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Rettung Bolivien

Manfred Eisners Erinnerungen „Verhasst-geliebtes Deutschland“ über die Flucht seiner Familie vor den Nazis
Barbara Eisenbürger

„Wer erzählt, zählt auf: was er erlebt hat oder was er glaubt, erlebt zu haben. Er verrät uns, was er zu erleben hofft und was er befürchtet, erleben zu müssen.“ Dieses Motto von Marcel Reich-Ranicki stellt der 1935 in München geborene Manfred Eisner seinem Buch „Verhasst-geliebtes Deutschland“ voran. Und tatsächlich handelt es sich bei der Chronik um ein sehr persönliches Buch, in dem der Verfasser sein Schicksal und das seiner Familie über mehr als 100 Jahre beschreibt. Schon der Titel und die Unterzeile „Chronik einer deutschen jüdischen Familie“ deuten an, dass die darin enthaltenen Schilderungen sowohl historisch als auch aktuell eine besondere Relevanz besitzen. Der Bogen reicht vom Leben der Eisners zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem wachsenden Terror des NS-Regimes, ihrer Flucht nach Bolivien, den dortigen Lebensumständen für jüdische Immigrant*innen bis zu den Erfahrungen in Deutschland nach Manfred Eisners Rückkehr im Jahr 1957. (Siehe auch das Lebenswege-Interview mit Manfred Eisner in der ila 392)

In seiner Einleitung beschäftigt sich der Autor mit dem Heimatbegriff und seiner Bedeutung für ihn persönlich. Eindrücklich beschreibt er die Zerrissenheit seiner eigenen Situation, dass die „allgemeine Auffassung des Heimatbegriffs von wüsten und finsteren, von irrem Rassenwahn besessenen Kräften für mich wirr zunichtegemacht und zerstört wurde“ (S. 19). Und „dennoch“, schreibt er, „harre ich unbeirrt an diesem meinem Heimatland fest! Wahrscheinlich beseelt mich der Gedanke: Jetzt erst recht! Nicht noch einmal werde ich eurem blanken Hass und drohender Gewalt weichen!“

Die Familie seines 1897 in Prag geborenen Vaters Erich war 1898 nach München umgesiedelt. Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs war Erich Eisner 17 Jahre alt und erfüllt von Patriotismus. Wie viele junge Männer meldete er sich freiwillig zum Militärdienst. Bis 1918 war er Soldat, zunächst in der deutschen, später in der österreichischen Armee. Am 26. April 1920 wurde ihm als Dank dafür die deutsche Staatsbürgerschaft erteilt. Doch schon wenige Jahre später sollten die Tapferkeit und der Einsatz eines jüdischen Soldaten wertlos werden, denn viele derjenigen, die im Krieg gekämpft und ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, waren nach Kriegsende antisemitischen Diffamierungen ausgesetzt.

In den Jahren nach 1918 widmete sich Erich Eisner intensiv seinem Musikstudium und der beginnenden Karriere als Dirigent und Kapellmeister. Diese wurde jedoch aufgrund seiner jüdischen Herkunft immer wieder durch derbe Demütigungen und Rückschläge gebremst. Das im September 1933 erlassene Reichskulturkammergesetz machte dann jede Betätigung von Juden und Jüdinnen in nichtjüdischen Kultureinrichtungen unmöglich, was einem Berufsverbot gleichkam.

Vom KZ Dachau nach Sucre

Schon vor dem 9. November 1938 war die Ausschaltung der Juden und Jüdinnen aus dem öffentlichen Leben weit vorangeschritten, doch das Novemberpogrom markierte eine neue Qualität der Verfolgung. Zehntausende jüdische Männer wurden verhaftet und in Konzentrationslager deportiert, um die Auswanderung ihrer Familien zu erzwingen. Auch Erich Eisner wurde am 10. November 1938 festgenommen und ins KZ Dachau gebracht, aus dem er nach einigen Wochen mit der Auflage, umgehend aus Deutschland auszureisen, entlassen wurde. Dank eines gültigen Visums für Großbritannien konnte er relativ schnell dorthin emigrieren. Mitte 1939 erhielt er in London ein Einreisevisum für Bolivien, dem neben Ecuador einzigen südamerikanischen Land, das jüdischen Antragsteller*innen zu dieser Zeit noch Visa erteilte. Nach einigen Schwierigkeiten und Verzögerungen gelang im April 1940 auch seiner Frau Elsa Eisner zusammen mit dem vierjährigen Sohn Manfred die Ausreise nach Bolivien.

Anschaulich beschreibt Manfred Eisner, wie er als Kind die Flucht erlebt hat. Für viele Flüchtende bedeutete die Vorbereitung der Ausreise und das Verlassen Deutschlands die Loslösung von Vielem, das in ihrem bisherigen Leben von Bedeutung gewesen war. Abgeschnitten von Heimat, Familie und Freund*innen waren der Übergang in ein neues Leben, der Aufbau einer neuen Existenz in einer völlig ungewohnten Umgebung, die Anpassung an eine andere Kultur und Sprache und die veränderten klimatischen Bedingungen eine enorme Herausforderung: „Welch gewaltigen Kulturschock muss die zwanghafte Umsiedlung von Deutschland nach Bolivien bei meinen Eltern verursacht haben – besonders für den Musiker Erich Eisner! Die willkürliche und brutale Demontage seiner Dirigentenkarriere durch die Nationalsozialisten war die schmerzhafteste Zäsur seines Lebens gewesen.“ (S. 77)

Die Fluchterfahrungen kleiner Kinder unterscheiden sich häufig sehr von denen der Erwachsenen. Zwar müssen auch sie Verlusterfahrungen erleiden, verkraften die Emigration oft jedoch leichter, weil sie sich der unsicheren Lebens- und Zukunftsperspektiven noch nicht bewusst sind und die Entdeckung der neuen und ungewohnten Lebensbedingungen als spannende Abenteuer empfinden.

Nach den anfänglichen Sorgen der Eltern, eine für die musikalische Qualifikation seines Vaters angemessene Anstellung zu finden, wurde man allmählich in den kulturellen Kreisen von La Paz auf das Renommee Erich Eisners als Musiker aufmerksam. Das führte zunächst zu gelegentlichen Anstellungen als Pianist und einigen Auftritten in Kultursendungen des Staatssenders Illimani. Von den bescheidenen Honoraren konnte die Familie jedoch nicht leben. Das war erst möglich, als Erich Eisner eine Stelle als Musiklehrer an der Pädagogischen Hochschule „Escuela Nacional de Maestros“ in Sucre erhielt. Für Manfred und seine Mutter Elsa bedeutete das einen Umzug von La Paz nach Sucre. Neben seiner Lehrtätigkeit gründete Erich Eisner in Sucre einen großen Chor aus Dozenten und Studierenden, der bald auch in anderen bolivianischen Städten gastierte. 1944 wurde Erich Eisner an das staatliche Konservatorium in La Paz berufen, wo er 1945 das Orquesta Sinfónica Nacional gründete, das er bis zu seinem Tod am 2. März 1956 leitete. Neben dem klassischen (europäischen) Repertoire war es ihm ein besonderes Anliegen, sich für die Verbreitung und Aufwertung der „bolivianischen Ur-Folklore“ einzusetzen (S. 111). Dafür wurde das Orquesta Típica Municipal gegründet, das sich vorrangig den indigenen Musiktraditionen widmete.

Der Familie Eisner gelang es in Bolivien, an den unterschiedlichen Wohnorten viele Freundschaften mit anderen Immigrant*innen, aber auch mit Bolivianer*innen zu schließen. Kunst und besonders Musik waren wichtige Bindeglieder. Oft traf man sich an den Abenden, um gemeinsam musikalischen Aufführungen zu lauschen.

Eisner verknüpft kindliche Erinnerungen mit intensiver Recherche

Manfred Eisner beschreibt in seiner Autobiographie aus der Perspektive des Kindes und des Heranwachsenden seine Erinnerungen an die neuen Bedingungen. So schildert er die häufigen Orts- und Wohnungswechsel, erzählt von schulischen Erlebnissen und Freundschaften sowie den Ferienaufenthalten in der unweit von La Paz gelegenen subtropischen Talregion der Yungas, wo sein Nennonkel Semi Herrmann mit jüdischen Immigrant*innen ein landwirtschaftliches Mustergut aufgebaut hatte.

Weiter beschreibt Manfred Eisner die kulturelle Vielfalt in den verschiedenen Regionen Boliviens, erläutert gesellschaftliche Gegebenheiten, dokumentiert politische Umbrüche und ihre Konsequenzen. Untermauert werden diese Erinnerungen durch intensive Recherche und zahlreiche Fotografien aus jener Zeit, mit denen uns der Autor Einblicke in das Leben in Bolivien und besonders das der jüdischer Immigrant*innen gewährt.

Mit 19 Jahren verließ Manfred Eisner 1954 Bolivien, um in Uruguay Veterinärmedizin zu studieren. Da er dort wenig berufliche Perspektiven sah – die vergleichsweise wenigen Arbeitsmöglichkeiten für Tierärzte waren den Sprösslingen der großen Rinderzüchter vorbehalten –, reiste Manfred Eisner 1957 nach Deutschland, wohin seine Mutter nach dem Tod des Vaters 1956 zurückgekehrt war. Was zunächst nur als dreimonatiger Besuch geplant war, führte schließlich zu der Entscheidung, im Wintersemester 1957 ein Studium der Lebensmitteltechnologie an der Lehr- und Forschungsanstalt für Gartenbau in Berlin-Dahlem zu beginnen. Mit diesem Studium begann eine erfolgreiche Karriere im Bereich der Konservierung von Lebensmitteln, die bis 1998 als Angestellter und bis 2009 als freiberuflicher Industrieberater andauerte. Aufgrund seiner Fachexpertise und Bekanntheit war er weltweit unterwegs, hielt Vorträge und schrieb neben einem in mehrere Sprachen übersetzten Fachbuch auch zahlreiche Artikel.

Während dieser Zeit des beruflichen Aufstiegs und der Erweiterung seiner fachlichen Kompetenzen lernte er seine zukünftige Ehefrau Anke kennen. Im Jahr 1981 bezogen die beiden eine reetgedeckte Kate am Brokdorfer Elbdeich, die sie zuvor mit einer dem Alter des Gebäudes und der Umgebung angemessenen Sorgfalt renoviert hatten und wo sie seit vielen Jahren einen stabilen Lebensort gefunden haben.

Im letzten Teil kommt Manfred Eisner noch einmal auf den Heimatbegriff zurück, den er in der Einleitung behandelt hatte. Seine Rückkehr nach Deutschland sei alles andere als einfach gewesen. Damals habe er überhaupt keine Heimatgefühle empfunden, vielmehr seien seine Gefühle von Unsicherheit und einem Misstrauen besonders älteren Deutschen gegenüber geprägt gewesen. „Wie sollte ich nun jenen Barbaren begegnen und vor allem – wie konnte ich hier die Schuldigen von den Unschuldigen unterscheiden? Dieses Dilemma begleitete mich während meiner ersten Deutschlandjahre beständig.“ (S. 182) Erst durch die fordernde Haltung der jungen Menschen der 68er-Bewegung gegenüber der Generation ihrer Eltern und mit der Ausstrahlung des mehrteiligen US-amerikanischen Spielfilms Holocaust begannen viele Deutsche, sich damit auseinanderzusetzen, was mit den Juden und Jüdinnen während der Zeit des Nationalsozialismus geschehen war.

Ergänzt wird die Chronik durch ein Vorwort von Gert Eisenbürger, in dem er die offene bolivianische Ein­wanderungspolitik der Jahre 1938-41 skizziert, die Tausenden jüdischer Flüchtlinge aus Europa das Leben rettete, sowie von einem ausführlichen Anmerkungsapparat und einem Anhang mit Quellen-, Literatur- und Abbildungsverzeichnis.

Neben der Fülle an Schilderungen, Fakten und historischen Erläuterungen ist besonders erwähnenswert, auf welche Weise sich Manfred Eisner mit den tiefgreifenden Auf- und Umbrüchen in seinem Leben auseinandergesetzt hat. Sein offenes Interesse, seine geistreichen Überlegungen und besonders seine respektvollen und häufig warmherzigen Erläuterungen machen dieses Buch zu einer wertvollen Lektüre.