Teuflisch, touristisch, teuer
Rafael Correa, Ecuadors ehemaliger Präsident (2007 bis 2017), empörte sich im November 2020 auf Facebook: „Die ‚Presse‘ hat immer gesagt, der ‚Tren Crucero‘ sei zu teuer. Ja, er war ein Luxusprodukt. Aber die Presse hat nie die kostenlosen Sozialprogramme erwähnt, zum Beispiel die Reisen für die besten Abiturient*innen eines Jahrgangs. Wir wollen Alfaros Zug zurück!“ Aus diesem Post spricht gekränkter Stolz, der offenbar keine Kritik an den Fehlern der eigenen Politik verträgt. Der vollständige Wiederaufbau des ecuadorianischen Schienennetzes unter Correa war vor allem eins: teuer. Die ecuadorianische Bevölkerung hatte davon nur wenig. Schließlich war die Eisenbahn fortan in erster Linie eine Attraktion für ausländische Tourist*innen.
In den letzten 150 Jahren hat Ecuadors Schienennetz ein ständiges Auf und Ab erlebt. Präsident Gabriel García Moreno (1859 bis 1865 und 1869 bis 1875) ließ die ersten 45 Kilometer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bauen. Ursprünglich hatte er versprochen, die 140 Kilometer lange Strecke zwischen dem Andendorf Sibambe und dem Küstenkanton Yaguachi innerhalb von drei Jahren fertigzustellen. Doch das Projekt verzögerte sich und Moreno wurde 1875 ermordet, noch bevor die Strecke fertiggestellt werden konnte.
Unter Präsident Eloy Alfaro (1895 bis 1901 und 1906 bis 1911) wurde die wichtigste Strecke des Schienennetzes zwischen Quito und Guayaquil gebaut. Deswegen sprach Rafael Correa auch von „Alfaros Zug“. Alfaro hatte die Eisenbahn zum Hauptanliegen seiner Politik erkoren. Teil jener Strecke ist auch das kurze Stück zwischen Alausí und Sibambe im Andenhochland, die wohl bekannteste Teilstrecke Ecuadors, die um die sogenannte Teufelsnase („Naríz del Diablo“) herumführt. Dabei handelt es sich um einen mehrere hundert Meter hohen Bergvorsprung. Die Eisenbahn tuckert dort im Zickzack die steile Bergwand entlang. Einer der Mythen hinter dem Namen „Teufelsnase“ besagt, dass Alfaro einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte, um die Strecke bauen zu können. Der Bau der Schienen am Berg war äußerst herausfordernd und gefährlich. Um die Schienen um die Teufelsnase herumzuführen, mussten Teile des Berges weggesprengt werden. Alfaro hatte für die Arbeiten 4000 jamaikanische Gastarbeiter angeworben. Die Sprengungen, weitere Gefahren sowie Krankheiten bedeuteten für Hunderte von ihnen den Tod. Diese Eisenbahnstrecke galt damals als die schwierigste der Welt, alle sprachen vom „tren más difícil del mundo“. Die feierliche Einweihung fand 1908 zu Alfaros Geburtstag statt.
In den folgenden Jahrzehnten wurde das Schienennetz um einige Strecken erweitert. Im 20. Jahrhundert war die Eisenbahn für den Transport von Gütern und Arbeitskräften unerlässlich. Die Instandhaltung war jedoch schon von Anfang an sehr teuer. Wiederholte Wetterschäden wurden nur notdürftig behoben. Die Schäden, die El Niño im Jahr 1998 anrichtete, hatten letztendlich zur Folge, dass ein Großteil des Schienennetzes jahrelang ausfiel. Rafael Correa machte es sich dann in seiner ersten Amtszeit zur Aufgabe, es wieder vollständig in Betrieb zu nehmen. Allerdings hatte sich jetzt der Schwerpunkt verschoben: Der Zug war nun ausländischen Tourist*innen vorbehalten, statt als Transportmittel für ecuadorianische Bürger*innen und Waren zu dienen.
Elitär statt inklusiv
Finanziell rentabel war die Eisenbahn kaum, nicht zuletzt wegen der häufigen Ausfälle von Teilstrecken durch Klimaschäden. Zwischen 2010 und 2020 flossen der Tageszeitung El Comercio zufolge 498 Millionen US-Dollar in die Reaktivierung und Instandhaltung des Schienennetzes. Die Investitionskosten standen in keinem Verhältnis zu den Einnahmen. Schließlich war die Bahn als Transportmittel im Vergleich zu den günstigeren Bussystemen kaum wettbewerbsfähig. Stattdessen wurde die Eisenbahn nun vorwiegend als Prestigeobjekt für touristische Zwecke genutzt. Kurze, spektakuläre Fahrten, etwa die beliebte Umrundung der Teufelsnase, kosteten 20 US-Dollar oder mehr pro Person. Dem SPIEGEL zufolge handelte es sich bei rund 90 Prozent der Passagier*innen um ausländische Tourist*innen. Dass sie auch die Hauptzielgruppe waren, lässt das angebotene Kulturprogramm vermuten. Ein ehemaliger deutscher Freiwilliger berichtet von einem Zwischenstopp auf der Fahrt zur Teufelsnase. Dort führten die Bewohner*innen einer Kichwa-Gemeinschaft einen Tanz für die Tourist*innen auf. Derartige Zwischenstopps tauchen in vielen Berichten auf. Der Tren Crucero, das „Luxusprodukt“ des ecuadorianischen Eisenbahnverkehrs, hielt üblicherweise in einer Shuar-Gemeinschaft. Die staunenden Tourist*innen wurden mit einer Zeremonie begrüßt, die darüber entschied, ob sie Freund oder Feind waren. Am Schluss waren sie aber immer willkommen. So ein Glück. Oder sollte man sagen: Exotisierung vom Feinsten? Die mehrtägige Fahrt im Tren Crucero war für den Großteil der ecuadorianischen Bevölkerung unbezahlbar. Nur die bestverdienenden Ecuadorianer*innen oder ausländische Tourist*innen konnten sich die Tickets für 1000 US-Dollar aufwärts leisten. Ein ehemaliger Lokführer beklagt in einer 3Sat-Dokumentation, dass die Züge nicht mehr ihren Zweck erfüllten. Nicht nur die hohen Preise würden die einheimische Bevölkerung von der Fahrt mit den Zügen abhalten, sondern auch das Gefühl, an Bord nicht wirklich erwünscht zu sein.
Der Luxuszug Tren Crucero war nur die Spitze des Eisbergs eines elitären und sozial nicht nachhaltigen Eisenbahnsystems. Darüber können auch die von Correa gepriesenen kostenlosen Reisen für Abiturient*innen nicht hinwegtäuschen. Cristian Ashanga war einer dieser Schüler*innen. Als einer der besten seines Abschlussjahrgangs bekam er 2017 eine Zugreise geschenkt. Bis zu dem Zeitpunkt hatte er nicht gewusst, dass es überhaupt Züge in Ecuador gab. Seine Heimatprovinz Napo liegt im Amazonastiefland, weit ab von den Eisenbahnstrecken, die vor allem Großstädte im Hochland und an der Küste miteinander verbinden. Er konnte zwischen zwei Strecken auswählen. Dabei ließ sich Cristian von einem deutschen Freiwilligen beraten, der zu der Zeit in seiner Familie lebte. Der hatte sich schon ausführlicher mit dem touristischen Angebot Ecuadors vertraut gemacht. Cristian entschied sich für die Fahrt zur Teufelsnase. „Das war eine aufregende und einmalige Erfahrung für mich. Die Landschaft war wunderschön und ich fand es toll, die anderen Schüler*innen kennenzulernen.“ Aber: „Man hatte schon den Eindruck, dass die Reise eher für Tourist*innen ausgelegt war. Wir haben immer wieder angehalten und bekamen typisches Essen oder traditionelle Aufführungen präsentiert. Das meiste davon kannte ich.“
Tuckert der Zug bald wieder?
Zu Beginn der Coronapandemie wurde das Schienennetz unter Präsident Lenín Moreno (2017 bis 2021) erneut außer Betrieb genommen. Fast fünf Jahre lang fuhren nun keine Züge mehr durch Ecuador. 2024 wurden die ersten Strecken wieder in Betrieb genommen. Um das gesamte Schienennetz zu reaktivieren, wird mit satten 2,5 Milliarden US-Dollar für die nötigen Investitionen gerechnet. Trotz der teils schwierigen Vergangenheit der ecuadorianischen Eisenbahn freuen sich viele Ecuadorianer*innen auf die Wiederinbetriebnahme. Vor allem die ältere Bevölkerung, die noch die Zeiten vor den Zerstörungen von 1998 miterlebt hat, sieht die Eisenbahn als Teil ihrer kulturellen Identität. Sie wollen die Erinnerungen, die sie damit verbinden, an die folgenden Generationen weitergeben. Besonders in Alausí, wo die Züge zur Teufelsnase starten, gibt es mehrere Initiativen, die eine langfristige Reaktivierung des Eisenbahnverkehrs fordern. Pünktlich zum Unabhängigkeitstag Alausís, dem 13. November, wurde die Strecke erneut eingeweiht. Allerdings prangern die Bewohner*innen Alausís die falschen Versprechungen der Regierung an. Wie die langfristige Perspektive für die Zugstrecke aussieht, weiß niemand. Die Reaktivierung am 13. November 2024 wirkt auf sie eher wie ein symbolischer Akt, angesichts des herrschenden Wahlkampfs fühlen sie sich „verspottet“. Alausí ist abhängig vom Eisenbahntourismus. Vor 2020 begrüßte das Dorf jährlich um die 60 000 Tourist*innen. Mit dem Schienennetz brach somit auch die wichtigste Einnahmequelle Alausís weg. Viele Hotels und Restaurants mussten schließen oder Personal entlassen. Kein Wunder also, dass die Bewohner*innen nachhaltige Lösungen von der Regierung verlangen. Vereinzelte Stimmen stehen der geplanten Reaktivierung kritischer gegenüber oder fordern zumindest einige Veränderungen im Vergleich zum elitären, sozial wenig nachhaltigen Zugverkehr der 2010er-Jahre. Félix Jaramillo Valle schrieb 2021 in El Universo: „Es muss ein Zug für alle sein, nicht nur ein exklusiver Luxus für die Reichsten oder für Ausländer*innen mit Geld. Deswegen müssen die Transportkosten günstig sein.“ Die Vorstellung, wieder Eisenbahnen durchs Land tuckern zu sehen, scheint den meisten zu gefallen. Doch noch besser wäre es, wenn alle mitfahren könnten, statt nur den vorbeifahrenden Zügen zuzuwinken.
Die Autorin ist Studentin der Lateinamerika- und Altamerikastudien an der Uni Bonn und ist seit 2019 regelmäßig in Ecuador.