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Die Redaktion liest… Die Verdammten dieser Erde

von Frantz Fanon
Gert Eisenbürger

Für einen Beitrag zu Frantz Fanon in einem Theater­programmheft habe ich kürzlich noch einmal dessen be­k­anntestes Buch „Die Verdammten dieser Erde“ gelesen. Der 1925 auf der Karibikinsel Martinique geborene Arzt, Psychoanalytiker und Autor veröffentlichte grundlegende Arbeiten über die Ursachen und Folgen von Kolonialismus und Rassismus. „Die Verdammten dieser Erde“ löste in den 1960er-Jahren heftige Diskussionen aus, weil sich Fanon, ausgehend von seiner medizinischen und psychoanalytischen Praxis, darin auch mit der Rolle der Gewalt im Befreiungskampf auseinandersetzte. Seiner Analyse nach bedeutete der europäische Kolonialismus für die Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika eine Abfolge traumatischer Gewalterfahrungen: die Unterwerfung ihrer Gemeinwesen, oftmals die Zerstörung landwirtschaftlicher Produktionssysteme und damit der Ernährungsgrundlagen, Versklavung hunderttausender Menschen in Afrika, deren Deportation zur Zwangsarbeit nach Nord- und Südamerika, massenhafte Vergewaltigungen, brutale körperliche Strafen und immer wieder Massaker bis hin zum Genozid. Der Psychoanalytiker Fanon folgerte daraus, dass die Kolonisierten die ihnen geraubte Menschenwürde und Selbstachtung nur zurückgewinnen könnten, wenn sie sich gewaltsam gegen das Kolonialsystem wehrten. Erst im Kampf für Selbstbestimmung würde das „kolonisierte Ding“ wieder Mensch.

Kritiker*innen warfen ihm vor, er propagiere Gewalt und Blutvergießen. Andere hielten dagegen, er habe die Wirklichkeit beschrieben, wie sie sich um das Jahr 1960 darstellte, vor allem in Afrika und Indochina. Die Aufstände in Algerien, Angola oder Vietnam gegen das koloniale Joch seien längst in vollem Gange gewesen, als er „Die Verdammten dieser Erde“ verfasste. Fanon habe nicht Gewalt propagiert, sondern hergeleitet, warum die antikolonialen Kämpfe gewaltsam geführt werden mussten und wer dafür in erster Linie verantwortlich war.

Vor allem nach 1968 wurden seine Schriften weltweit diskutiert. Doch blieb diese Beschäftigung oft oberflächlich, weil viele, die über ihn sprachen, von „Die Verdammten dieser Erde“ nur das plakative und polemische Vorwort Jean-Paul Sartres gelesen hatten. Damit entgingen ihnen nicht nur die weitaus differenzierteren Reflexionen Fanons zur „Gewalt im internationalen Kontext“, sondern auch seine Überlegungen zu Strukturen und Widersprüchen in den postkolonialen Staaten. Auch wenn er dabei einen heute nur noch bedingt nachvollziehbaren Fortschrittsglauben an den Tag legte, war für ihn grundlegend, dass niemals über die Köpfe der Menschen hinweg entschieden und Modernisierungsprojekte durchgesetzt werden durften. Doch genau das geschah in den folgenden Jahrzehnten in den meisten Ländern des Südens. Gleiches galt für viele Projekte der „Entwicklungshilfe“ des Nordens.

Anregend sind die Überlegungen zur Rolle der Kultur im antikolonialen Kampf. In Zeiten, wo allein das Ego der Kulturschaffenden als Grundlage ihrer Arbeiten gesehen wird, wirken Überlegungen, Künstler*innen eine gesellschaftliche Aufgabe zuzuweisen, fast provokativ. Stark beeindruckt hat mich das letzte Kapitel, „Kolonialkrieg und psychische Störungen“. Von 1953 bis 1956 leitete Frantz Fanon eine psychiatrische Klinik in Bilda-Joinville in Algerien, zu einer Zeit, als der Befreiungskrieg gegen die Kolonialmacht bereits begonnen hatte. Er behandelte viele französische und algerische Menschen, die traumatische Kriegserlebnisse krank gemacht hatten. Die sachlich-medizinisch verfassten Krankheitsgeschichten zeigen, wie brutal der Krieg in Algerien geführt wurde und wie rücksichtslos die französischen Sicherheitskräfte vorgingen. So menschenverachtend, dass sogar manche Folterer psychische Probleme bekamen.

Als die französischen Behörden registrierten, dass in der von Fanon geführten Klinik auch Kämpfer*innen der algerischen FLN (Front de Libération Nationale) medizinisch versorgt wurden, musste er fliehen und war fortan offiziell für die FLN tätig. Die Unabhängigkeit Algeriens im März 1962 erlebte er nicht mehr. Frantz Fanon starb am 6. Dezember 1961, wenige Wochen nach dem Erscheinen von „Die Verdammten dieser Erde“, im Alter von 36 Jahren an Leukämie.

Sicherlich sind seine Bücher wegen der Vielschichtigkeit seiner Gedanken keine leichte Lektüre, aber sie lohnen unbedingt. Sein, vorsichtig ausgedrückt, sehr maskuliner Blickwinkel schmerzt mitunter und ist nur aus der Zeit heraus zu verstehen. Das ändert aber nichts an der Aktualität seiner Gedanken. In den 1970er-Jahren waren „Die Verdammten dieser Erde“ in der internationalistischen Szene Pflichtlektüre. Vielleicht ist sein 100. Geburtstag am 20. Juli 2025 ein Anlass, sich wieder mit Frantz Fanon zu beschäftigen.

In der ila 412 ist der Text „ Individuum und Gesellschaft“ erschienen, der sich u.a. mit Fanons Buch „Schwarze Haut, weiße Masken“ beschäftigt. Weitere Beiträge zu Fanon in ila 243 und ila 259.