Bis heute tun sich die ehemaligen Kolonialmächte und Sklavenhalternationen schwer mit einer „Aufarbeitung“ der grausamen Vergangenheit. Schließlich ständen mit jedem Eingeständnis einer Schuld, einer förmlichen Entschuldigung, materielle Forderungen nach Wiedergutmachung im Raum. Nicht nur, weil sich an dem globalen Reichtumsgefälle zwischen „Norden“ und „Süden“, das mit dem Aufstieg des Kapitalismus verbunden ist, bis heute nichts geändert hat. Nach der formalen „Dekolonisierung“ hat sich diese Kluft sogar noch vergrößert. Sie betrifft aktuell nicht nur die Einkommensverhältnisse, sondern zunehmend auch die höchst ungleiche Betroffenheit durch die Klimakrise und die industrielle Umweltzerstörung. Die Forderung nach einer Wiedergutmachung für die langfristigen Folgen von Kolonialismus und Sklaverei würde daher die gesamte kapitalistische Weltwirtschaftsordnung in Frage stellen.

In extremer Weise zeigt sich dieses Dilemma für die europäischen Metropolen an der gigantischen „Entschädigungszahlung“ von 150 Millionen Goldfrancs, die Haiti aufgezwungen wurde: und zwar vor genau 200 Jahren. Am 17. April 1825 erließ der französische König ebenjene folgenreiche Verordnung. Ziel war es, die französischen Plantagen- und Sklavenbesitzer für den Verlust ihres Eigentums in Saint-Domingue zu entschädigen. Seit dem Jahr 2003 wird immer wieder die Forderung erhoben, diese Summe an Haiti zurückzubezahlen. Dabei geht es zunächst nicht um die Frage nach einer Entschädigung für Kolonialismus und Sklaverei, wie sie in afrikanischen Ländern und den USA diskutiert wird. Vielmehr geht es um einen Ausgleich für die Absurdität, dass Menschen in Haiti auch noch dafür bezahlen mussten, dass sie sich von denjenigen befreit hatten, die sie aus Afrika geraubt und in der Sklaverei ausgebeutet hatten. Es stehen demnach eigentlich zwei Forderungen nach Wiedergutmachung im Raum: die Rückzahlung der 1825 aufgezwungenen Schulden und eine Entschädigung von Frankreich an Haiti für die Folgen der kolonialistischen Grausamkeiten.

Wie die Geldsumme auch berechnet wird, die heute den 150 Millionen Francs von 1825 entsprechen würde: Sie wäre ein Vielfaches des heutigen jährlichen Sozialprodukts von Haiti. Für Frankreich mit einem etwa 150-mal so großen Sozialprodukt wäre dieser Betrag zu verkraften. Für Haiti hingegen würde die Summe völlig neue Möglichkeiten der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung bieten.

Aber die ehemaligen Kolonialmächte sind sich einig, dass kein Präzedenzfall geschaffen werden darf. Es hat gar den Anschein, dass die kulturellen und medialen Bemühungen um eine Erinnerungskultur faktisch der Abwehr konkreter materieller Forderungen dienen, nach dem Motto „Seht her, wir tun doch was und gestehen unsere moralische Schuld ein, da müssen wir doch nicht über Geld reden.”

Nach dem großen Erdbeben im Januar 2010 war im selben Jahr zum Nationalfeiertag am 14. Juli auf der Website der französischen Regierung zu lesen, dass sie nun endlich die Schulden zurückzahlen werde. Eine Spaßguerilla, die sich CRIME nannte (Committee for the Reimbursement of the Indemnity Money Extorted from Haiti) hatte die Website gehackt und die Ankündigung platziert. Der damalige Präsident Nicolas Sarkozy erklärte, die Regierung werde strafrechtlich gegen die Gruppe vorgehen. Daraufhin verfassten namhafte Wissenschaftler*innen (darunter Noam Chomsky, Alain Badiou, Etienne Balibar und Naomi Klein) einen offenen Brief an den Präsidenten „Wir sind der Meinung, dass dem Ideal von Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit weitaus besser gedient wäre, wenn Frankreich – anstatt öffentliche Mittel in die Verfolgung dieser Spaßvögel zu stecken – damit beginnen würde, Haiti die Millionen zurückzuzahlen, die nach der haitianischen Unabhängigkeit erpresst wurden“. Sie verweisen darauf, dass die Regierung 2003 die Forderung des damaligen haitianischen Präsidenten Aristide nach Rückzahlung abgelehnt und stattdessen dabei geholfen hatte, ihn durch einen Putsch zu entmachten.

Die 2016 von Präsident François Hollande vorgeschlagene, 2018 von Macron eingerichtete „Fondation pour la mémoire de l’esclavage“ (Stiftung zur Erinnerung an die Sklaverei) zeigte letztes Jahr schließlich in einer großen Ausstellung das Original der folgenschweren Ordonnance vom 17. April 1825. Im Rahmen der Vereinten Nationen verlangt aktuell eine Reihe von NRO, die Forderung nach Rückerstattung endlich zu behandeln. Trotz dieser neuen Aufmerksamkeit gibt es bisher keine Signale, dass sich die französische Regierung zum 200. Jahrestag mit der Forderung beschäftigen will.