Zerrissen zwischen Schatten und Licht
Seine erste Liebe war der Rap. Dann kamen die Gedichte. Und jetzt sein erster Roman. Zurzeit lebt der 30-jährige Jean D’Amérique außerhalb Haitis. Ende Januar hat er auf einer Rundreise sein Debüt „Zerrissene Sonne“ vorgestellt. Britt Weyde hat ihn in Frankfurt zum Gespräch getroffen.
Was war deine Inspiration für „Zerrissene Sonne“?
Schreiben ist für mich, wenn das Leben schwitzt. Der Körper reagiert auf die sozialen Wunden, er blutet durch die Worte. Die Viertel und die Menschenleben, über die ich schreibe, sind das Ambiente, wo ich meine Jugend verbracht habe. Es ist von Gewalt und sozialer Ungerechtigkeit geprägt. Dort hat der Staat die Bevölkerung im Stich gelassen. Aber anders als oft dargestellt, sind diese Gegenden von einer starken Menschlichkeit geprägt: Hier haben die Menschen Lebenslust und Lebenswut. Allerdings halten Alltagsgewalt und Staatsgewalt die Leute vom Leben ab. Davon ist mein Buch inspiriert. Ich habe die Themen nicht aus den Wolken geholt.
Inwiefern spiegelt sich darin deine eigene Jugend?
Geboren wurde ich in dem kleinen ländlichen Ort Jackson, wo ich die ersten Jahre meines Lebens verbrachte. Meine Nachbarn waren Vögel, Hügel, Bäume, Flüsse. Aber die soziale Gewalt führte dazu, dass ich das Dorf verlassen musste: Es gab dort keine weiterführende Schule, ohne kilometerweit laufen zu müssen. So haben mich meine Eltern mit elf Jahren nach Port-au-Prince geschickt. Ich wohnte bei Verwandten, meine Mutter und Geschwister besuchten mich aber oft. Ich wohnte in verschiedenen, ärmeren Stadtteilen, wo die Menschen sehr gedrängt leben. Wir sind häufig umgezogen, mal aus Geldmangel oder wegen Sicherheitsproblemen. Mit 17 warfen sie mich raus und ich driftete etwas ab.
Als Jugendlicher hast du mit Rappen angefangen.
Ich begann schon mit elf zu rappen. Als ich 2006 in Port-au-Prince ankam, war Rap total angesagt. In der Schule schrieben wir Lyrics und machten einen auf Rapper. Einige Lehrer sahen meine Gedichte und brachten mich dazu, die Welt der Bücher zu entdecken. Raptexte und Gedichte sind aus demselben Stoff gemacht, es sind unterschiedliche Formen der Poesie. So begann ich, meine Texte auf Bühnen vorzutragen. Und 2015 veröffentlichte ich mein erstes Buch. Vor Kurzem habe ich den musikalischen Faden wieder aufgenommen, mit neuen Tracks, Videos und auch Konzerten. Der Rap ist meine erste Liebe gewesen. Zwei haitianische Rap-Gruppen haben mich geprägt: Barikad Crew, Rockfam, außerdem der Solokünstler G Bobby. Eine andere große Stimme der haitianischen Musik, die ich sehr mag, ist Toto Bissainthe.
Tête fêlée, deine Ich-Erzählerin in „Zerrissene Sonne“, erleidet einen Schlag nach dem anderen. Dennoch gibt sie ihr Ziel nicht auf, ihrem geliebten „Mondmädchen“ näherzukommen. Verkörpert sie die Lust zu leben, trotz allem?
Sie ist ein Symbol für den Kampf ums Leben, für die Hoffnung, für die Suche nach Licht. Sie wird in eine gewalttätige Welt hineingeboren und tut alles, um zu überleben. Jeden Tag stellt ihr das Leben Fragen über das Leben und den Tod. Sie ist eine Metapher für dieses Viertel, diese Stadt, das Land. Sie ist die Stimme des Kollektivs und verkörpert die Stärke dieser Leute. Die Menschen und das Leben in Haiti haben mir etwas mitgegeben – den Kampfgeist für die Freiheit. Deshalb sage ich: Es gibt Armut und Unsicherheit in Haiti, aber kein Elend. Im Elend schwingt die totale Vernichtung der Seele mit, da fehlt jeglicher Lebensimpuls. Aber dieses Volk will leben und kämpft weiter.
In deinem Buch gibt es explizite Sexszenen. Fleur d’Orange, Tête fêlées Mutter, arbeitet als Prostituierte, einige Freier sind geradezu besessen von ihr. Sex ist ein naheliegender, käuflicher Aspekt des Lebens. Was hast du dir beim Schreiben dieser Szenen gedacht?
Für mich ist eher die Liebe ein Symbol für das Leben. Tête fêlée liebt etwas, das für sie fast unerreichbar ist. Aber sie hegt und pflegt sie, die Liebe wird zu einem Traum, der sie am Leben hält. Sex ist ebenfalls ein Symbol des Lebens, aber er wird nicht immer gut ausgelebt. Deshalb gibt es gewalttätige Szenen im Buch. Dort wird eine bestimmte Männlichkeit inszeniert, die arrogant und toxisch ist. Damit wollte ich zeigen, wie die Erwachsenen etwas, das normalerweise schön ist und Leben bringt, durch Gewalt verzerren. Fleur d’Orange erlebt ziemlich harte Dinge. Aber innerlich ist sie sehr lebendig. In dieser Figur spiegelt sich die ganze Gesellschaft wider, etwa die Politiker, die zu ihr kommen, um mit ihr Sex zu haben.
Die Szene mit dem Herrn in der Bar ist für mich sehr wichtig. Sie ist brutal. Damit wollte ich den Verfall von Männlichkeit inszenieren. Durch sein sexuelles Verlangen für diese Frau, die er nicht mehr haben kann, driftet er in ein Delirium ab. Er fängt an zu onanieren, mitten in der Menschenmenge, es kommt zu einer kollektiven orgiastischen Zeremonie. Sein Wahn führt dazu, dass er sich selbst verletzt. Das Ende ist hässlich und gewalttätig.
In „Zerrissene Sonne“ wird das haitianische Schulwesen kritisiert. Tête fêlée beschwert sich darüber, dass der Unterricht nichts bringt. Wie waren deine eigenen Schulerfahrungen?
Schulen, die als die besten in Haiti gelten, sind sehr teuer und nicht für jeden zugänglich. Sie funktionieren nach einer neokolonialen Logik. Ich verbrachte einen Großteil meiner Schulzeit an öffentlichen Schulen, wo die Bedingungen sehr prekär sind. Aber selbst da sind die Plätze begrenzt. Deswegen müssen viele Leute ihre Kinder auf private Schulen schicken, wo es alle möglichen Preisklassen gibt. Bei den günstigsten lässt das Unterrichtsniveau sehr zu wünschen übrig. Aber: Angesichts der Tatsache, dass die Schulen nicht leicht zugänglich sind, nehmen die Leute große Anstrengungen auf sich, um ihren Kindern Bildung zu ermöglichen. Allerdings legen die Jugendlichen heute nicht mehr so viel Wert auf Bildung und Ausbildung. Sie sehen, dass sie ihre Schulausbildung machen und sich danach nicht verwirklichen können. Eine Ausbildung oder ein Studium sind keine Garantie dafür, dass du einen Job findest. Das ist total entmutigend. Diesen Widerspruch kritisiert Tête fêlée mit ihren abschätzigen Kommentaren: Die Schule bereitet dich nicht auf das Leben vor.
Sie spricht von der Schule und der Schule des Lebens. Wobei die Schule des Lebens, also die kleinen Jobs, die sie für Papa erledigen muss, ihr letztlich die Schulgebühren finanziert.
Genau! Allerdings schickt Papa sie auf die teure Privatschule auch aus einem ganz praktischen Grund: Tête fêlée soll Personen ausfindig machen, die er ausrauben kann. Die Tatsache, dass Papa von dem illegalen Geld die Schulgebühren für seine Stieftochter bezahlt, ist ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig den Leuten der Schulbesuch ihrer Kinder ist.
Ich wollte eine schlichte, binäre Sicht der Dinge vermeiden, à la: Das ist gut, das ist schlecht, da die gute Schule, dort die bösen Gangsterbanden. Ich nutze Nuancen, schließlich sind alle Charaktere zwischen ihren Schatten- und Lichtseiten hin- und hergerissen. Sogar Papa, der völlig in die Bandenaktivitäten verwickelt ist. Er hat ein Bild von sich selbst: der Mensch, der er gerne wäre, seine helle Seite, die er manchmal einfangen möchte. Ich wollte diese Figuren nicht verurteilen. Trotz aller Gewalt sind es menschliche Wesen. Es kann jedem passieren, dass er der Gewalt verfällt, in eine Spirale gerät und nicht mehr rauskommt. Das ist so schwierig zu entschärfen. Ich bediene mich nicht umsonst der Stimme einer Zwölfjährigen. Sie landet in dieser Welt, die bereits von Gewalt regiert wird. Wie soll ein Kind darin aufwachsen und existieren? Ich zeige mehrere Schichten der Gewalt: in den Beziehungen zwischen den Menschen, in der Familie, der Nachbarschaft, der Stadt, in den Aktivitäten der organisierten Kriminalität; außerdem ist da die politische Gewalt, die soziale, staatliche, koloniale Gewalt. All diese Schichten erbt ein Kind.
Tête fêlée kommt aus derselben Gegend wie ich. Wo ich meine Jugend verbracht habe, war es leichter, Gangster zu werden als Schriftsteller. Jugendfreunde von mir sind diesen Weg gegangen. Es gibt so viele Entbehrungen und so wenig Zugang zu inspirierenden oder kulturellen Dingen. Wenn du eine Leidenschaft verfolgen willst, musst du dich zusätzlich anstrengen, ebenso, wenn du weiter zur Schule gehen willst. Leider entscheiden sich viele für den leichteren Weg. Mein Werdegang ist eine Ausnahme. Deswegen fällt es mir auch schwer, mich über das zu freuen, was ich erreicht habe, meinen individuellen Erfolg zu feiern. Er hat das Leben der Gemeinschaft nicht verändert. Deshalb werde ich mit den Möglichkeiten, die mir mein Status als Schriftsteller bietet, immer das Wort ergreifen oder für meine Gemeinschaft aktiv werden.
Du lebst seit sechs Jahren in Frankreich. Was magst du hier, was gar nicht?
Das Verhältnis zum Leben ist ganz anders. Haiti ist zwar sehr arm, aber wir haben viel Solidarität. Der Staat überlässt die Menschen sich selbst. Aber das vereint die Leute. Als ich das erste Mal nach Paris kam, war ich schockiert, wie viele Menschen auf der Straße leben und betteln, in einem reichen Land! In Haiti gibt es nicht so viele Menschen, die auf der Straße leben. Das heißt nicht, dass die Leute nicht arm sind. Aber sie organisieren sich auf eine andere Art und Weise, es gibt mehr Raum für das Informelle, man kann einen kleinen Stand auf der Straße aufmachen und sich so sein Überleben sichern. Port-au-Prince ist Chaos, aber ich finde, es ist ein fröhliches Chaos.
Abgesehen davon weiß ich im Moment nicht mehr so genau, wo ich wohne. Klar, ich lebe in Frankreich, aber gleichzeitig bin ich von Haiti total eingenommen. Diese zwei Welten habe ich die ganze Zeit in mir, beide politische Situationen betreffen mich. In Frankreich gibt es viele Dinge, die ich mag. Ich suche nicht nach Haiti in Frankreich. Aber ich vermisse die Landschaften von Haiti. Manchmal möchte ich wirklich dort sein, um wieder ein Bad im Leben zu nehmen. Ich war schon einige Jahre nicht mehr dort, im Moment geht es auch nicht. An diesen Ort reise ich oft in meinem Kopf, um daraus zu schöpfen. Durch das Schreiben erhalte ich ihn am Leben. Aber durch die physische Entfernung wird er immer mehr zu einer Fiktion für mich. Port-au-Prince hat sich in den letzten Jahren so stark verändert. Dabei ist das meine Stadt! Dort bin ich von ganzem Herzen, mit meinem ganzen Fleisch und Blut zu Hause. Und gerade wird sie zerstört. Es ist, als ob jemand, der dir sehr nahesteht und den du seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hast, stirbt. Und du konntest ihn vor seinem Tod nicht mehr sehen.
Wie beurteilst du die aktuelle Situation?
Ich weigere mich, der Verzweiflung nachzugeben und zu sagen, dass sich das nicht ändern wird. Ich hoffe immer noch, weil ich an die Stärke dieser Menschen glaube, die das Leben wollen. Aber ich bin mir bewusst, dass der Horizont verschwommen ist. Ich weiß nicht genau, woher die Lösung kommen wird. Ich hoffe weiter, dass sich etwas ändert.
Was müsste sich verändern, damit du nach Haiti zurückkehren kannst?
Da ist zum einen die unsichere Lage in Port-au-Prince. Klar, auf dem Land ist es ruhiger. Aber wenn ich nach Haiti zurückkehre und nicht nach Port-au-Prince gehe, wenigstens für ein, zwei Tage, wäre ich frustriert. Mein Herz ist dort. Aber ich kann auch aus politischen Gründen nicht dahin reisen. Ich habe gegen das Regime Stellung bezogen. Dort verfolgen sie genau, was in der Presse gesagt wird. Ich habe Reaktionen bekommen, von der Regierung oder Kommentare auf Social Media. Deswegen bin ich etwas vorsichtig geworden. Das heißt nicht, dass ich nie wieder nach Haiti gehen werde – den Gedanken an eine Rückkehr in mein eigenes Land kann ich nicht aufgeben. Freunde von mir haben mir abgeraten zu kommen. Es gibt ja auch noch das Festival, das ich ins Leben gerufen habe und gerne weiterführen würde, das Literaturfestival Transe Poétique. Die letzte Ausgabe fand 2022 statt. Ich koordinierte von hier aus ein paar Dinge. Wegen der politischen Krise im Land hatten wir aber keine Autor*innen von außerhalb eingeladen.
Was sollte Europa tun beziehungsweise unterlassen, um die Situation in Haiti zu verbessern?
Europa sollte seine Komplizenschaft beenden und die Regierungen, die das Volk zerquetschen, nicht mehr unterstützen. Die Länder, die sich in die Politik Haitis einmischen, haben bestimmte Interessen: wirtschaftliche, geopolitische, in manchen Fällen sogar historische Interessen, Frankreich zum Beispiel.
YouTube Kanal von Jean d’Amérique: https://www.youtube.com/@jeandamerique