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Jetzt aber (doch nicht)

Kommentar: Pro oder Contra – beim EU-Mercosur-Abkommen geht es beiden Seiten um Profit

Heute soll wohl nach 25 Jahren das Mercosur-Abkommen unterzeichnet werden. Trotz des Widerstands von Frankreich und Polen sowie von zahlreichen sozialen Organisationen und Bewegungsakteur*innen. Die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen befindet sich dafür gerade in Montevideo. Gaby Küppers verfolgt das Ringen um das Mercosur-Abkommen seit der ersten Stunde. Sie sagt: Ob den großen Befürwortern oder den großen Gegnern - letztlich geht es allen um Profit. Umwelt- und Menschenrechte? Zweitrangig.

Stand des Kommentars: 1. Dezember 2024

Gaby Küppers

Der Wahlsieg Donald Trumps in den USA ist in jeder Hinsicht eine Katastrophe. In fast jeder. Denn die Lobby des Unternehmertums in Europa witterte Morgenluft und verkündete eilig ihr Rezept gegen den Niedergang der Welt: Das EU-Mercosur-Abkommen müsse so schnell wie möglich unter Dach und Fach. Sonst sei der freie Welthandel in Gefahr. Nach 25 Jahren Verhandlungen sei es höchste Zeit. Schließlich gehe es um die Versorgung von mehr als 700 Millionen Konsument*innen. Die Argumentation der Freihandelsverfechter*innen wurde 2017 schon einmal bemüht. Beim Regierungswechsel von Obama zu Trump hatte ihr Vorwand nicht gefruchtet. Doch heute verlaufen die Frontlinien anders.

Sprichwörter bilden Erfahrungen ab. Das spanische „Jedes Unglück hat seine gute Seite“ („No hay mal que por bien no venga“) umreißt wohl perfekt die Situation, in der die EU-Kommission jetzt steckt. Nach 25 Jahren könnte das Abkommen zwischen der EU und dem südamerikanischen Staatenbündnis Mercosur jetzt doch unterzeichnet werden. Gerade wiedergewählt, führte 2023 im Mercosur der brasilianische Präsident Lula den Widerstand an. Seine zentralen Anliegen: Das Kapitel „Öffentliches Auftragswesen“ sollte verändert werden, um die einheimischen Gesundheitsinstitutionen zu schützen, die eigene Autoindustrie sollte vor Konkurrenz geschützt werden und es sollte keine Handelssanktionen aus Umweltgründen geben. Genau solch ein Kapitel aber schob die EU-Kommission nach. Sie wollte damit den Vorwurf kontern, die Abholzung des Regenwaldes zu befeuern.

Die EU-Entwaldungsverordnung von 2023, die am 1. Januar 2025 in Kraft treten sollte, zielte darauf, den Import von Produkten aus gerodeten Flächen zu verbieten. Das brach den Protest vieler Regierungen des Südens vom Zaun, vorneweg die des Mercosur. Sie rannten offene Türen ein, denn auch ein Großteil der europäischen Industrie stemmt sich seit Jahren gegen die Kontrolle ihrer Importe. Ihr Argument: zu viel Bürokratie. Die Kommission knickte ein. Um ein Jahr ist das Inkrafttreten der Verordnung bereits verschoben. Derzeit bastelt die Fraktion der europäischen Volksparteien EVP (darin die deutsche CDU) mit Änderungsanträgen daran, das Abkommen ganz zu Fall zu bringen.

Bedenken kommen aus Frankreich, Österreich, Irland und Polen

In Europa lehnten verschiedene Parlamente, namentlich in Österreich und den Niederlanden, das EU-Mercosur-Abkommen ab. Als Galionsfigur gegen das Abkommen galt bis zuletzt Präsident Macron in Frankreich. Damit stellte er sich vor die französische Agrarlobby, die billige Fleisch- und Wurstimporte aus dem Mercosur fürchtet. Die europaweiten Bauernproteste Anfang 2024 gaben Macron Rückenwind und verstärkten die Stimmen gegen das Abkommen. In Deutschland forderte die Ampel zwar den „überfälligen Abschluss“ des Abkommens, um die Exportindustrie zu hofieren. Die Wahlen zum Europäischen Parlament sowie in verschiedenen Mitgliedsländern der EU in diesem Jahr bremsten jedoch die laut EU-Kommission angeblich letzten Meter der Verhandlungen. Seitdem der Rechtsruck in Europa amtlich ist, drücken die EU-Mitglieder wieder stärker aufs Tempo (so auch in einem gemeinsamen Brief von elf Mitgliedsländern.1 Es spielt offensichtlich keine Rolle, dass nationale/nationalistische Rhetorik und Freihandel ein seltsames Paar abgeben. Einige Monate sah es so aus, als verkrümele sich der Widerstand aus Paris nach Macrons Wahlschlappe im Juni 2024 und als vergäßen die neuen Regierungen in den Niederlanden und Österreich die ablehnenden Positionen ihrer Parlamente. Doch nun schickt Frankreichs Präsident Macron (Mr. Links-Blinken-Rechts-Abbiegen) ausgerechnet seinen rechten Premier Barnier auf Europatour, um Stimmen gegen das Abkommen zu sammeln. Polen hat sich als erstes Land in die auf Frankreich, Österreich und Irland zusammengeschnurrte Bedenkenträgergruppe eingereiht. Der Grund: Die Bauernproteste entflammen erneut. Traktoren tauchen dieser Tage in Brüssel, Paris und Warschau auf.

Brasilien ist bereit

Seit den Wahlen zum Europaparlament im Juni gab es etliche Videokonferenzen und einige Besuche der potenziellen Abkommenspartner. Die meisten Kapitel seien fertig und abgesegnet, wird verlautbart. Texte bekommt die Öffentlichkeit keine. Nach einem offenkundig wenig inhaltlichen Briefing durch Kommissionsunterhändler Paolo Garzotti im zuständigen EP-Ausschuss INTA am 10. November sprachen Europaabgeordnete von einer Farce. Der designierte Handelskommissar Maroš  Šefčovič versprach, mit PowerPoint, Tabellen und Kalkulator in INTA vorstellig zu werden, wenn es denn so weit sei. Doch wann ist das?

Im Mercosur verkündete Lula am 30. September, er sei bereit zu unterzeichnen. Zum Thema „Öffentliches Auftragswesen“ scheint alles geklärt, zum Schutz vor einer E-Auto-Schwemme aus Europa seien Regelungen getroffen. Es soll Kompensationen geben. Über entsprechende finanzielle Entschädigungen für europäische Agrarproduzent*innen, die die EU-Kommission in den Raum gestellt hatte, wurde in Frankreich gehöhnt.

Auch die vom G20-Gipfel im November auf den Mercosur-Gipfel am 2. bis 4. Dezember verschobene Abkommensunterzeichnung wackelt inzwischen. Schon im November hatte Ursula von der Leyen für diesen Anlass ein Hotelzimmer in Montevideo gebucht. Beim Gipfeltreffen geht die Mercosur-Präsidentschaft von Brasilien auf Argentinien über. Doch dass Argentiniens ultrarechter Präsident Milei internationale Abkommen unterzeichnet, hatte er während seines Wahlkampfs jedenfalls nicht durchblicken lassen.

Die Teilmengen der Gegner*innen und Befürworter*innen des Abkommens haben sich verschoben, doch die Gründe sind geblieben: Wer das Abkommen ablehnt, will die Agrarproduzentenlobby beschwichtigen, wer es befürwortet, erfüllt die Forderungen der Exportwirtschaft. Dass die Interessen von Wirtschaftsführungen in unterschiedlichen Weltregionen, jeweilige Firmenverflechtungen und Entwicklungsstände sich widerstreiten und das Fingerhakeln dauert, ist nachvollziehbar. Dass es allen nur um kurzfristigen Profit geht, ist armselig. Dass Rechte dabei freiwillig aufgegeben werden, ist fatal. Zahllose Analysen von Aktivist*innengruppen bis zu Gewerkschaften lassen Entscheidungsträger*innen offenbar kalt. Was verzweifeln lässt, ist nicht der Wunsch von Unternehmen, ihre Wirtschaftsentscheidungen frei von politischen Vorgaben zu treffen, sondern die Bereitwilligkeit, mit der politische Instanzen die im Laufe des 20. Jahrhunderts errungenen Entscheidungs- und Gestaltungsrechte der Menschen aufgeben. Statt diese zu festigen und auszubauen, geht es zurück. Hoffen wir wenigstens auf die lange Bank.

  • 1. Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Kroatien, Lettland, Luxemburg, Portugal, Spanien, Schweden, Tschechien