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Würde?

Ein Sammelband dokumentiert die Aufarbeitung der „Colonia Dignidad“-Verbrechen
Valerie Systermans

Hinter der idyllischen Fassade des chilenischen Freizeitzentrums „Villa Baviera“ verbirgt sich ein Ort des jahrzehntelangen sexuellen und psychologischen Missbrauchs: das Folterzentrum Colonia Dignidad. Seit zehn Jahren arbeiten Opfer und Täter*innen die Geschichte auf. Der 2024 erschienene Sammelband „Colonia Dignidad – Auseinandersetzung um eine Gedenkstätte“ dokumentiert erstmalig diesen Dialogprozess.

Hunderte deutsche und chilenische Kinder, Jugendliche und Erwachsene litten in der ehemaligen Colonia Dignidad unter einem System aus Überwachung, Unterdrückung und Angst. Errichtet vom deutschen Sektenführer Paul Schäfer Mitte der 1950er-Jahre, diente das Gelände während der chilenischen Militärdiktatur (1973-1990) als geheimes Folterzentrum.

Expert*innen aus Menschenrechts- und Erinnerungsarbeit entwickelten ab 2014 Workshops und Seminare mit ehemaligen politischen Gefangenen und Angehörigen von Verschwundenen. Im Laufe der Jahre weitete sich der Kreis der Teilnehmenden auf ehemalige Bewohner*innen der Colonia Dignidad, chilenische Betroffene von sexualisierter Gewalt sowie chilenische und deutsche Regierungsvertreter*innen aus. Erstmals entstand ein Raum, in dem sich die unterschiedlichen Opfergruppen über ihre Leidenserfahrungen und Lebensgeschichten austauschen konnten.

Die vier Herausgeber*innen beleuchten die Ereignisse der Aufarbeitungsprozesse aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven. Zwischen den Kapiteln kommen Zeitzeug*innen, Betroffene, Journalist*innen und Psycholog*innen in persönlichen Berichten zu Wort. Es wird deutlich, wie schwierig es ist, klare Grenzen zwischen Opfern und Täter*innen zu ziehen. Zahlreiche Bewohner*innen der Colonia Dignidad wurden Opfer von sexualisierter Gewalt und trugen gleichzeitig zur Aufrechterhaltung eines Systems aus Bespitzelung, Bestrafung und Unterwerfung bei. Die Schilderungen schaffen Nähe und vermitteln die Komplexität der Ereignisse, ohne dabei in vereinfachende Narrative zu verfallen.

Heute dient das Gelände der ehemaligen Colonia Dignidad als Erholungs- und Tourismuszentrum. Die bayerischen Folklorefeste in der „Villa Baviera“ empfinden die Betroffenen als bittere Provokation. Für sie ist die aktuelle Nutzung eine Verharmlosung der grausamen Geschichte. Sie fordern, dass das Gelände in eine Gedenkstätte für die Opfer der Verbrechen umgewandelt wird. Zudem kritisieren die Opfergruppen die mangelnde staatliche Verantwortung. Zwar werden die Dialogseminare seit 2014 vom deutschen Auswärtigen Amt finanziert, hochrangige Politiker*innen besuchten die Villa Baviera und der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier hielt 2016 eine vielbeachtete Rede zur „wegschauenden deutschen Diplomatie“. Für einige Betroffene bleibt jedoch unklar, ob diese Auftritte ernst gemeinte Anteilnahme oder symbolische Gesten waren. Große Hoffnung liegt daher in der Ankündigung des chilenischen Präsidenten Gabriel Boric im Jahr 2024, zentrale Gebäude auf dem Gelände zu enteignen und dort eine Gedenkstätte zu errichten. Ob und wann dieses Vorhaben umgesetzt wird, bleibt jedoch offen.

Trotz der inhaltlichen Tiefe wirkt die Gestaltung der Publikation leider überladen. Die Schriftsetzung reicht teils bis an den Seitenrand, persönliche Berichte sind blau hinterlegt, der Bezug zwischen Fotos und Text erschließt sich nicht unmittelbar. Der Gesamteindruck bleibt dadurch fragmentiert und unfertig. Außerdem spricht die Publikation eher eine Fachleserschaft an. Für eine breite Öffentlichkeit oder als Einstiegsliteratur ist sie weniger geeignet. Dabei wäre eine breitere Wahrnehmung entscheidend, denn „wenn solche Verbrechen nicht sichtbar gemacht werden, besteht die Gefahr, dass sie sich früher oder später irgendwo auf der Welt wiederholen“, sagt Salo Luna, der als Kind in der Colonia lebte (S. 167).

Dennoch ist der inhaltliche Wert der Publikation nicht zu unterschätzen. Sie dokumentiert eindrucksvoll den zehnjährigen Dialogprozess und die Entwicklung der unterschiedlichen Opfergruppen. Es wird klar, wie dringend es ist, die Erkenntnisse aus diesen Gesprächen in konkrete Forderungen nach Gerechtigkeit, Wahrheit und Wiedergutmachung zu überführen. Die Zeitzeug*innenberichte illustrieren die Tiefe der Wunden, die bis heute nicht verheilt sind. Der Sammelband liefert einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungskultur und zur Aufarbeitung eines dunklen Kapitels der chilenisch-deutschen Geschichte.