Großes Kino
Zwei zehnjährige Mädchen erzählen vom Sterben, eine 77-Jährige vom Leben. Die lateinamerikanischen Filme brachten poetische und raue Bilder auf die Leinwand der Berlinale (13.-23. Februar 2025). Fünf von ihnen nahmen Preise mit nach Hause. Verena Schmöller hat für die ila Kino-Marathon gemacht und weiß, was auf unsere „to watch“-Liste gehört.
Insgesamt 25 Filmproduktionen aus Lateinamerika konnte das Publikum während der Berlinale sehen: sechs Kurzfilme und 19 Langfilme. Darunter waren vor allem Spielfilme, aber auch Dokumentarfilme sowie eine fiktionale Fernsehserie. Allein zwölf Produktionen kamen aus Brasilien. Mexiko war an sechs, Argentinien an vier der Berlinale-Beiträge beteiligt. Außerdem waren Filme aus Chile, Peru, Kuba und Kolumbien, Haiti, Paraguay und der Dominikanischen Republik zu sehen (siehe Überblick über die lateinamerikanischen Beiträge der Berlinale).
Die Filme erzählen übers Altern...
Drei Spielfilme hatten es in den begehrten Internationalen Wettbewerbe der Berlinale geschafft, zwei davon wurden mit einem Silbernen Bären gewürdigt. „El mensaje“ („Die Nachricht“, Argentinien/Spanien 2025) von Iván Fund erzählt auf poetische Weise von einem Mädchen mit übersinnlichen Kräften. Der Film ist in Schwarz-Weiß gedreht, mit vielen stillen Momenten, vielen Groß- und Detailaufnahmen. Trotzdem werden die Figuren nicht greifbar. Die junge Anika, hat die Gabe, mit der Seele von Tieren zu kommunizieren, beziehungsweise deren Kommunikation zu kanalisieren, wie ihre Ziehmutter Myriam immer wieder den Kund*innen und der Presse erklärt. Der visuelle Kontakt, egal ob persönlich oder via Foto, genügt, um den Tieren ihre Wünsche, Sichtweisen und Verletzungen zu entlocken und für ihre Besitzer*innen in Sprache zu verpacken. Ob das Ganze ein großes Theater und Geldmacherei ist oder aber im Sinne eines Magischen Realismus verstanden werden kann, lässt der Film bewusst offen. Viel wichtiger ist ihm die Liebe zwischen seinen Figuren, die Dokumentation des Alltags dieses Kindes, das nebenbei erwachsen wird und Milchzähne verliert. Dafür, dass er „mit seiner Einfachheit glänzt“, erhielt „El mensaje“ den Preis der Jury.
In „O último azul“ („Das letzte Blau“, Brasilien/Mexiko/Chile/Niederlande 2025) entwirft Gabriel Mascaro eine nicht allzu weit von unserem Heute entfernte Zukunft, in der Menschen ab einem gewissen Alter in Senior*innenkolonien untergebracht werden, um die Produktivität der Jungen zu steigern. Die 77-jährige Tereza (Denise Weinberg) beobachtet das Schicksal ihrer älteren Mitmenschen mit Schrecken und weigert sich gegen die Regelung. Sie kann sich nicht vorstellen, selbst einmal in einem Käfigwagen abtransportiert zu werden, um auf das Lebensende zu warten. Als sie aus ihrem Job entlassen wird, nimmt sie ihr Leben selbst in die Hand, versucht, der allgegenwärtigen Kontrolle und ihrem Vormund – der eigenen Tochter – auf trickreichen Wegen zu entkommen. Mascaro erzählt seine Dystopie auf originelle Weise, mit unkonventioneller Filmmusik und einer überragenden Hauptdarstellerin. Der Film wurde zum Festivalliebling bei Kritik und Publikum, er wurde mit dem Preis der Ökumenischen Jury, dem Preis der Leserjury der Berliner Morgenpost und zuletzt auch mit dem Großen Preis der Internationalen Jury ausgezeichnet: ein Silberner Bär für den „kraftvollen Kommentar zum Umgang der Gesellschaft mit älteren Menschen“.
Mehrere andere Filme im Berlinale-Programm nehmen die Vorstellungen von Migrant*innen in den Blick. Die scheinen untrennbar mit dem Feld der Träume verbunden zu sein, wie Michel Francos „Dreams“ („Träume“, Mexiko 2025) zeigte. Er rückt den jungen mexikanischen Balletttänzer Fernando (Isaac Hernández) in den Vordergrund, der über die Grenze in die USA flüchtet, um auf internationalen Bühnen zu tanzen und mit seiner wohlhabenden Geliebten und Kultur-Mäzenin zu leben. Schnell wird deutlich, dass Jennifer (Jessica Chastain) Fernando zwar leidenschaftlich liebt, das Umfeld – und auch sie selbst in ihrer Sozialisation – ihr jedoch ein entspanntes gemeinsames Leben verwehrt. Da hat Fernando aber schon Blut geleckt: Er lässt sich nicht so leicht abwimmeln, nach Mexiko abschieben, um dort auf die Besuche der gringa zu warten. Was leidenschaftliche Liebe war, wandelt sich in einen erbitterten Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung, den Franco in wohldosiertem Tempo und spannend erzählt.
… und übers Jungsein
In der neuen Sektion Perspectives wurde das Spielfilmdebüt von Ernesto Martínez Bucio, „El Diablo Fuma (y guarda las cabezas de los cerillos quemados en la misma caja)“ („Der Teufel Raucht (und bewahrt die Köpfe der verbrannten Streichhölzer in derselben Schachtel auf)“, Mexiko 2025), mit dem GWFF Preis für den Besten Debütfilm geehrt. Die Perspektive von fünf Geschwistern, die von ihren Eltern verlassen wurden und auf sich allein gestellt sind, überzeugte die Jury wie auch das Publikum. Auch Funds „El mensaje“ nimmt ein Kind in den Fokus, und „Olmo“ (USA/Mexiko 2025) von Fernando Eimbcke schildert den Alltag eines Jugendlichen, der am Rand der Gesellschaft in New Mexiko im Jahr 1979 aufwächst: Die Familie hat Geldsorgen, der Vater ist aufgrund einer schweren Krankheit ans Bett gefesselt, die Mutter arbeitet, um die Familie über Wasser zu halten und die Miete zu zahlen, die Kinder versorgen den Vater und versuchen gleichzeitig, ein normales Leben mit Freunden, Schwärmereien und Partys zu führen. Das ist gar nicht so einfach und gerät an einem Samstag Nachmittag ziemlich durcheinander.
Überhaupt waren die Lateinamerikaner*innen im Bereich Kinder- und Jugendfilm erfolgreich. Das Programm Generation Kplus wurde mit dem Langfilmdebüt der Brasilianerin Rafaela Camelo eröffnet: „A natureza das coisas invisíveis“ („Das Wesen unsichtbarer Dinge“, Brasilien/Chile 2025) erzählt aus der Perspektive zweier zehnjähriger Mädchen vom Sterben und dem Glauben an die Wiedergeburt der Seele. Die Kinder sind aufmerksame Beobachterinnen und halten nicht mit ihren – für die Erwachsenen bisweilen unbequemen – Fragen zurück. Ein Film über schwere Themen, erzählt voller Neugier, Hoffnung und dem Glauben an die Liebe.
Auch Lucia Murat war erneut in Berlin. Die brasilianische Filmemacherin präsentierte den Dokumentarfilm „Hora do recreio“ („Pausenzeit“, Brasilien 2025), im Programm Generation 14plus: eine Momentaufnahme der brasilianischen Jugend, die über die schwierige Situation zu Hause, über Gewalt, Diskriminierung und Rassismus spricht. Für den „tiefen Eindruck“, den der Film durch die angesprochenen Themen wie auch die Mischung aus künstlerischen Formen und klarer Struktur hinterlassen hatte, erhielt er eine lobende Erwähnung von der Jugendjury Generation 14plus.
Ebenso von der Jugendjury lobend bedacht wurde der Kurzfilm „Atardecer en América“ („Sonnenuntergang in Amerika“, Brasilien/Chile/Kolumbien 2025) von Matías Rojas Valencia: „ein Film über eine verlorene Kindheit“, der ein Gefühl von Vertreibung und Verlust erwecke und sie über die Herausforderungen nachdenken lasse, „denen sich diejenigen gegenübersehen, die ein neues Leben suchen“. Die Internationale Jury ehrte den Kurzfilm „Akababuru: Expresión de asombro“ („Akababuru: Ausdruck des Erstaunens“, Kolumbien 2025) von Irati Dojura Landa Yagarí mit einer lobenden Erwähnung.
Filmkritikerpreise an Paraguay und Peru
Erfolgreich waren die Lateinamerikaner*innen auch bei der internationalen Filmkritik. Der Verband der internationalen Filmkritiker (FIPRESCI) zeichnete die Filme des Paraguayers Juanjo Pereira und der Peruanerin Tatiana Fuentes Sadowski mit dem Internationalen Filmkritikerpreis aus. Mit seinem Archivfilm „Bajo las Banderas, el Sol“ („Unter den Fahnen, die Sonne“, Paraguay/Argentinien/USA/Frankreich/Deutschland 2025) liefert Juanjo Pereira eine wertvolle Geschichtsstunde. Der Film überzeugte durch eine subtile Herangehensweise, sowohl in seinem thematischen Ansatz als auch in seiner Ästhetik. Das brachte ihm den Preis in der Sektion Panorama ein. In mühsamer Recherchearbeit hat Pereira all das Archivmaterial zusammengetragen, dass es weltweit über die Diktatur von Alfredo Stroessner (1954-89) in Paraguay gibt. Dabei montiert er nicht nur in einer losen Chronologie Zeitungsberichte und Reportagen aus dem Ausland aneinander, sondern präsentiert auch die Innensicht über Wahlwerbung oder Musikstücke, die den General feiern. Die Zusammenarbeit Stroessners mit anderen Diktaturen Lateinamerikas wie in der berüchtigten Operation Condor wird ebenso thematisiert wie die Episode Josef Mengele. Der paraguayische Diktator hatte dem KZ-Arzt das Bürgerrecht verliehen. Das bittere Fazit des Films: Das, was eigentlich die Vergangenheit zeigen sollte, ist tatsächlich ganz aktuell. Auch Tatiana Fuentes Sadowski arbeitet in „La memoria de las mariposas“ („Das Gedächtnis der Schmetterlinge“, Peru/Portugal 2025) mit Archivmaterial und verbindet dieses mit eigenartigen Soundwelten und innovativer photochemischer Textur, um den Blick zu weiten. Sie wurde darüber hinaus von der Berlinale Dokumentarfilmjury lobend erwähnt.
Originelle Erzählweisen, weibliche Perspektiven
Auch andere Filme fielen durch ihre originellen Herangehensweisen auf, so wie Amalia Ulman mit „Magic Farm“ („Zauberhafte Farm“, USA/Argentinien 2025). Die argentinische Filmemacherin thematisiert auf eigenwillige Weise das Fälschen von Fakten: Ein amerikanisches Filmteam reist nach Argentinien, auf der Suche nach einem bizarren Trend, stellt jedoch bei der Ankunft fest, dass es im falschen Land gelandet ist. Weil die Finanzierung knapp und man schon einmal da ist, versuchen sie, das Beste aus der Situation zu machen. Mit den Bewohner*innen des Ortes, einem sympathischen Hotel-Rezeptionisten, einer redseligen Näherin und ihren kuriosen Mitbewohner*innen knüpfen die Mitglieder der Filmcrew zarte Bande und kreieren schließlich ihren eigenen, erfundenen Trend. Herrlich komisch und erfrischend unter den lateinamerikanischen Beiträgen der Berlinale.
Die brasilianische Regisseurin Anna Muylaert, die 2015 mit „Que Horas Ela Volta?“ („Der Sommer mit Mamã“) den Publikumspreis des Festivals gewann, war in diesem Jahr Gast der Sektion Berlinale Special und zeigte ihren neuesten Spielfilm, „A melhor mãe do mundo“ („Die beste Mutter der Welt“, Brasilien/Argentinien 2025). Wie in vielen ihrer Filmen widmet sich die Filmemacherin der Situation der Frauen in ihrem Land, vor allem denjenigen, die es schwer haben. So wie Müllsammlerin Gal (Shirley Cruz), die in einer Nacht ihre Kinder packt und vor ihrem gewalttätigen Partner flieht. Den Kindern verkauft sie diese Flucht als großes Abenteuer: Camping im Park, das Abendessen auf der Straße. Auf unterhaltsame und sehr menschliche Art und Weise liefert sie authentische Einblicke in das Leben auf der Straße und macht die Spirale von Gewalt und Armut deutlich.
Besonders ergreifend war die Neuaufführung des Spielfilms „Iracema, uma transa amazônica“(„Iracema“, Brasilien/BRD 1975) von Jorge Bodanzky und Orlando Senna nach seiner Restaurierung durch Montanha Russa Cinematográfica und 50 Jahre nach seiner Erstaufführung im Jahr 1975. Der Film erzählt von der Reise einer jungen Indigenen vom Dorf in die Stadt und verbindet das Cinema Novo mit gesellschaftskritischem Blick.
Die 25 Beiträge laden dazu ein sich ein Bild von der Welt zu machen. Und alle lassen einen mit ein bisschen mehr Hoffnung auf das Gute in der Welt zurück, das es eben auch gibt: die liebevollen Menschen, die sich kümmern, die das Leben für sich, ihre Familien und ihr Umfeld besser machen. Die Filme der Berlinale waren – wieder – eine große Bereicherung. Auch für das eigene Leben.