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Ein Fluchttunnel im Supermarkt

Der Kriminalroman „Der Ursula-Effekt“ von Mercedes Rosende aus Uruguay
Gaby Küppers

Die Gruppe „Aspirin“ hatte lange an dem Plan getüftelt. Am 6. September 1971 gelang 106 inhaftierten Mitgliedern der Guerillagruppe Tupamaros und fünf nichtpolitischen Gefangenen die Flucht aus dem Gefängnis Punta Carretas in Montevideo. Vom Kellergeschoss aus hatten sie einen Tunnel in ein Privathaus auf der anderen Straßenseite gegraben, ohne dass die Tonnen an Schutt irgendwem auffielen. Mitwisser draußen hatten vorgesorgt, dass sich gut 100 Männer aus dem Haus gegenüber schnell und unbemerkt aus dem wortwörtlichen Staub machen konnten. Das Kunststück gelang. Über 50 Jahre ist diese spektakuläre Massenflucht her. Immer noch lebt sie im Kollektivgedächtnis der Uruguayer*innen. „Der Ursula-Effekt“, ein abgedrehter Krimi der uruguayischen Schriftstellerin Mercedes Rosende (geboren 1958), sorgt dafür, dass das so bleibt. Gar nicht so nebenbei greift die Autorin die infame Umnutzung des Gefängnisses zum Einkaufszentrum „Punta Carretas“ seit 1994 auf. Der einst gegrabene Fluchttunnel der Tupamaros, vom Management des Supermarktes unbenutzt und vergessen, kommt erneut zum Einsatz. Mehr wird nicht verraten.

Man kann diesen erneuten Einsatz auch nicht sofort verstehen, sogar obwohl das vorige Kapitel eigentlich alles offenlegt. Denn ein Krimi, der auf sich hält, beginnt mit Rätseln. So stolpern zwei Gestalten, eine mit Pistole, durch die Dunkelheit, offenbar ein Tunnel, und man begreift nicht einmal, ob es sich um eine Täterin und ein Opfer handelt oder um zwei Opfer, die fliehen. Das folgende Kapitel, mit dem der eigentliche Hauptteil des Romans beginnt, besteht aus einer Rückblende. Aber durch diese Vorgeschichte wird es eher noch kurioser. Wir treffen nach und nach alte Rosende-Krimi-Bekannte: die übergewichtige und schlaue Ursula mit ihrem Vaterkomplex, ihre schlanke und arrivierte Schwester Luz, einen ängstlichen Gelegenheitsgangster, einen Großkotzgangster, einen mafiösen Rechtsanwalt, eine Detektivin und eine Kriminalkommissarin. Wer sagt, das entspreche aber gar nicht der üblichen Rollenverteilung, hat Recht. Das war schon bei den bislang übersetzten Romanen Mercedes Rosendes, „Die falsche Ursula“ und „Krokodilstränen“, so. Überhaupt tauchen nicht nur dieselben Personen aus den vorherigen Romanen auf, sondern auch Handlungsstränge, im Kriminalroman also Verbrechensszenarien. Wieder versuchen die gleichen Personen in einem ruhigen Viertel der uruguayischen Hauptstadt Montevideo einen Geldtransporter zu sprengen. Und wieder geht alles schief. Dann aber wird es anders. Ursula wird sich zwar das aus dem zerstörten Tresorauto auftauchende Geld unter den Nagel reißen. Aber es landet erst einmal gut versteckt, und alle wollen es haben: Die Verbrecher meinen, sie hätten es ja schließlich erbeutet, die Detektivin observiert und die Kriminalkommissarin spürt auf, bis dass die beiden letzteren die Passion füreinander entdecken und ein Liebespaar werden. Dass Frauen dabei nicht aus dem Rennen um die Wahrheit ausscheiden und sich ins Privatleben zurückziehen, sondern zur Lösung des Falles beitragen, liest man nicht oft. Die Autorin bringt die Rollenklischees zum Tanzen.

Der Countdown findet im Punta Carretas Shopping statt und wird ganz schön spannend. Ursula lockt die Gangster ins Punta Carretas-Einkaufszentrum. Und aus dem Countdown wird ein veritabler Showdown.

Ein Frauenkrimi? Kommt darauf an, was man darunter versteht. Auf jeden Fall sind in dem Roman die Koordinaten eindeutig in Richtung weiblicher Handlungsermächtigung gerückt. Dass Ursula manchmal im Ich spricht, während andere Kapitel eine objektive Erzählinstanz beschreiben lassen, ist nur ein augenzwinkernder literarischer Hinweis darauf. Dass die Männer mit Ausnahme des hilfreichen Wachmanns im Einkaufszentrum alle gelinde gesagt unfähig sind, verdeutlicht den Sexismus in der herkömmlichen Krimikonfiguration.

Mercedes Rosende ist von Hause aus Juristin. In Uruguay erhielt sie 2004 den Literaturnationalpreis, beim Krimi-Festival in Gijón (Spanien) wurde sie 2014 geehrt, und 2019 bekam sie in Deutschland den LiBeraturpreis für „Krokodilstränen“ (Rezension siehe ila 420). Angesichts ihrer recht regelmäßigen Literaturproduktion könnte es sein, dass es demnächst wieder Tränen zu lachen gibt bei einer neuen Episode von Ursula. Oder über andere Protagonist*innen. Sicher wieder welche, die Klischees partout nicht erfüllen.