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Surreal, grausam, magisch

„Eine Violine für Adrien“ von Gary Victor ist ein faszinierendes Porträt der Duvalier-Diktatur
Klaus Jetz

Haitianische Autor*innen wollen von einer Einordnung ihrer Werke in Kategorien wie Realismus, Naturalismus oder magischer Realismus meist nichts wissen. Sie schreiben, was sie erleben, greifen Vorstellungen, Mythen oder Legenden ihres Landes auf und sorgen bei europäischen Leser*innen für Überraschung, Ablehnung oder Bewunderung, während Haitianer*innen in den Parallelwelten ihre Wirklichkeit wiedererkennen. Eine Einordnung ihrer Bücher in Gattungen wie historischer Roman, Kriminalroman, sozialkritischer Roman lehnen sie meist ab, sie schreiben, was sie beschäftigt. Das sagt auch der in Paris lebende haitianische Rapper und Autor Jean D’Amérique, der im Januar auf einer Lesereise in Deutschland seinen Roman „Zerrissene Sonne“ vorgestellt hat (siehe Interview und Rezension ab S. 36). Auch „Eine Violine für Adrien“ ist kein typischer Krimi, weder historischer Roman, fantastischer oder sozialkritischer Roman, noch Diktatorenroman oder Politthriller, obwohl er Elemente all dieser Gattungen aufweist. Auch das macht den Reiz des Buches aus.

Der 14-jährige Adrien Chanson träumt davon, ein berühmter Geigenspieler zu werden, in einem Land, in dem dieser Traum aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Realitäten kaum Wirklichkeit werden kann. „Unser Land ist ein sinkendes Schiff. Es wird lange sinken, bevor eine Hand … es wieder flottmachen kann. Und während es sinkt, haben die Frauen und Männer hier nur die allertrivialsten Dinge im Kopf. Du tust mir leid. Du bist verloren in einer Welt, die nicht deine ist“, so Monsieur Nino zu Adrien. Der aber weiß, dass er über Talent und herausragende musikalische Fähigkeiten verfügt. Die hat er in einem Kurs bei dem berühmten Professor und Geigenvirtuosen Monsieur Benjamin, der im Ausland Triumphe feiert, unter Beweis gestellt. Selbst Adriens Vater macht sich darüber lustig, dass sein Sohn dieses Instrument so sehr liebt, in einem Land, in dem es für Künstler keinen Platz gebe. Die seien „größtenteils mittellos, verkommen, Alkoholiker, drogensüchtig oder, ihm zufolge noch schlimmer, masis (schwul)“.

Adriens eigentliches Problem beginnt, als Meister Benjamin seinen Schüler*innen eröffnet, dass er im nächsten Kurs keine Violinen mehr zur Verfügung stellen könne, die Eltern müssten einspringen. Er habe an alle Türen geklopft, aber wer kümmere sich „in diesem Land von Zurückgebliebenen um Kultur, erst recht um klassische Musik“? Seine Eltern sind zu arm, um ihm eine Geige schenken zu können, aber Adrien hält an seinem Traum fest und versucht mit aller Gewalt, Geld für das teure Musikinstrument aufzutreiben. Er widmet sich dem Glücksspiel, kellnert im Restaurant von Monsieur Nino, wird zum Spitzel, gerät in gefährliche Intrigen und schlittert haarscharf an den Vergeltungsmaßnahmen der Regimebüttel vorbei.

Der Roman spielt in Port-au-Prince im Jahre 1971, gegen Ende der Diktatur von François Duvalier, „Papa Doc“, als sein Sohn Jean-Claude Duvalier, „Baby Doc“, nachrückt. Adrien gerät zwischen die Fronten: auf der einen Seite die Machenschaften der Staatssicherheit und der Todesschwadron Tontons Macoutes, auf der anderen Seite die Opposition, der auch sein Vater angehört. Die Gegner*innen der skrupellosen Familiendynastie wittern zwar ein Machtvakuum, als der todkranke „Papa Doc“ schließlich stirbt und die Macht auf „Baby Doc“ übergehen soll. Sie sind aber auch verunsichert, verharren in ihrem Aberglauben und fürchten die übernatürliche Macht und Rachsucht Duvaliers. Adrien lauscht einem Gespräch seiner Eltern: „Du bist verrückt, dass du so redest. Wenn das eine Falle ist? Er könnte so tun, als wäre er tot, um die einzusammeln, die sich freuen, die glauben, der Weg wäre frei und sie könnten jetzt Komplotte um seine Nachfolge schmieden. Halt den Mund, Charles. Sag nichts. Schlag dir sogar den Gedanken an sein Ableben aus dem Kopf.“

Grotesker Leichenzug

Beeindruckend ist die Szene vom Begräbniszug des Diktators: Die Gesichter drücken größtmöglichen Schmerz aus, Tränen sind obligatorisch, viele geben sich eingeschüchtert, zeigen größte Verzweiflung, manche Hysterie. „Der Tod des Präsidenten hatte die Bevölkerung getroffen wie ein Keulenschlag. Niemandem war je in den Sinn gekommen, das Staatsoberhaupt könnte sterben. Man hielt es fast schon für unsterblich auf Beschluss der Götter und der Ahnen.“ Andere vermuten noch immer „eine meisterhafte List des Präsidenten, um die Spreu vom Weizen zu trennen“. Hier setzen die eingangs genannten surrealen Parallelwelten ein. In Monsieur Ninos Restaurant tauchen urplötzlich 22 schwarzgekleidete Tontons Macoutes auf. Sie tragen dunkle Brillen, spielen Domino und lassen „ihren Gebieter, Freund François“, nochmals auferstehen. Sie huldigen ihm und schwören ewige Treue, schließlich verwandeln sie sich in einen Tornado und zerstören Restaurant und Umgebung. Voller Entsetzen hatte Adrien zuvor festgestellt, dass diese Gestalten mager wie Skelette waren, Schweinefüße hatten, und dass in ihren Gesten nichts Menschliches lag. Der seltsame Wirbelsturm ist tagelang Hauptgesprächsthema der Stadt, jeder hat eine andere Erklärung dafür parat.

Nicht minder surreal ist Adriens Besuch in der Rue des Tentations, die an ein riesiges Zirkuszelt erinnert und „eigentlich keine Straße ist, sondern eine Art Welt, in der alle Gedanken, alle Wünsche materielle Gestalt annehmen können“. Hier erlebt Adrien nicht nur wundersame Spiele, Zaubereien und allerlei erotische Abenteuer. Er wird auch Zeuge eines Massakers der Tontons Macoutes, die Menschen, darunter auch seinen Vater, aus einer Kirche schleppen und erschießen. Die bedrückenden Zustände und Grausamkeiten der Diktatur finden sich in beiden Welten: die menschenleeren, unbeleuchteten Straßen der Hauptstadt in der Dämmerung, immer wieder Feuerstöße aus Maschinenpistolen in der Nacht, ein „Land, in dem die Mittelmäßigkeit und das Gangstertum sich mit derartiger Arroganz überall breitmachen“, die „an Freizeitmöglichkeiten so arme Stadt“ und die „Zeiten voller politischer Niederträchtigkeiten“. Der Autor präsentiert uns Papa Doc als Verrückten, blutrünstigen Wahnsinnigen, der Leute wegen ihrer Hautfarbe massakrieren lässt, während die Tontons Macoutes eine verwirrte Greisin erschießen, die Straße entlangschleifen und ihre Leiche in einen Abwasserkanal werfen.

Gary Victor ist mit „Eine Violine für Adrien“ ein vielschichtiger Roman und spannendes Porträt der Duvalier-Diktatur gelungen. Das Buch braucht den Vergleich mit Graham Greenes „Die Stunde der Komödianten“ (1966) nicht zu scheuen.