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Landkarten der Wahrheit

Geraldina Guerra über den Femizidnotstand in Ecuador

In fast keinem Land Lateinamerikas gibt es so viele Femizide wie in Ecuador. Gerade hat die Stiftung ALDEA (Lateinamerikanische Vereinigung für alternative Entwicklung) ihre Zählung für 2024 veröffentlicht: 274 Morde aus Frauenhass. 321 Femizide waren es 2023. Der Staat kam hingegen im gleichen Zeitraum nur auf 108. Woher die Lücke kommt und wie sie es schaffen, dass der Staat langsam besser wird im Zählen, erklärt Geraldina Guerra von ALDEA im Interview.

Frank Braßel

Wie erfasst die Frauenbewegung in Ecuador die wachsende Zahl der Femizide?

Seit 2017 registrieren wir einen starken Anstieg von Femiziden. ALDEA hatte die Idee, eine „Femizidlandkarte“ zu entwickeln, eine soziale Kartografie, um die Dimension der Femizide in Ecuador sichtbar zu machen. Einen Femizid als solchen festzustellen ist nicht immer einfach. Neben den staatlichen Zahlen beziehen wir Daten aus fast allen Provinzen, von diversen Organisationen der Zivilgesellschaft und dem Netz der Frauenhäuser. Am Anfang haben wir ganz simple Karten gemacht. Schnell wurde das richtig erfolgreich. Wir veröffentlichen inzwischen vier aktualisierte Karten pro Jahr, weitgehend ohne externe Finanzierung. Nur für das Design haben wir Unterstützung erhalten, aber nicht für die Recherche und die Sicherung der Daten. Das bleibt immens viel Arbeit.

Die Karten sind ein mächtiges Instrument. Sie werden nicht nur in der Lobby- und Medienarbeit in Quito genutzt, sondern oft bei Mobilisierungen auf lokaler Ebene, häufig im Großformat. Das hat den Staat herausgefordert, der daraufhin einen eigenen Prozess angestoßen und eigene Statistiken vorgelegt hat.

Das war eine Reaktion auf eure Aktivitäten?

Ja, insbesondere die Landkarten haben gewirkt. Femizide sind inzwischen ein Thema in der Öffentlichkeit und zunehmend auch bei den zuständigen Behörden. Mittlerweile veröffentlichen die Generalstaatsanwaltschaft und der Justizrat („Consejo de la Judicatura“) eigene Daten und Karten. Die Staatsanwaltschaft verzeichnet sogar mehr getötete Frauen als wir, aber sie ordnen nur wenige als Femizide ein. Das liegt daran, dass sie unterschiedliche Kriterien nutzen. Die staatlichen Stellen sprechen oft von Mord oder Vergewaltigung mit Todesfolge, nicht von einem Femizid. In den Jahren 2018-20 sind wir mit den zuständigen Behörden alle Fälle von Morden an Frauen einzeln durchgegangen. Durch unsere Arbeit haben sie mehr Fälle als Femizid anerkannt.

Wann ist der Mord an einer Frau ein Femizid?

Wenn Misogynie, also spezifischer Frauenhass, im Spiel ist und ein klares Machtverhältnis vorliegt. So wird es auch im Strafrecht definiert. Wenn beispielsweise eine Jugendliche vergewaltigt und danach getötet wird, ist das natürlich ein Femizid; die Machtverhältnisse sind ganz klar. Für den Staat ist es dennoch oft „nur“ eine Vergewaltigung mit Todesfolge. Er registriert auch deswegen weniger Morde an Frauen als Femizid, weil er so Geld für die gesetzlich geregelte Entschädigung der Kinder und Familien der Opfer einspart.

Ein Fall, den ich mehrfach mit Behörden diskutieren musste: Eine junge Frau wird vergewaltigt, dann mit 15 Schüssen ermordet, schließlich verbrannt und ihr Körper auf die Straße geworfen. Das ist natürlich in erster Linie ein Femizid, denn der Körper des weiblichen Opfers wurde bewusst massa­kriert. Der Staat klassifiziert solche Fälle seit 2021 aber zunehmend als Auftragsmord oder Bandenkriminalität, nicht als Femizid. Damit verfälschen sie die Zahlen und verstecken die Realität. Die Banden ermorden die Frauen gewissermaßen als Kriegsbeute, mit ihren Körpern markieren sie Territorien und hinterlassen Terrorbotschaften. Die weiblichen Körper werden zu Müll. Das ist Frauenhass, das sind Femizide. Die Sachlage ist klar, das sehen wir nicht nur in Ecuador so. Es gibt einen Konsens in den lateinamerikanischen Netzwerken gegen die Gewalt an Frauen und die Femizide in kriminellen Systemen.

Woher kommen dieser Hass, diese Gewalt bei vielen Männern? Das Phänomen nimmt ja nicht nur in Ecuador und Lateinamerika zu, sondern auch in Deutschland steigen die Zahlen, wie das Bundeskriminalamt jüngst bekannt gab.

Diese Gewalt wird ganz überwiegend zu Hause verübt, nicht auf der Straße, sondern in deinen eigenen vier Wänden, wo du besonders geschützt sein solltest. Das hängt mit der Kultur des Machismo und der Straflosigkeit zusammen. Wenn man in einer Familie aufwächst, in der über Frauen gespottet wird, sie weniger wertgeschätzt, angeschrien oder gar geschlagen werden, dann wachsen die Jungen und auch die Mädchen mit dieser patriarchalen Kultur auf. Sie durchdringt die gesamte Gesellschaft, bis hinein in den Justizapparat oder die Polizei. Gerade in abgelegenen Provinzen bleiben viele Fälle von sexueller Gewalt einfach unbearbeitet und somit straflos. Und Straflosigkeit tötet. Wenn niemand die Täter verfolgt, dann sagt der nächste Mann: Ich darf das auch machen.

In letzter Zeit steigen die Zahlen der Femizide insbesondere in den Küstenprovinzen Manabí, Los Ríos und Guayas. Guayaquil hat beispielsweise viermal so viele Fälle wie Quito. In diesen Regionen ist die Zivilgesellschaft schwach und es gibt es eine doppelte Gewalt: zum einen die strukturelle Gewalt der Plantagenwirtschaft, in der Recht und Gesetz nicht zählen, zum anderen die wachsende Kriminalität der Banden und des Drogengeschäfts. Tragen diese Aspekte zu der enormen Anzahl der Femizide bei?

Mit der Pandemie stiegen Kriminalität und Gewalt rasant. In unserem Land gibt es überhaupt keine soliden Institutionen. Die, die es gibt, haben jegliche Glaubwürdigkeit verloren. Und wenn die Institutionen nicht mehr anerkannt werden, dann gibt es letztlich keinen Staat, sondern Chaos, in dem Gewalt und Kriminalität gut gedeihen. Das gilt insbesondere in den Küstenprovinzen. In Manabí wird jede Woche eine Frau ermordet und die Medien berichten darüber nicht. Wir erfahren über unser landesweites Netz davon. Doch auch die Menschenrechtsverteidiger*innen werden zunehmend bedroht.

Die Regierungsstellen beschönigen die Lage. Sie haben alle notwendigen Gesetze zur Hand, tun aber nichts. Niemand achtet darauf, dass die Gesetze umgesetzt werden. Das ist nicht erst jetzt unter Präsident Noboa so, sondern begann mit der Amtszeit von Lenín Moreno ab 2017, teils sogar davor. Der Staat hat die Schutzpolitik für Frauen, Mädchen und Kinder abgebaut. In Nanegalito, eine halbe Stunde von Quito, wurde eine Jugendliche, die Opfer häuslicher sexueller Gewalt geworden war, wieder in die Familie geschickt, wo gleich zwei der Täter leben. Es gibt kaum Plätze in Frauenhäusern und kein ganzheitliches Konzept zum Thema sexuelle Gewalt.

Konnte die Frauenbewegung trotz allem Erfolge erzielen?

Ja, zum Beispiel das Präsidialdekret von 2023. Darin wird die Unterstützung der Opfer von Gewalt und der Frauenhäuser zugesichert und damit auch der Bedarf an Betreuungsangeboten und finanziellen Mitteln anerkannt. Und 2024 erklärte die Nationalversammlung den nationalen Notstand angesichts der Gewalt gegen Frauen, Kinder und Jugendliche. Das bedeutet nicht, dass wirklich Geld fließen oder Konkretes geschehen wird. Aber es sind Fortschritte, auf denen wir Forderungen aufbauen können. Vor Ort in den Provinzen muss mehr getan werden. Doch die politisch Zuständigen lesen nicht mal die offiziellen Zahlen. Die Beamt*innen, Minister*innen und der Präsident müssten schauen, wo welche Art von Gewalt gegen Frauen besonders ausgeprägt ist und dann dort gezielte Kampagnen oder Programme starten. Das passiert aber nicht, weil in den letzten Jahren massiv staatliche Infrastruktur abgebaut wurde. Die Zahlen steigen weiter, wahrscheinlich viel stärker, als wir das registrieren. Aus vielen ländlichen Regionen bekommen wir kaum Informationen.

Du arbeitest zu einem grausamen Thema, das dich sicher emotional aufwühlt und viele Enttäuschungen bringt. Was gibt dir die Kraft, weiterzumachen?

Ich lebe außerhalb von Quito, in Mindo, einer waldreichen Gegend. Ich beschäftige mich viel mit Umwelt­schutz, mit der Stärke des Wassers und mit Fragen der Ernährungssouveränität, wo es allerdings auch Verbindungen zur Gewalt gibt. Aber ich habe Hoffnung. Was mir Stärke gibt, sind die Familien der Opfer. Auch das Engagement der Organisationen der Zivilgesellschaft. Gemeinsam erreichen wir immer wieder Erfolge in der Entschädigung und der Täterverfolgung. Dann merke ich, dass die Arbeit sich lohnt. Aber ich bin auch müde. Im Jahr 2025 werde ich noch weitermachen mit den Karten, aber ob darüber hinaus…

Geraldina Guerra arbeitet für ALDEA. Die Sprecherin der „Alianza Feminista para el mapeo de femicidios“ (Feministische Allianz zur Kartierung von Femiziden) ist außerdem im Netzwerk der ecuadorianischen Frauenhäuser aktiv. Das Interview führte Frank Braßel im Dezember 2024 in Quito.