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Regenzeit in der Übergangszone

„Provisorium“ von Markus Lenz: Langzeitdokumentation über zwei FARC-Guerilleras nach dem Friedensabkommen in Kolumbien
Gaston Kirsche

Im Nebelwald in den nordkolumbianischen Bergen von Ituango, Departement Antioquia, ist es nass und schlammig während der Regenzeit. Die festen Hütten im neu gebauten Camp Santa Lucía in der Übergangszone versprechen im Vergleich zum Leben in den provisorischen Unterkünften der Guerilla, getarnt zwischen Bäumen, immer auf der Hut vor Armee und Paramilitärs, etwas Komfort. Am 17. Juni 2017 unterzeichneten Kommandeure der FARC und die Regierung Kolumbiens einen Friedensvertrag, der soziale Verbesserungen für die arme Landbevölkerung versprach sowie die Möglichkeit für die Kämpfer*innen, sich legal, mit vollen Bürgerrechten in die Gesellschaft zu reintegrieren. In der Übergangsphase während der Friedensverhandlungen setzt der Film ein. Aus der FARC, der ältesten und größten Guerilla Lateinamerikas, wird eine Partei. Von den Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia/Ejército del Pueblo (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens/Volksarmee) wandelt sich ein Großteil der militärischen Einheiten in die legale Partei Fuerza Alternativa Revolucionaria del Común (Alternative Revolutionäre Kraft des Miteinanders).

Über fünf Jahre lang begleitet die Langzeitbeobachtung die beiden jungen Guerilleras Vicky und Yulieth. Der Regisseur Markus Lenz aus Köln hat die beiden Frauen von 2017 bis 2022 immer wieder getroffen und sie mit der digitalen Kamera aufgenommen. Weil er alleine oder lediglich zu zweit mit einem Tonmann gefilmt hat, entstanden Aufnahmen von einer faszinierenden Nähe und – im Laufe der Zeit – zunehmender Vertrautheit.

Die FARC war 1966 aus kleinbäuerlichen Selbstverteidigungs­milizen entstanden, dies blieb bis zum Schluss die Basis. Vicky ist bei ihrem sehr armen Vater in einem kleinen Dorf aufgewachsen und mit 18 ihrer Mutter, ein Jahr vor Beginn der Filmaufnahmen, in die Guerilla gefolgt. Mutter und Tochter waren in der gleichen Einheit. Yulieth ist zu Beginn des Filmes 22, sie ist mit 13 von zu Hause abgehauen, weil ihre Mutter ihr gegenüber gewalttätig war. Die FARC nahm sie auf. Als sie nach einigen Jahren wieder nach Hause wollte, wurde ihr dies nicht erlaubt. Sie hatte viel über die Guerrilla gelernt, war ausgebildet. Es hätte für ihre Einheit gefährlich werden können, wenn Yulieth gegenüber der Armee ausgesagt hätte.

Überhaupt die militärische, hierarchische Struktur! Im ersten Teil des Filmes ist der Appell einer FARC-Einheit zu sehen, Befehle werden erteilt. Politische Lehren werden bei Versammlungen eher dogmatisch verkündet als diskutiert. Es ist beeindruckend, wie nahe Markus Lenz in seinen Aufnahmen dem Alltag in der Guerilla kommt. Viele combatientes blicken interessiert in die Kamera, reden bereitwillig und offen.

Den Chip auswechseln

Yulieth und Vicky machen im Übergangscamp eine staatlich finanzierte Ausbildung zur Personenschützerin; das erste Mal eine Anstellung, ein Gehalt. Die Ausbildung ist militärisch organisiert. Hoch diszipliniert lernen sie, sich selbst und die zu schützende Person zu verteidigen.

Immer wieder wird durch eine Frauenstimme, die wie aus dem Radio klingt, Hintergrundwissen eingestreut, vom Friedensabkommen im Juni 2017 bis zur Wahl im März 2018, bei der die FARC als Partei kandidiert, wurden 138 soziale Aktivist*innen umgebracht, darunter 34 ehemalige Guerrillerxs. Obwohl die irregulären Truppen der Paramilitärs Linke ermorden, hält die große Mehrheit der FARC am Übergang in die Legalität fest. Kurz ist im Film der Auftritt des Sprechers einer FARC-Abspaltung zu sehen, der erklärt, wieder in die Berge zu gehen und wieder bewaffnet zu kämpfen.

In einem der dichtesten Dialoge in „Provisorium“ fragt ein Genosse Yulieth, ob sie wirklich mit der Logik des bewaffneten Kampfes abgeschlossen hätte: Hast du noch den Chip im Kopf? Nein, erwidert Yulieth. Selbst wenn „unsere Kommandeure“ die Rückkehr zum bewaffneten Kampf befehlen würden, würde sie bei ihrem legalen Leben in der Stadt bleiben.

So angenehm zurückgenommen der Kommentar mit den Hintergrundinfos ist, so irritiert es etwas, dass die Frauenstimme wie aus dem Radio klingt. Nicht irritierend, aber etwas zu präsent sind die sphärischen Töne, die über viele Aufnahmen gelegt werden. Hier hätte das Ein-Mann-Filmteam auf seine Aufnahmen, die durch die Nähe zu fesseln vermögen, vertrauen können. Aber die große und wichtige Frage, wie ehemalige Guerillakämpfer*innen die eigene Demobilisierung und Eingliederung in die Gesellschaft erleben, bekommt durch „Provisorium“ auf jeden Fall Antworten.

Markus Lenz, „Provisorium“, Deutschland/Kolumbien 2024, span. OmU, 95 Minuten

Der Film startet am 1. Mai 2025 bundesweit in den Kinos, im April wird er in 14 Städten mit Sondervorführungen gezeigt: https://rotzfrech-cinema.com/provisorium/