Poetische Obsessionen
Marko Pogačar (1984 in Split geboren) ist ein kroatischer Dichter, Musiker sowie Direktor eines Lyrikfestivals. Sein Interesse gilt den Schnittstellen von Literatur, Film und Kulturgeschichte. Das Internationale Literaturfestival Berlin, an dem er 2020 teilnahm, bezeichnet ihn als „feste Instanz im kroatischen Literaturbetrieb“. Er hat 20 Bücher mit Gedichten, Essays und Prosa veröffentlicht und Anthologien jüngerer kroatischer Dichtung herausgegeben. Hinzu kommen seine Reiseberichte.
Einer dieser Berichte, „Latinoamericana oder 1000 spanische Wörter“, ist im Herbst letzten Jahres als „Road Novel“ im Wieser Verlag auf Deutsch erschienen. Es hat drei gleichgewichtige Teile. Teil 1, „Der nackte Bolívar“, spielt gleich in mehreren Ländern, in Venezuela, Nicaragua, Costa Rica, Kolumbien und Peru. Der zweite Teil, „Die Nelke vom Grab des Dichters“ (Bericht über einen ehemaligen Oberst der jugoslawischen Armee, der am Grab des „Dichter-Revolutionärs“ Che Guevara eine Nelke niederlegt), in Cuba, und der letzte Teil, „Curvas Peligrosas“ (Reisen im Bus durch das Hochland von Chiapas), in Mexiko. Der Bolívar Desnudo ist eine Statue im kolumbianischen Pereira, ein Denkmal mitten auf der gleichnamigen Plaza, „so glatt und schwarz wie ein Bluterguss, angespannt wie ein Glied“. Dort treffen sich die „heißen und wunderschönen Schwulen von Pereira“, die manchmal Opfer von Schlägerbanden werden. So auch Amadeo, „nach dem großen und schrecklichen Mozart benannt“ und „noch nicht zehn Jahre alt, als man begann, ihn mit maricón anzusprechen“. Dessen Lebens- und Leidensgeschichte skizziert Pogačar auf zweieinhalb Seiten, die ein veritables Cuento abgeben.
In Caracas, genauer Petare, „einem der größten Slums der Welt, in dem so viele Menschen leben wie in einem der kleineren europäischen Länder“, begegnet Pogačar der nach Joplin benannten jungen Backgroundsängerin Janis, die ihm von Juanito, einem furchtbar stinkenden Faultier erzählt, das ihr Vater gerettet hatte. Als man es Monate später, wieder genesen, im Dschungel aussetzte, „krümmte sich ein ganzer Schwarm Kinder aus Petare vor Weinen, als würden sie einen Sarg verabschieden“. Janis‘ Band Los Caimanes Voladores widmete Juanito einen gleichnamigen langsamen Song in Moll.
Im Club El Mejunje im cubanischen Santa Clara lernt er Kike kennen. Der erzählt ihm von einem Punkkonzert, das von der Polizei abgebrochen wurde. An dem Abend wurde bekannt gegeben, dass Fidel gestorben war. Sieben Tage nationaler Trauer wurden ausgerufen, „die kalt gewordene Asche zirkulierte wochenlang durch Cuba, genau wie damals die von Tito, bevor sie endgültig dort unten in Santiago zur Ruhe kam“, so Pogačar.
Am Busbahnhof der „toten Stadt“ Cancún, wo „die Busse losfahren, mit denen man von hier flieht, und vor dem der Ozean und sein Strandgut unbeschreiblich fremd wirken“, hält ihn Inés davon ab, einen Bus nach Colima zu besteigen, denn „dort heiraten Verwandte untereinander, und es heißt, dass den Menschen davon dort manchmal ein Schwanz wächst“. Daraufhin nimmt er den Bus nach Tulum, obwohl ihn der kleine Ort Comala in der Nähe von Colima gereizt hätte, weil dort Juan Rulfos „Pedro Páramo“ spielt.
Besessen von Sprache und Anspielungen
Der dünne Band ist über weite Strecken keine leichte Lektüre. Pogačar scheint besessen von Sprache und Versen, Sinn und Form. Er reiht Bilder, Traumfragmente, Popkultur, Alltagsbeobachtungen, nächtliche Kneipenerlebnisse und philosophische Betrachtungen aneinander. Immer wieder schweift man ab, googelt Personen und Begriffe, verliert sich in anderen interessanten Themen, liest manche Zeilen erneut, um Kontexte zu verstehen. Wer sich einlässt auf die poetische Sprache, die vielen literarischen Anspielungen, Bilder, Metaphern und sprachlichen Experimente, wird belohnt. Das Buch eröffnet eine südosteuropäische Perspektive auf Lateinamerika, lässt gegenseitige Einflüsse erahnen, streift die Bedeutung des Boxsports im Westbalkan oder in Cuba.
Wir lernen nebenher viele Dinge über jugoslawische Filmgeschichte, aber auch Interessantes über junge mexikanische Dichter*innen, queere Kulturzentren in Oaxaca oder Santa Clara, Nachtlokale in San José oder Cienfuegos. Das Buch ist mehr als bloße Road Novel, Reportage oder Reisebericht eines jung gebliebenen Dichters. Es ist seine Huldigung an einen literarischen, für viele Europäer*innen magischen Kontinent, an das Reisen um des Reisens willen, an die Lust auf Abenteuer und Erleben, an die Freiheit.