„Die Scham muss die Seite wechseln.“ Mit diesem Satz begründete die Französin Gisèle Pelicot, wieso sie den Prozess gegen ihren Ex-Mann und 50 weitere Männer, die sie über Jahre vergewaltigt hatten, öffentlich führte. Der Satz war eine Intervention. Er greift an, was eine Gesellschaft als normal empfindet: dass sich ein Opfer sexualisierter Gewalt schämen sollte. Nein, schämen muss sich nicht Gisèle Pelicot, schämen müssen sich die Täter. Plötzlich zitiert jedes kleine und große Medium ihren Satz. Mit jeder Schlagzeile sickert er tiefer ins kollektive Bewusstsein ein. Er ändert, was wir normal finden.
Was wir über solche medial zelebrierten Ereignisse oft vergessen: Diese Interventionen haben eine Geschichte. Gisèle Pelicot ist kein Einzelfall. Den Weg dahin, dass sie mediales Echo finden konnte, haben unzählige Feminist*innen vor und mit ihr zusammen bereitet. Und den Satz „Die Angst muss die Seite wechseln“ nutzten Aktivist*innen in den spanischen Indignados-Aufständen (2011-2015) genauso wie mexikanische Feministinnen seit einigen Jahren. Eure und unsere Lieblingssätze gibt's in der Heftmitte als ila-Ausmalposter zum Rausnehmen, Verschenken und Aufhängen!
Der Satz von Pelicot ist ein Lehrstück darüber, was feministische Intervention bedeutet: eine Aktion, die den Normalzustand stört. Das kann ein einziger Satz sein, ein Song oder eine Performance. Wir erinnern uns daran, wie 2019 Frauen und Queers auf der ganzen Welt mit schwarzen Augenbinden auf öffentlichen Plätzen standen und „Der Vergewaltiger bist du!“ riefen. Initiiert hatte die Performance das chilenische Kollektiv LasTesis, und bald wurde sie hundertfach wiederholt (siehe ila 435). Nicht alle Interventionen ziehen solche Aufmerksamkeit auf sich wie die von LasTesis. Aber dass sie um die Welt reisen, ist normal. Bewegungen inspirieren sich gegenseitig und übernehmen erprobte Taktiken voneinander.
Zum Beispiel, wenn Feminist*innen mit sogenannten Escraches Täter outen und öffentlich darauf aufmerksam machen, dass jemand sexuell übergriffig oder gewalttätig war. Diese Strategie wurde von Angehörigen der während der argentinischen und chilenischen Militärdiktaturen verschwunden gelassenen Menschen entwickelt, um straffrei gebliebene Täter*innen der Diktaturen sozial zu ächten.
Oder die Taktik des Schwarzen Blocks. Entstanden ist sie in der autonomen und antifaschistischen Bewegung der Bundesrepublik Deutschland in den 1980er-Jahren zum Schutz vor Repression. Inzwischen nutzen sie mexikanische Feministinnen, um ihre Genossinnen auf den Demos zu schützen. Die bürgerliche Öffentlichkeit regt sich gerne darüber auf, dass sie Denkmäler und Bushaltestellen mit Parolen besprühen. Dabei ist der eigentliche Skandal nicht die Beschädigung öffentlichen Eigentums, sondern die Erniedrigung, Malträtierung und Ermordung weiblicher Körper. Oder von Körpern, die nicht der zweigeschlechtlichen Ordnung entsprechen. Trotz der riesigen „Ni Una Menos“-Mobilisierungen gegen Gewalt gegen Frauen hat sich in Mexiko die Zahl der Feminizide in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Vermutlich kommen inzwischen mehr Gewalttaten gegen Frauen zur Anzeige. Aber dennoch zeigen die Zahlen: Die Interventionen haben den Normalzustand bisher nicht nachhaltig verändern können.
Kleine Anmerkung zu den Begriffen: Wir überlassen es den Autor*innen, ob sie von Femiziden oder Feminiziden sprechen. Gemeint sind in der Regel Morde an Frauen, weil sie Frauen sind. Der Begriff Feminizid weist explizit auf die Rolle hin, die der Staat dabei spielt, solche Verbrechen zu ermöglichen oder nicht zu verfolgen.
Uns interessieren in dieser Ausgabe die spezifischen Formen der Interventionen. Welches Repertoire haben Feminist*innen, um den Normalzustand als Katastrophe zu entlarven? Manchmal clasht dabei der eigene Anspruch mit der Realität. Im besten Fall entstehen dann fruchtbare Debatten in feministischen Zusammenhängen. Zum Beispiel darüber, ob Escraches nicht letztlich eine elitäre Straflogik festigen. Oder ob das Nationale Frauentreffen nicht lieber Plurinationales Treffen von Frauen und Queers heißen sollte (Spoiler: Es sollte).
Wir brauchen große, öffentliche Interventionen, weil sie Aufmerksamkeit generieren. Aber auch die Arbeit in den Communities, um Sexualerziehung und Selbstverwaltung zu stärken, ist eine Intervention. Sie ändert die Logik eines Alltags, der versucht, uns Freude und Gemeinschaft zu nehmen. Feministische Interventionen erschüttern nicht das soziale Gefüge, wie es aufgeregte Bürger gerne behaupten. Im Gegenteil: Feministische Interventionen weben zusammen, was zerrissen war.
Apropos Gewebe: Wir haben euch über den Jahreswechsel ein neues Layout gestrickt. Gefällt’s euch? Sollen wir noch mehr ändern? Schreibt uns an ila-bonn@t-online.de!