Du hast mir Lieben und Tanzen beigebracht
In einer Parallelwelt ging ich niemals fort. Die Fotos von meinem alten Handy sind nie verloren gegangen. Ich stritt wie eine Erwachsene, die weiß, woher die Probleme kommen, und nicht wie eine launische Heranwachsende. Mein – zum Glück freiwilliges – Auswandern war eine schwer zu erklärende Entscheidung. Eine Absage an viele Lebenswege, die andere für mich vorgesehen hatten, ein Ausweg aus dem, was mir zu Hause, in der Schule und an der Uni beigebracht worden war. Ich wurde wieder zum Baby, das alles lernen muss: wie man die Fenster öffnet, wie die Gerichte heißen.
Nach einer viel zu kurzen Reise nach Kolumbien stieß ich auf das neue Album des puertoricanischen Sängers Bad Bunny. Ich höre lieber nicht die Musik meiner Eltern, weil es mich zu sehr mitnimmt. Die Schönheit der Texte, die Sensibilität gegenüber den gesellschaftlichen Problemen, die Erinnerung daran, wie ich mit ihnen Wein trank und ihnen zuhörte, wie sie mir von früher erzählten, als sie jung und rebellisch waren. Aber ein neues Reggaetonalbum löst keine Gefühle in mir aus, eher wird es mich ein bisschen aufmuntern, dachte ich.
Salsa gefällt mir, und ihren Einfluss zu hören, das regte mich an. Der erste Song, Nueva Yol, greift ein Sample von „Un verano en Nueva York“ von der Gran Combo de Puerto Rico auf und nimmt die Hörer*innen mit in die Stadt, wo die Latino-Diaspora einst das Salsatanzen erfand. Niemals hätte ich gedacht, dass ich am Ende weine. Aber wenn er doch Sachen singt wie: „Ich dachte, ich würde mit dir alt werden. In einem anderen Leben, in einer anderen Welt vielleicht“. Danach sagt er: „Das Leben ist eine Party, die eines Tages aufhört, und du warst der Tanz, den ich nie vergessen werde.“ Bei dieser Strophe, während die Füße im Rhythmus mitwippen, dachte ich an diejenigen, die ich nicht vergessen kann, weil sie mir beibrachten, wie man liebt und wie man tanzt. Ich erinnerte mich an Familienfeiern mit weißen Plastikstühlen wie die auf dem Albumcover, wo mir meine Tanten die Grundschritte beibrachten und mein Onkel mir stets sagte, dass ich meine Hand auf die Schulter des Tanzpartners ablegen solle, damit ich ihn von mir fernhalten könne, wenn er mir zu sehr auf die Pelle rücke.
Migrantin sein heißt, fortgegangen zu sein, aber immer dann zurückkehren zu wollen, wenn ein Problem auftaucht oder wenn es kalt ist. Migrantin sein heißt auch, nicht vergessen und sich nicht unwissend stellen zu können. Benito nahm mich mit zu den Silvesternächten, zum Dominospielen mit der Familie. Er schenkte mir Lieder, die mich berühren und mir Lust aufs Tanzen machen.
Ich spürte, wie das Böse Kaninchen mit mir spricht: „Hier wollte niemand fortgehen, und wer fortging, träumt vom Zurückkehren. Wenn es mich eines Tages trifft, wird es mich so sehr schmerzen.“ Meinem Bruder gab er Worte für einen Screenshot: „Hoffentlich werden meine Leute niemals umziehen.“ Die karibischen Rhythmen ähneln denjenigen, die meine Eltern und Omas hörten. Sie sind eine Hommage an das musikalische Erbe der Latino-Musik. In Kombination mit den Synthesizerklängen und Reggaetontexten höre ich sie gerne, wenn ich mit meinen Freundinnen koche und Ron Viejo de Caldas trinke.
Die Künstler, die die Salsastücke auf dem Album produziert haben, sind junge Leute von der Freien Musikschule Puerto Ricos. Die Texte schrieben sie zusammen mit Jorell Meléndez-Badillo, einem Experten in der Geschichte der Karibikinsel. So wird das Album zu einer Hommage an das Land. In „Der Umzug“ singt er: „Hier kriegt mich niemand fort, von hier beweg ich mich nicht weg. Sag ihm, dass das mein Zuhause ist, wo mein Opa geboren wurde“ – ein antikolonialer Aufschrei. In „Lo que le pasó a Hawái“ thematisiert er Gentrifizierung, was wie Protestmusik klingt. Er erzählt, wie lokale Kulturen verschwinden – wie auf der Pazifikinsel, als die lokale Bevölkerung vertrieben wurde und ihre politische Autonomie verlor. Heute ist Puerto Rico ein von den USA annektiertes Territorium, ohne Souveränität und Bürgerrechte.
Neben Texten über das Auswandern, das Bleiben und Widerstehen, sind da auch Zeilen, die mich die Augen verdrehen lassen: „Ich spürte, wie ich dich veränderte, nachdem ich ihn dir reingesteckt hatte.“ Trotzdem höre ich mir das Album immer wieder an, es konfrontiert mich mit schwierigen Themen und glücklichen Erinnerungen, mit dem Tanzen und der Sonne, die ich so sehr vermisse. Bad Bunny ist nicht der neue Silvio Rodríguez oder Héctor Lavoe. Latino-Musik berührt schon seit langem schwierige, gesellschaftliche Themen. Die Rhythmen spiegeln dabei eine Haltung wider, die ich mit Lateinamerika verbinde: das Harte zu sehen, es zu benennen, dabei aber fröhlich zu bleiben.
Dieses Album hat mich erkennen lassen, dass mein Schmerz ein glücklicher ist. Schließlich erinnert er mich daran, dass ich meine Weihnachtsferien in Kolumbien verbracht und mit Cumbias und Salsas die Nacht durchtanzt habe.
Übersetzung: Britt Weyde