeschwerte Studentenzeit in Valencia, die Liebe zur Französin Marie, die er dort kennenlernt, ihre gemeinsame Rückkehr nach Deutschland 1981 und die dortigen Probleme. Jede Szene ist ein Bild.

Der zweite Strang – die Kapitel wechseln zwischen den Ebenen des Bildbesitzers und des Bildmalers – erzählt aus dem Leben des Malers Johann Moritz Rugendas. In Amerika wird er Mauricio genannt, was ihm viel besser gefällt. In rasch hingeworfenen, kraftvollen Strichen entstehen farbige Bilder seiner Lehrjahre in der Malerfamilie Rugendas in Augsburg, 1814 beim Kupferstechen in der dunklen, feuchten Stube, seine Träume von Freiheit, seine erste Reise als Zeichner 1820 nach Brasilien mit knapp 19 unter der Leitung des russischen Generalkonsuls von Brasilien, Graf Langsdorff, mit dem er sich nach kurzer Zeit wegen dessen rücksichtsloser Sklavenhaltung überwarf; seine zweite, ungleich längere Reise nach Mexiko 1831 (mit Empfehlungen seines Gönners Humboldt), auch hier erzählt in einzelnen, kurzen Episoden: vom Brechreiz auf dem Schiff bis zum geselligen Leben im gastfreundlichen Haus von Uwes Vorfahren Wilhelm Stallforth in Veracruz, seine gefährliche Reise über Jalapa bis zur Ankunft im „Paradies“ Mirador; später die Zeit in Mexiko-Stadt, seine kurze Inhaftierung während der politischen Wirren um den schillernden Präsidenten Antonio López de Santa Anna, die glückliche Zeit als Maler auf der Hacienda Mirador. Auch hier ist jede Szene ein Bild.

Es ist abenteuerlich, unterhaltsam und belehrend, dieses Buch. Während die politischen Umstände zwar nur am Rande, aber durchaus treffend geschildert werden und die Personen dank der lebendigen Zeichnung der Leserin ans Herz wachsen (gerade wegen der Zwischentöne und Dissonanzen), fehlt es bei den beiden „Lichtgestalten“ Wilhelm Stallforth („kultiviert und selbstbewusst und sein Spanisch, wie sein Blick, klar und bezaubernd“) und Carl Sartorius, dem „edlen Mann“, ein wenig an Distanz. Da war ja Winnetou menschlicher!

Eine Frage, die sich zu Beginn stellt, blieb bis zum Schluss: Wer arbeitete eigentlich auf der blühenden Zuckerrohr- und Kaffeeplantage Mirador von Sartorius, Karl Lavater und den Ururgroßeltern von Ubaldo Stallforth? Zwar wurde die Sklaverei in Mexiko formell 1829 abgeschafft, existierte aber in anderen Formen weiter. Wir erfahren von den Gelehrten aus aller Welt, die nach Mirador strömten und mit Sartorius „die reiche Natur der Umgebung“ durchstreiften, aber nichts über diese Menschen. Nur auf dem Bild sind, schwer auszumachen im tiefgrünen Dschungel, einige winzige Menschen um ein Feuer zu sehen, die nicht wie reisende Gelehrte und Großgrundbesitzer aussehen. Es geht um das Gemälde, seine Entstehung, den Maler und die Geschichte des Bildes. Das alles (und noch einiges mehr) wird bei diesem unterhaltsamen Spaziergang durch eine Gemäldegalerie in Erfahrung gebracht.