Die Redaktion liest… El invencible verano de Liliana
Von der ersten Seite an setzt Cristina Rivera Garza einen ernsten und einfühlsamen Ton. Am 18. Oktober 2019, nach 29 Jahren, drei Monaten und zwei Tagen, beginnt sie den Femizid an ihrer Schwester Liliana aufzuarbeiten. In ihrem bislang autobiografischsten Roman führt die Autorin durch die Schauplätze in Mexiko-Stadt, wo sie von amtlichen Prozessen, Erinnerungen und Briefen von ihrer Schwester erzählt. Begleitet wird sie von ihrer Freundin Sorais. Kraft schöpft sie aus den Bewegungen, die Informationen zu Femiziden und Gewalt an Frauen sichtbar machen. Das ist zum Beispiel die Performance „un violador en tu camino“ (ein Vergewaltiger auf deinem Weg) des Kollektivs LasTesis, die sich von Chile aus in die Welt verbreitete (siehe ila 435). Dazu kommen Fakten über den Prozess, wie Femizide im mexikanischen Strafrecht anerkannt wurden. Oder auch bedeutende Forschungen über Gewalt an Frauen wie Rachel Louise Snyders Werk „No Visible Bruises“.
Das Thema ist natürlich nicht einfach. Und das soll es auch nicht sein. Das systematische Verschwindenlassen und der Tod von Frauen kann kein leicht verdaubares Thema sein. Mit einer radikalen Offenheit macht Cristina Rivera Garza ihren persönlichen Prozess verständlich, den sie mit der Öffentlichkeit zu teilen bereit ist. In einer Szene beschreibt sie, wie sie und ihre Mutter sich bei der Beerdigung an viele Gespräche mit Liliana nicht erinnern können. Und dass die Autorin sich endlich der Frage stellen kann, ob sie Anzeichen hätte wahrnehmen können. Dabei zeigt sie nicht nur die vielen Gefühle, die sie in ihrer persönlichen Aufarbeitung begleiten, sondern auch die systemische Ebene der Aufarbeitung in den mexikanischen Behörden. Das Buch ist vor allem eins: ehrlich. Es zeigt die Menschen, die hinter Namen und Amtstiteln stecken, die Unterstützung, die es von so vielen Seiten braucht, und die Ignoranz, der man auch begegnet. Und gerade diese Ehrlichkeit braucht es, denn die mexikanische Gesellschaft wird immer noch viel zu oft verzerrt dargestellt. Das zeigte zuletzt wieder der preisgekrönte, aber mit Klischees vollgepackte Film Emilia Pérez.
Das Buch ist auch in englischer Übersetzung unter dem Titel Liliana‘s Invincible Summer: A Sister‘s Search for Justice erhältlich.