Ihre gerechte Strafe
Im Repertoire feministischer Interventionen sind sie in den letzten zehn Jahren in Lateinamerika immer wichtiger geworden: die Escraches. So heißen sie in Argentinien und Kolumbien, in Chile und Mexiko auch Funas. Dabei wird öffentlich Anklage erhoben, und zwar außerhalb des staatlichen Justizwesens. Plakate, Graffiti, Sprechchöre und Posts in sozialen Medien machen auf Personen aufmerksam, die wegen patriarchaler Gewalt oder Übergriffen beschuldigt werden. Eine notwendige Strategie, weil der Staat solche Taten nicht angemessen verfolgt, meinen die einen. Unsere Autorin argumentiert: Gerechtigkeit schaffen wir so nicht.
Feministische Escraches sollen Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt, Belästigung oder Missbrauch öffentlich machen. Doch entstanden sind die Escraches in einem anderen Kontext. In Argentinien begnadigten die Regierungen der Unión Cívica Radical (etwa: Radikale Bürgerunion) und der Peronistischen Partei zwischen 1986 und 1990 verurteilte Straftäter der Militärdiktatur (1976-83). Als Reaktion darauf beschlossen die Kinder der Opfer, die Täter unter dem Motto „Wenn es keine Gerechtigkeit gibt, gibt es Escraches“ öffentlich anzuklagen. In Chile wurde die Funa-Kommission gegründet, um auf nicht verurteilte und unerkannt lebende Mitglieder der Pinochet-Regierung aufmerksam zu machen. Weil die damalige staatliche Strafjustiz ihre Verbrechen nicht verfolgte, sollte so eine soziale Bestrafung erreicht werden.
Feminist*innen übernehmen die historische Strategie
Durch die digitalen Medien wurden Escraches einfacher und bekamen eine nie dagewesene Reichweite. Zwischen 2015 und 2020 gab es in der Region eine riesige Welle feministischer Escraches. Das hat verschiedene Gründe: Zwischen den Ländern in unserer Region verbreiten sich neue Ideen und Aktionsformen sehr schnell, generell gewannen die Feminismen an Stärke, und die Formen von Gewalt, denen vor allem Frauen ausgesetzt sind, wurden viel stärker wahrgenommen. Es gab Escraches von Frauen gegen ihre Ex-Partner, von Sekundarschüler*innen gegen Mitschüler*innen, Internetseiten, die ausschließlich Escraches gegen Persönlichkeiten aus der Kunstwelt veröffentlichten, Interventionen im öffentlichen Raum wie Aufkleber oder „Anklageleinen“ (tendederos, siehe Artikel auf Seite 20) auf dem Universitätscampus. Die überwiegende Mehrheit dieser Escraches veröffentlichten persönliche Angaben zu der beschuldigten Person (Vor- und Nachname, Foto, Arbeits- oder Wohnort) und wurde von cis1 Frauen (einzeln oder in Organisationen) gegen cis oder trans Männer erhoben.
Viele Analysen übertragen die Argumente für und gegen Escraches von den historischen Escraches gegen die Unterstützer*innen der Militärdiktaturen auf die Escraches der feministischen Bewegung. Es ist aber wichtig, die Unterschiede zwischen beiden zu beleuchten. Sie müssen in ihrem jeweiligen historischen, politischen und juristischen Kontext bewertet werden. In diesem Text geht es deswegen nur um die feministischen Escraches.
Strafe von unten nach oben umverteilen
Der Hauptgrund für feministische Escraches ist das Bewusstsein, dass die Übergriffe vom staatlichen Justizsystem nicht verfolgt werden. Der moderne Staat ist ein patriarchaler Apparat. Deswegen überrascht es nicht, dass er die Formen der Gewalt, die patriarchale Hierarchien und Disziplinierung festigen, nicht gerecht bewertet. Empirische Studien zeigen, dass sozial benachteiligte Menschen im Justizsystem institutionelle Gewalt erfahren. Für sie ist es praktisch unmöglich, durch staatliche Rechtsprechung Gerechtigkeit zu erfahren. Denn für das Strafsystem ist von vornherein klar, wer verfolgt und wer beschützt wird. Deswegen plädiert ein großer Teil der feministischen Bewegungen für Escraches als eine Form der alternativen Gerechtigkeit. Sie soll Strafe nach oben umverteilen: Wer nicht vom staatlichen System verfolgt wird, den trifft die soziale Bestrafung von unten. So häufen sich Sprüche wie „Die Angst hat die Seite gewechselt“, „Keine Aggression ohne Antwort“ oder „Feministische Patrouillen“. Sie kündigen das Ende der Straflosigkeit an und fordern, keine Zugeständnisse bei den Vergeltungsmaßnahmen zu machen.
In den letzten Jahren haben sich bei den Escraches unterschiedlichste Vorstellungen und Ziele vermischt, persönliche wie politische. Die, die sie durchführen, verteidigen sie:
• als Instrument der Gerechtigkeit
• als Grundlage für dauerhafte, starke Communities
• als Aufklärung über eine soziale Problematik
• als Strategie, um das Private zu politisieren
• als Aufkündigung des patriarchalen Schweigens
• als Präventionsmaßnahme durch die Angst vor Strafe
• als individuelle und kollektive Wiedergutmachung (die Annahme ist: Wenn andere Personen anerkennen, dass etwas passiert ist, ist das Teil des Heilungsprozesses).
Normalerweise betrachten sie Escraches nicht als Form der Straflogik, denn Straflogik wird ausschließlich mit dem Staat und seinem Strafvollzug in Verbindung gebracht. Für sie gibt es einen radikalen Unterschied zwischen Strafmaßnahmen, die der (patriarchale und ungerechte) Staat durchführt, und denjenigen, die Personen oder Organisationen außerhalb der öffentlichen Institutionen durchführen (ausdrücklich nicht patriarchal, potentiell nicht ungerecht). Aber jetzt, wo die erste Aufregung um die Escraches sich ein bisschen gelegt hat, tauchen immer mehr Fragen auf. Auch von denen, die selbst an Escraches beteiligt waren.
Gerechtigkeit ist mehr als Strafe
Je mehr sich die Welle der Escraches über das feministische Territorium ausbreitete, desto größer wurden die Bedenken bei Wissenschaftler*innen sowie Aktivist*innen. Es geht etwa darum, ob die Personen, die Anklage erheben, genug geschützt werden. Es gibt einen enormen Druck, Anklage zu erheben, dann aber wird die Person mit den emotionalen, sozialen und manchmal auch rechtlichen Folgen allein gelassen. Alle Beteiligten werden auf unbestimmte Zeit mit dieser Situation belastet. Dafür braucht es langen Atem. Außerdem reicht es nicht, sich nur auf die Genderfrage zu konzentrieren. Wir wissen, dass jeder Mensch durch eine ganze Reihe weiterer Faktoren geprägt wird. Dazu zählen Klasse, Bildungsniveau, Rassismuserfahrung und Migrationsstatus. All das beeinflusst, ob uns geglaubt wird, wenn wir öffentlich mit einem Escrache Anklage erheben, ob und wie wir dabei unterstützt werden, ja sogar, ob etwas, das uns passiert, als geschlechtsspezifische Gewalt definiert wird. Bei einer öffentlichen Anklage wird eine verschleierte Frau in Frankreich eine andere soziale Reaktion auslösen als eine berühmte Hollywood-Schauspielerin.
Aus einer antipunitivistischen Haltung, die sich generell gegen die Straflogik wendet, muss dringend darauf hingewiesen werden, dass die Escraches mit ihrer sozialen Bestrafung die Kultur der Strafe fördern, selbst wenn es keine juristischen oder institutionellen Strafen sind. Je mehr gestraft wird, desto mehr wird diese Straflogik verbreitet. Und niemand garantiert, dass sich diese Straflogik nicht am Ende gegen die Schwächsten richten wird. Gegen die, die am meisten unterdrückt werden und die der Feminismus eigentlich schützen will.
Sind Escraches also der richtige Weg, um Gerechtigkeit zu erreichen? Diese Frage hat in der Region viele Debatten ausgelöst und es wurde schon viel darüber geforscht.
„500 Jahre mentale und spirituelle Kolonisierung haben gewaltig dazu beigetragen, unsere kreativen Kräfte zu zerstören. Kräfte, die wir brauchen, um andere Möglichkeiten zu (er)finden, Verantwortung zu übernehmen“, heißt es in der Broschüre „Actos Transformadores“. Die Kultur der Strafe ist Ausdruck von diesem eingeschränkten Möglichkeitshorizont. Sie verstärkt diese Begrenzung und wird durch sie gestärkt. Vor uns liegt eine Herausforderung: die bisherigen Interventionen und Aktionen zu hinterfragen und andere Wege zu suchen, um Gerechtigkeit zu schaffen.
- 1. cis bezeichnet eine Person, die sich mit dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht identifiziert (im Gegensatz zu trans).
Moira Pérez hat in Philosophie promoviert und lehrt an der Universität von Buenos Aires. Sie leitet die Forschungsgruppe Angewandte Philosophie und Queere Politiken @PolQueer.•
Übersetzung: Laura Held