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Don Quijote in Italien

Gian Marco Griffis Roman „Die Eisenbahnen Mexikos“
Gert Eisenbürger

Wer Details über Mexiko und seine Eisenbahnen erfahren möchte, wird in dem fast 800 Seiten dicken Roman des italienischen Autors Gian Marco Griffi wenig finden. Wer hingegen Interesse hat für das Wesen von Diktaturen und der Menschen, die sie tragen, kann auf eine anregende und unterhaltsame Lektüre hoffen.

Erzählt wird von Cesco Magetti, genauer gesagt, von dessen erfolglosen Versuchen, das zu tun, was ihm aufgetragen wurde. Es ist Februar 1944. Magetti ist Soldat der „Republikanischen Nationalgarde der Eisenbahnen“, einer Einheit der italienischen Armee, die Bahnhöfe und Gleisanlagen im Piemont vor Angriffen von Partisanen schützen soll.

Schon unter der Herrschaft Mussolinis geboren, ist der 21-jährige Magetti dem Duce (Führer) und der faschistischen Partei treu ergeben. Allerdings ist deren Regierung 1944 nur noch eine Farce. Ab 1922 hatte Mussolini in Italien eine Diktatur errichtet, die sich auf eine gut organisierte faschistische Massenbewegung und ein Bündnis mit den Royalisten und der katholischen Kirche stützte. Doch seit Ende der 1930er-Jahre gab es immer größere Risse im Machtgefüge und massive Vorbehalte gegen Mussolinis enge Allianz mit Nazideutschland und den Eintritt Italiens in den Zweiten Weltkrieg. Nach der Landung der Alliierten in Sizilien am 9./10. Juli 1943 traten die Widersprüche offen zutage. Während der Widerstand linker Partisan*innen erstarkte, versuchten Teile der faschistischen Partei um Außenminister Gian Galeazzo Ciano und die Royalisten um König Viktor Emanuel III., die Allianz mit Deutschland aufzukündigen und ein Abkommen mit den Alliierten zu schließen. Am 25. Juli 1943 setzten sie den gesundheitlich angeschlagenen Mussolini ab und inhaftierten ihn. Daraufhin besetzten deutsche Truppen Mittel- und Norditalien, während die Alliierten im Süden des Landes vorrückten. Die Nazis befreiten Mussolini und machten ihn im September 1943 zum Präsidenten der „Italienischen Sozialrepublik“, einem komplett abhängigen Marionettenstaat, dessen „Regierung“ in Salò am Comer See residierte. Die Streitkräfte der „Sozialrepublik“, aus denen täglich Soldaten desertierten und zu den Partisan*innen überliefen, standen unter dem Oberbefehl der Wehrmacht.

Bis Anfang Februar 1944 hatte Cesco Magetti weitgehend verdrängt, was um ihn herum vorging, und befolgte gehorsam Befehle. Doch dann beauftragt ihn der Chefadjutant seiner Einheit, eine Karte des mexikanischen Eisenbahnnetzes zu beschaffen. Die Deutschen hätten sie angefordert, da sie von kriegswichtiger Bedeutung sei. Natürlich weiß Magetti ebensowenig wie sein Vorgesetzter, wo eine solche Karte zu finden ist. Ihm ist nicht einmal klar, wo Mexiko liegt, geschweige denn, ob es im Krieg „für uns oder gegen uns“ ist, also ob es auf Seiten der Achsenmächte oder der Alliierten steht.

Auf der Jagd nach einem Phantom

Im Katalog der örtlichen Stadtbibliothek ist ein einziges Buch gelistet, das irgendwie mit dem Thema zu tun hat, ein spanischsprachiges Werk mit dem blumigen Titel „Historia poética y pintoresca des los ferrocariles en México“. Doch die „poetische und malerische Geschichte der Eisenbahnen in Mexiko“ ist ausgeliehen. Das erfahren Magetti und die Leser*innen auf Seite 70 des Romans. In den folgenden zehn Tagen und über mehr als 600 Seiten versucht Magetti, das Buch aufzutreiben. Dabei wird er immer mehr zum Don Quijote, der einem Phantom hinterherjagt und gegen Windmühlen kämpft. Seine Dulcinea ist die Bibliothekarin Tilda, deren Herz er ziemlich linkisch zu erringen sucht, obwohl die Angebetete einen anderen liebt.

Wie bei Cervantes geht es auch bei Griffi um den offensichtlichen Widerspruch zwischen der Wirklichkeit und der eigenen Ideologie. So erleben wir eine groteske Komödie, in der Magetti, ein „guter Mensch mit Zahnschmerzen“, durch eine Wirklichkeit stolpert, die von Nazis, Widerstandskämpfern, Schiebern, Denunzianten, Entwurzelten und sich auf alle erdenkliche Weise prostituierenden Menschen bevölkert ist. Das ist äußerst humorvoll beschrieben, wobei zwischen surrealen und absurden Szenen stets auch die reale Barbarei von SS, Gestapo und Wehrmacht präsent ist. Das realisiert am Ende auch Magetti – und dann ist definitiv Schluss mit lustig.