Kritische Verordnung
Wenn es eine tatsächliche Rohstoffwende geben soll, müssen die großen Veränderungen in den großen Verschmutzerländern passieren – also auch in der EU. Sie verbraucht etwa ein Viertel der weltweit genutzten Rohstoffe. Doch geopolitische Ängste und der Rechtsruck des europäischen Parlaments bremsen dringend nötige Umweltschutzmaßnahmen.
Es ging außergewöhnlich schnell. Im März 2023 präsentierte die EU-Kommission die europäische Verordnung zur „Gewährleistung einer sicheren und nachhaltigen Versorgung mit kritischen Rohstoffen“ (englisch: Critical Raw Materials Act – CRMA). Schon ein gutes Jahr später, am 23. Mai 2024, trat sie in Kraft. Verordnungen sind in der EU die Regulierungen mit der höchsten Bindungswirkung, ähnlich Gesetzen auf nationaler Ebene. Über Fraktions- und Landesgrenzen hinweg verbuchen Politiker*innen diese schnelle Einigung als Erfolg. Das zeigt, wie groß der – zumindest gefühlte – Druck auf der EU lastet, die Versorgungssicherheit der Industrie zu gewährleisten. Zuletzt wurde deutlich, wie verletzlich die ist: zunehmende geopolitische Konflikte mit Russland, China und den USA, neue Akteure auf dem Rohstoffweltmarkt wie zuletzt die arabischen Staaten, und schließlich Kriege, Pandemie und Unterbrechungen der Lieferketten. Anders gesagt: Das Wirtschaftsmodell, die dreckigen, gefährlichen und rechtsverletzenden ersten Stufen der industriellen Wertschöpfung auszulagern, ist für die EU an seine Grenzen gelangt.
Dabei weist der CRMA eine eklatante Lücke rund um Nachhaltigkeit und globale Gerechtigkeit auf: Er adressiert nicht den hohen und global ungerechten Verbrauch von Rohstoffen der Europäischen Union. Denn die EU, in der weniger als sechs Prozent der globalen Bevölkerung leben, nutzt 25 bis 30 Prozent der globalen Rohstoffe. Das hat der Zusammenschluss Friends of the Earth auf Grundlage von Daten aus dem EU Raw Materials Scoreboard 2020 berechnet. Als industrie- und bevölkerungsreichste Nation spielt Deutschland eine Schlüsselrolle. Im Jahr 2022 importierte die deutsche Industrie laut Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe knapp 80 Millionen Tonnen an Metallen. Der Großteil waren Eisen und Stahl, Bauxit und Aluminium sowie Kupfer und Nickel. In Deutschland ist der Mobilitätssektor wiederum mit knapp einem Drittel der größte Verbraucher dieser Rohstoffe, gefolgt vom Wohnsektor mit einem Viertel. Das hat das Institut für Energie- und Umweltforschung (ifeu-Institut) in einer Studie für PowerShift errechnet. Bei der Gewinnung dieser Rohstoffe werden häufig Arbeits- und Menschenrechte verletzt. Nicht selten geht das mit Land- und Wasserkonflikten einher. Zudem tragen Bergbau und Weiterverarbeitung von Erzen zu mehr als zehn Prozent der globalen CO2-Emissionen bei.
Wenn gar nicht erst so viele Rohstoffe verbraucht würden, könnten wir diese sozialen und ökologischen Auswirkungen eindämmen und gleichzeitig die Abhängigkeit von anderen Ländern reduzieren. Doch statt konkreter Reduktionsziele empfiehlt der CRMA nur die „Mäßigung des zu erwartenden ansteigenden Verbrauchs von kritischen Rohstoffen in der Union“. Darüber hinaus gibt es keine Maßnahmen oder Instrumente, den ökologisch katastrophalen Rohstoffverbrauch der EU zu adressieren, außer einer größeren Nutzung von recycelten Rohstoffen.
Mit strategischen Projekten will die EU unabhängig werden
Im Gegenteil, seit letztem Jahr stehen Wettbewerbsfähigkeit und Versorgungssicherheit der europäischen Industrie stärker im Fokus der europäischen Politik. Ausschlaggebend waren die EU-Parlamentswahlen im Juni und die Veröffentlichung des Draghi-Reports im September 2024. Der Report hat eine neue „Wettbewerbsstrategie für Europa“ zum Ziel und wurde vom ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten und Präsident der europäischen Zentralbank verantwortet. Gerade Bestimmungen zum Schutz von Mensch und Umwelt, wie das europäische Lieferkettengesetz (CSDDD) oder die Klimaziele, drohen nun bis zur Wirkungslosigkeit gestutzt zu werden. In diesem Kontext löst auch der Clean Industrial Deal den Green Deal ab und beruft sich explizit positiv auf die Ziele des CRMA.
Um unabhängiger von Importen aus einzelnen Staaten zu werden, hat die EU das Instrument der strategischen Projekte entwickelt. Mit ihnen will sie sowohl Abbau, Weiterverarbeitung als auch Recycling unterstützen. Das Ziel ist, bis zum Jahr 2030 zehn Prozent der genutzten Rohstoffe in der EU abzubauen, 25 Prozent aus Recycling zu gewinnen und 40 Prozent in Europa zu schmelzen oder zu raffinieren. Dazu sollen ausgewählte strategische Projekte Prioritätsstatus genießen. Das beinhaltet vor allem politische Unterstützung und schnellere Genehmigungsverfahren. Zwar bleibt das europäische Umweltrecht davon unangetastet, aber Beteiligungsverfahren für die lokal vom Bergbau betroffenen Gemeinschaften könnten sich weiter verschlechtern, da kürzere Einspruchsfristen drohen. Das passt zu der Ankündigung der CDU, Umweltverbänden das Recht zu nehmen, für die Natur vor Gericht zu ziehen.
Verschwendung können wir uns nicht mehr leisten
Aber es kann nicht nur um die Versorgungssicherheit der europäischen Industrie gehen. Wir leben in Zeiten der multiplen Krisen: Klimakrise, Verlust von Artenvielfalt, Schuldenkrise im Globalen Süden und geopolitische Konflikte. Deswegen müssen wir über den Ressourcenschutz und somit die Reduktion unseres Rohstoffkonsums im Globalen Norden sprechen. Zu dem Ergebnis kommt auch der Global Resources Outlook des UN-Umweltprogramms: „Die Verringerung der Ressourcenintensität von Mobilitäts-, Wohn-, Nahrungsmittel- und Energiesystemen ist eine wesentliche Voraussetzung für die Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung und letztlich für einen gerechten und lebenswerten Planeten für alle.“
Reduktion bedeutet dabei nicht den kompletten Ausstieg aus dem Bergbau. Denn auch in Zukunft werden wir Metalle nutzen, zum Beispiel für den Ausbau der Erneuerbaren, Lebensmittelproduktion, Wohnungen und Infrastruktur oder für (eine andere) Mobilität und Kommunikation. Gerade wegen der zukünftigen Bedarfe können wir uns aber die heutige Verschwendung nicht weiter leisten. Viele metallische Rohstoffe, die unter der Zerstörung der Umwelt und menschlicher Lebensgrundlagen gewonnen werden, nutzen wir nur wenige Jahre. Dann sind sie für die Menschheit verloren. Sie sind so verarbeitet, dass sie nicht zurückgewonnen werden können – obwohl Metalle theoretisch lange genutzt werden können. Das aktuelle Produktdesign verhindert Langlebigkeit, Reparierbarkeit oder Kreislaufführung der Rohstoffe. Beispiele für diesen Verschwendungswahnsinn sind Einweg-Elektronikzigaretten oder Einweg-Powerbanks zum Aufladen von Smartphones. Und es ist auch nicht zukunftsfähig, immer schwerer werdende Autos zu fahren, die im Durchschnitt in Deutschland mittlerweile 1,7 Tonnen wiegen und zu über 60 Prozent Fahrtwege von unter zehn Kilometern zurücklegen, um durchschnittlich eine Person ans Ziel zu bringen. Durch einen anderen Umgang mit Rohstoffen könnten wir Metalle längerfristig nutzen und würden weniger verbrauchen. Das wäre eine wirkliche Rohstoffwende!
Im Auftrag von PowerShift hat das ifeu-Institut verschiedene Szenarien zur Reduktion von Massenmetallen berechnet. Die Ergebnisse sind erstaunlich. Allein durch 30 Prozent weniger Neuzulassungen von Pkw und mehr Kleinwagen statt großer SUV ließen sich in den nächsten 25 Jahren 37 Millionen Tonnen an Eisen, Aluminium, Kupfer und Nickel einsparen. Der Trend, dass Autos in den letzten zwei Jahrzehnten um mehr als 20 Prozent schwerer geworden sind, müsste dafür umgedreht werden.
Große Effekte hätte es auch, wenn Elektronik doppelt so lange genutzt würde wie bisher. Allein bei Smartphones könnten so mehr als 16 000 Tonnen der Massenmetalle gespart werden. Doch leider bewegen wir uns mit dem CRMA in die falsche Richtung. Hoffnungsvoll stimmen einzig und allein die Kreislaufwirtschaftsziele. Bis 2030 soll ein Viertel der in Europa genutzten Metalle aus Kreisläufen gewonnen werden. Für einige Rohstoffe, darunter Lithium und Seltene Erden, sind diese Ziele sehr ambitioniert; andere Rohstoffe wie Kupfer, Aluminium oder Wolfram weisen allerdings schon heute höhere Werte auf. Wichtig wird hier also, die Ziele für einige Rohstoffe deutlich anzuheben.
Sechs Bewerbungen aus Lateinamerika
Um den CRMA doch noch möglichst umwelt- und menschenschonend umzusetzen, sollten die EU-Mitgliedsstaaten ihre politische Gestaltungskraft vor allem im Bereich der strategischen Projekte nutzen. Strategische Projekte sind das Herzstück des CRMA und ursprünglich gedacht, den Bergbau zu fördern. Dabei können sich auch die Gewinnung von Rohstoffen aus Abraumhalden und Kreislaufwirtschaftsprojekte als strategische Projekte anerkennen lassen. Hier liegen Möglichkeiten, Wiedergewinnung über Raubbau zu stellen. Zumal die Mitgliedsstaaten am Ende das letzte Wort haben, welche Arten von Projekten sie in ihren Territorien fördern wollen. Sollten sich nicht ausreichend Projekte zur Förderung der Kreislaufwirtschaft bewerben, läuft die Förderung von strategischen Projekten Gefahr, die negativen Auswirkungen von Bergbau auf Mensch und Natur zu verstärken.
Das könnte auch Signalwirkung nach Lateinamerika entfachen. Zum einen gibt es Rohstoffpartnerschaften der EU mit Chile und Argentinien, die für bessere Bedingungen beim Abbau und Aufbau von lokaler Wertschöpfung (auch im Bereich der Kreislaufführung) genutzt werden können.
Am 25. März wurde zunächst die Liste der strategischen Projekte in der EU veröffentlicht. Von den 47 Projekten sind 23 im Bergbau. Unter den insgesamt 170 Bewerbern waren auch sechs Bewerbungen aus Lateinamerika, darunter ein Recyclingprojekt aus Bolivien, ein Bergbau- und ein Weiterverarbeitungsprojekt aus Brasilien, zwei Bergbauprojekte aus Chile und ein Bergbauprojekt in Kuba. Die EU kündigte an, über diese Projekte zu einem späteren Zeitpunkt zu entscheiden.
Am Ende wird es vor allem darum gehen, dass die großen Verbraucher der metallischen Rohstoffe eine Rohstoffwende einleiten. Das bedeutet: Verbrauch reduzieren, rohstoffleichte Alternativen – zum Beispiel in der Mobilität – forcieren, Metalle länger nutzen und sie wiederverwenden. Neben der Verbesserung der Abbaubedingungen sind dies Hebel, damit eine Rohstoffwende gelingen kann.
Michael Reckordt ist Geograph und beim Verein PowerShift für deutsche und europäische Rohstoffpolitik verantwortlich.