Eine freie Frau
Gleich zwei Bände braucht die Germanistin und Hispanistin Hildegard E. Keller, um das Leben der wunderbaren Alfonsina Storni zu erzählen. Alfonsina Storni wurde am 29.05.1892 in Sala Capriasca in der Schweiz geboren, gestorben ist sie am 25.10.1938 in Mar del Plata, Argentinien. „Wach“ und „Frei“ heißen die beiden Bände, die vor ihrer Geburt beginnen (1870) und erst 2024 aufhören. Alfonsina passt eben in kein Korsett, in keine vorgegebenen Daten und in kein Buch. Im zweiten Teil des zweiten Bands erzählt Keller, wie sie auf Alfonsina Storni stieß: wie so viele zunächst über das Lied Alfonsina y el Mar. Es wurde von Ariel Ramírez und Felix Luna komponiert und geschrieben, gesungen zuerst von Mercedes Sosa, später von vielen, vielen anderen. Keller entdeckte die reale Frau hinter dem (irreführenden) Lied. Sie erfuhr, dass Alfonsina wie sie in der Schweiz geboren wurde (diese allerdings mit vier Jahren verließ und nie als Heimat betrachtete). Und diese Frau lässt sie nicht mehr los. Keller reist auf ihren Spuren und forscht über sie, schreibt Artikel, nimmt eine Radiosendung auf, produziert zusammen mit anderen eine Multimediashow, veröffentlicht ein erstes Buch mit ausgewählten Texten (Meine Seele hat kein Geschlecht). Aber sie wollte eine umfassende Biografie über diese außergewöhnliche Frau schreiben. Alfonsina Storni war vieles: ein armes Immigrantenkind, eine Avantgardistin, eine neue Frau, ihr Leben lang eine außergewöhnliche Lyrikerin, Journalistin, Theaterfrau, Lehrerin, öffentliche Rednerin, Rezitatorin, Regisseurin, Feministin, Freidenkerin. Vor allem aber war sie mutig, ließ sich nie unterkriegen, obwohl ihr der Wind sehr oft ins Gesicht blies. Sie war von niemandem abhängig und stolz darauf.
Sie schreibt geradezu selbstentblößend
Da Hildegard E. Keller keinen Verlag für eine Biografie und eine Werkausgabe über ihre Heldin fand, sammelte und übersetzte sie viele Texte von Alfonsina Storni selbst ins Deutsche und veröffentlichte sie in ihrem eigenen Verlag, der Edition Maulhelden. Nicht nur Lyrik, auch die Theaterstücke, die Geschichten, die Essays, die Interviews. Fünf Bände sind es geworden. Erst danach begann sie, die Biografie zu schreiben. Nur die Spitze eines Eisberges sei über Alfonsina bekannt gewesen, gerade im deutschsprachigen Raum ist sie fast unbekannt, während in Argentinien Plätze und Straßen nach ihr benannt sind. Um sie in Europa bekannter zu machen, tourt Keller mit Alfonsinas Texten durch die Städte, pflegt eine Alfonsina-Webseite, verfasst Podcasts über sie – als wollte sie Alfonsina, wie Storni in Argentinien genannt wird, mit ihrer überbordenden Produktivität folgen.
Nun ist die reich bebilderte und sehr gründliche Biografie erschienen. Wir erfahren von der bitteren Armut in der italienischen Schweiz, von Alfonsinas ersten Jahren, dem alkoholkranken Vater, der überforderten Mutter und den vielen Geschwistern. Sie wächst 300 Kilometer nordwestlich von Buenos Aires in Rosario auf. Die Mutter unterrichtet in der kleinen Wohnung, um die Familie durchzubringen, bis sie gekündigt werden. Als der Vater 1906 stirbt, beginnt Alfonsina mit elf Jahren, in einer Hutfabrik zu arbeiten. Sie ist stolz darauf, selber Geld zu verdienen, und wird das ihr Leben lang tun, mit sehr unterschiedlichen Tätigkeiten, die sie aber nie am Schreiben hindern. Denn schreiben tut sie immerzu, sie schreibt im Gehen, in der Mittagspause neben der Rechenmaschine, nachts, in der Bahn, zwischen den Proben. Sie schreibt sehr ehrlich, geradezu selbstentblößend, zugleich bissig, scharfsinnig und immer mit ungewöhnlichen und überraschenden Wendungen, Bildern, Gedanken, in ihren journalistischen Texten und Theaterstücken ebenso wie in ihren Gedichten.
Alfonsinas Leben ist selbst wie ein Roman – oder wie soll man es nennen, dass sie mit 16 mit einer bekannten Wandertheatergruppe auf Tournee geht, die Tournee abbricht, wohl weil sie sexuellen Belästigungen ausgesetzt war. Über das, was ihr zustößt, über Schwierigkeiten und Anfeindungen sagt sie wenig. Sie macht eine Lehrerinnenausbildung in Santa Fe, quält sich nächtelang, um trotz fehlender Schulbildung die Aufnahmeprüfung zu bestehen. 1910 bekommt sie ihr Diplom, da ist sie 18. Sie beginnt zu arbeiten und nimmt begeistert im selben Jahr am Dritten Nationalkongress der Freidenker*innen in Santa Fe teil. Dort schließt sie Freundschaften fürs Leben, zum Beispiel mit María Abella de Ramírez, die die erste feministische Zeitung Argentiniens Nosotras gründet. 1911 wird sie schwanger, kündigt und geht 1912 nach Buenos Aires, damals die größte Stadt Lateinamerikas und eine pulsierende Metropole, um dort ihr Kind zu bekommen. Dort gibt es Freidenkerinnen und Feministinnen, die ihre Überzeugungen teilen. Über den Vater ihres Kindes schweigt sie, ihr Privatleben hütet sie.
Bis zu ihrem frühen Ende wird Buenos Aires ihr Lebensmittelpunkt bleiben. Dort zieht sie ihren Sohn Alejandro alleine groß, arbeitet bis zum Umfallen, um beide durchzubringen und zu schreiben. Alfonsina arbeitet als Hauslehrerin, in einer Apotheke, einem Blumengeschäft, als Büroangestellte, als Werbetexterin. Und sie beginnt Gedichte und Kurzprosa zu veröffentlichen, manchmal auf eigene Kosten. Sie bewegt sich in anarchistischen und spiritistischen Kreisen, wenn sie nicht arbeitet oder schreibt. Wilde Texte, die als skandalös gelten. Alleinerziehende Mutter, Schriftstellerin, rotzfrech und selbstbewusst – von niemanden abhängig. Sie trifft sich mit Schriftstellern, Journalisten, Intellektuellen. Oft ist sie die einzige Frau in diesen Runden. Nachdem ihr Landlehrerinnendiplom endlich anerkannt wird, arbeitet sie als Lehrerin an verschiedenen Schulen, oft fährt sie dafür kreuz und quer durch die Stadt. Sie unterrichtet auch Rezitation und produziert Kindertheaterstücke. Alfonsina wird journalistisch tätig, schreibt Kolumnen, Serienromane unter dem Pseudonym Tao Lao, bringt einen Gedichtband nach dem anderen heraus. 1920 gewinnt sie gleich zwei gut dotierte Lyrikpreise. Endlich kann sie zur Erholung ans Meer fahren, denn sie beginnt, die Erschöpfung zu spüren.
Alfonsina wird bekannt und berühmt in Lateinamerika und Spanien. Mit ihrem Preisgeld reist sie 1930 nach Europa. Doch sie wird auch angefeindet. Einem passt ihr Ruhm gar nicht: Jorge Luis Borges äußert sich immer wieder beleidigend und herablassend über sie, als Person und als Autorin. Wie die Geschichte weitergeht, warum die chilenische Nobelpreisträgerin Gabriela Mistral sie ihre siamesische Schwester nannte, mit wem sie befreundet war, wie ihre genialen Theaterstücke sabotiert wurden und warum sie sich mit 46 Jahren in Mar del Plata ins Meer stürzte, das alles müsst ihr selber lesen. Lest ihre Biografie, hört die Radiosendungen, schaut die Filme über sie, lest ihre Gedichte und Geschichten: Eine mutige, freie Frau werdet ihr kennenlernen, eine unkonventionelle Frau, die trotz aller Anfeindungen und Zurücksetzungen nie aufgibt und bis heute etwas zu sagen hat.
Selbstbestimmt bis in den Tod
Ihren Freitod bereitete sie sehr gründlich vor, weihte aber nur ihren Sohn ein. Sie konnte nach einer schweren Krebserkrankung einige Jahre zuvor kaum noch arbeiten, die Schmerzen wurden unerträglich. Da entscheidet sie sich, lieber zu sterben, als abhängig zu werden. Vorher veröffentlicht sie ihren letzten Gedichtband „Maske und Kleeblatt“ und schickt ihn an ihre Freund*innen und Bekannten. Dann fährt sie alleine ans Meer. Von dort sendet sie noch ein letztes Gedicht an die Zeitung La Nación, für die sie damals schreibt, die es prompt abdruckt. Voy a dormir. Ich gehe schlafen.